Eberhardt über Schneider: Einführung in die Roman-Analyse

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Joachim Eberhardt

Mehr als eine interessante Stellungnahme?
Wie Jost Schneider
in die Roman-Analyse einführt

  • Jost Schneider: Einführung in die Roman-Analyse (Einführungen Germanistik) Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 152 S. 3 Tab. u. Reg. Kart. EUR (D) 14,90.
    ISBN 3-534-16267-6.


Dass die Wissenschaftliche Buchgesellschaft eine Reihe Einführung Germanistik ins Leben ruft, zeugt davon, dass man hier eine Marktlücke sieht. Zu Recht, denn gute Einführungen sind rar. Das ändert sich leider nicht mit dem Erscheinen von Jost Schneiders neuer Einführung in die Roman-Analyse, obwohl der Bochumer Germanist genau weiß, was gute Einführungen ausmacht. 1 Jedenfalls wirbt der Klappentext mit dem Versprechen "verständlicher Sprache", einem Vorgehen "Schritt für Schritt"; man werde "mit allen wichtigen Begriffen und Methoden vertraut" gemacht, die "stets anwendungsorientiert" vorgestellt würden; das alles geschehe "unter besonderer Berücksichtigung aktueller Untersuchungsverfahren".

Ich zitiere dies in aller Ausführlichkeit, weil daran der doppelte Anspruch des Buches deutlich wird: Inhaltlich auf der Höhe, sprachlich-methodisch für den Anfänger geeignet. Das erste trifft zu, das zweite nicht.

Klare Gliederung

Schneiders Buch ist klar und übersichtlich in vier Kapitel gegliedert:

Zunächst (I, S .7–11) liefert Schneider anhand eines historischen Überblicks eine Begriffs-Bestimmung des Romans und stellt verschiedene Formen vor.

(II, S. 12–16) Ein kurzer Forschungsüberblick nennt weiterführende Texte zum Thema Romanpoetik und charakterisiert die wichtigsten Studien zur Gattungstheorie des Romans. Außerdem stellt er zusammenfassend Ergebnisse der Fiktions-, der Leseforschung und der Kultursoziologie vor, auf deren Kenntnis nicht verzichten sollte, wer Romane analysiert.

(III, S. 17–69) Gut 50 Seiten widmet Schneider anschließend dem "Analytischen Instrumentarium" für die Roman-Analyse. Einzelne Abschnitte handeln von Figuren- und Inhaltsanalyse, Stilistik und Narrativik.

(IV, S. 70–142) Der folgende lesenswerte "historische Überblick" über die Entwicklung der (deutschen) Romanpoetik und des (deutschsprachigen) Romans von der Antike bis zur Gegenwart ist mit 70 Seiten am umfangreichsten geworden; kurze Textproben illustrieren jeweils die von Schneider hervorgehobenen typischen Züge etwa einer Epoche oder eines Romantyps. Die letzten Seiten des Abschnitts gelten "aktuellen Entwicklungen" bis hin zum "Internetroman"; darin spiegelt sich das zunehmende Interesse der Literaturwissenschaft an der allerneuesten Literatur.

Eine kurze unkommentierte Bibliographie sowie Sach- und Personenregister schließen die Einführung ab.

Leitgedanke: Historische und
soziokulturelle Besonderheiten der Gattung
müssen stets bedacht werden

Schneiders Leitgedanke wird bereits in der einleitenden Erläuterung der Begriffsbestimmung deutlich: Der Roman ist die literarische Gattung mit der breitesten Wirkung, und zu seiner Erforschung hat die Literaturwissenschaft die Hilfe anderer Disziplinen nötig. Im weiteren wird schnell deutlich, dass es sich in diesen anderen Disziplinen im wesentlichen um die Kultursoziologie – die hier zu Bourdieus Theorie der Kapitalsorten kondensiert – und die Leserforschung handelt. Denn die Germanistik hat, meint Schneider, ihr analytisches Interesse allzu lange auf die anspruchsvollen Romane konzentriert, die ihr gefielen:

Der Roman ist hingegen seit 200 Jahren die literarische Gattung mit der größten sozialen Reichweite und der größten Diversität des Anspruchniveaus. Die Ausklammerung der für gebildete Leser >peinlichen< Traditionsstränge führt deshalb zu einer eklatanten Schönung der deutschen Kulturgeschichte, an der einem wissenschaftlich denkenden Menschen nicht gelegen sein kann. (S. 48)

Man habe daher alle Romane "mit der gleichen Unvoreingenommenheit zu analysieren" (S. 49). Das fällt leichter, wenn man sich die eigenen >geschichtlich-sozialpsychologisch< bedingten Geschmacksdispositionen bewusst macht und auf Wertungen verzichtet.

Mit dieser Forderung hat Schneider Recht. 2 Aus ihrer konsequenten Berücksichtigung erwachsen denn auch die beiden Stärken seines Buches gegenüber anderen, vergleichbaren Einführungen. Die erste: Schneider genügt die Entfaltung des analytischen Instrumentariums nicht; er fordert zugleich die selbstkritische Reflexion des Analytikers: Wofür sind diese Instrumente geeignet, was zeigen sie, und was können sie nicht sichtbar machen? Die Pointe der Methodenkritik: Man möge bedenken, dass das analytische Instrumentarium dazu entwickelt wurde, die Eigenarten der Lieblingstexte von Professoren zu beschreiben. 3 Das hat eine einfache, aber unschöne Folge. Romane, die sich durch formale und inhaltliche Komplexität auszeichnen, geben viel für die klassische Analyse her und werden darum zu kanonischen Texten. Einfach gestrickte Texte mögen viel gelesen worden sein, langweilen aber den Analytiker. Und werden darum aus dem wissenschaftlichen Diskurs ausgeschlossen. Aber das liegt nur daran, könnte man Schneider auf den Punkt bringen, dass man die falschen Fragen an diese Texte stellt.

Die zweite Stärke von Schneiders Buch ergibt sich aus der ersten. Diese Einführung in die Analyse von Texten der Gattung Roman bleibt sich der Besonderheiten der Gattung und ihrer Entwicklung im deutschsprachigen Raum stets bewusst. Franz K. Stanzel hatte in seinem Klassiker Typische Formen des Romans 1955 bekanntermaßen typische Erzählsituationen vorgestellt, die – entgegen dem Titel der kurzen Schrift – auch geeignet sind, andere Erzählformen zu beschreiben. So machte Stanzel im Besonderen das Allgemeine sichtbar. Schneider tut in seinem Buch das Gegenteil: Er beharrt darauf, dass man das Besondere nicht vergessen dürfe, und widmet sich darum historischen und soziologischen Aspekten der Gattung, die gerade nicht für andere Erzählformen verallgemeinert werden können. Darum bietet er mehr als eine bloße Einführung in die "Erzähltextanalyse" 4 .

Kleinere Mängel und große Schwächen –
Warum das Buch keine Einführung ist

Das ist alles schön und gut. Kleinere Mängel und Wünsche ließen sich für eine weitere Auflage anmelden. So vermisse ich z.B. – Schneider achtet den Strukturalismus Genettes gar zu gering – etwas über die typischen Paratexte der Gattung. 5 Nötig wären auch Hinweise auf das Gewicht textkritischer / editorischer Fragen. Der "Forschungsüberblick" des zweiten Kapitels gehörte eigentlich ins vierte, zum Überblick über die Romanpoetik, wenn er denn sein muss; die Themen Kultursoziologie und Leserforschung wären besser aufgehoben in einem eigenen Kapitel und in detaillierterer Darstellung. Schön wäre ein kommentiertes Literaturverzeichnis.

Solche Anmerkungen zielen jedoch ins Leere, weil sie übersehen, dass Schneider offenbar gar keine Einführung schreiben wollte. Darüber können die gelegentlichen appellhaften Passagen nicht hinwegtäuschen, die sich an einen Anfänger zu wenden scheinen, so etwa, wenn Schneider räsoniert, nicht wenige Studienabbrecher möchten wohl daran scheitern, die sachliche Einstellung gegenüber allen Texten zu finden (S. 49). Darin zeigt sich natürlich auch die Erfahrung des Literaturlehrers. Noch mehr aber verrät sich dort der Zorn über die Kollegen, die nicht die richtige Analyse vermitteln. An sie scheint sich Schneider in erster Linie zu richten. Zwei Punkte nähren diesen Verdacht:

1. Zu den allerwichtigsten Themen einer Einführung in die Textanalyse gehört, wie man auf die richtigen Fragen an einen Text kommt und welche Analysemethoden zu ihrer Beantwortung geeignet sind. Darauf geht Schneider allenfalls implizit ein: indem er darauf aufmerksam macht, dass wenig dabei herauskommt, wenn man einen Trivialroman mit den Mitteln der Narrativik unter die Lupe nimmt. Im wesentlichen beschränkt er sich darauf, aufzuzählen, welche Methoden es überhaupt gibt. Beispielanalysen kommen selten vor; im wesentlichen dienen Schneider seine Beispiele zur begrifflichen Klärung, nicht zu einer Veranschaulichung einer Analysemethode. Das mag dem beschränkten Umfang der Einführung geschuldet sein, mindert aber ihren didaktischen Wert beträchtlich. So bleibt, was Schneider vorstellt, in vielen Fällen völlig abstrakt. 6

2. Und wie steht es um die im Klappentext versprochene "verständliche Sprache"? Auch in diesem Punkt schreibt Schneider an der Zielgruppe >Anfänger< vorbei. Man liest bei ihm davon, dass die modernen Romane die Bereitschaft des Lesers voraussetzten, "seine Perseveranzneigung zu minimieren" (S. 68). Romane würden von Anfang an nicht mündlich überliefert, "sondern als fixierte begrenzte Graphemsequenzen gespeichert". Und zum Konzept der Handlungsfunktionen von Figuren bei Greimas erläutert Schneider: "Danach kann eine Figur in einem konkreten Handlungsgeschehen als Subjekt oder Objekt, als Adressat oder Adressant sowie als Adjuvant oder Opponent fungieren." (S. 20) Was diese Begriffe überhaupt bedeuten, wird nicht erklärt. Und diese Beispiele lassen sich leider beliebig vermehren. So bleibt nur der Schluss, dass Schneider gar nicht für Anfänger schreibt, sondern für Leute, die sich auskennen und den Jargon beherrschen.

Schneider am Avantgarde-Pol?

Worum geht es ihm also wirklich? Vielleicht hilft hier die Beobachtung weiter, dass >skotomisieren / Skotomisierung< eines von Schneiders Lieblingswörtern ist (S. 26, 67, 72). Das Wort stammt aus der Psychologie; Sigmund Freud benutzt es z.B. in seinem kurzen Fetischismus-Aufsatz von 1927 und begreift es dort als Synonym zu "Verdrängung". Bei Schneider lesen wir: "[...] sowohl Stanzel als auch Genette skotomisieren den gesamten Bereich der Rezeptionsästhetik und der Textwirkungsforschung" (S. 67). Man könnte auch einfach feststellen, dass weder Stanzel noch Genette sich dafür interessieren. Aber Schneider möchte darauf hinaus, dass die beiden verdienten Forscher hier einen blinden Fleck haben und darum diese wichtigen Themen unbewusst vermeiden – eine gewagte These. Und für mein Empfinden eine Frechheit. Solche Spekulation über die Motive von Autoren ist eine Psychologisierung, die man Erstsemestern bei der Interpretation verbieten würde. Warum fährt Schneider ein so schweres Geschütz auf? Es dient hier der Abgrenzung.

Mit Schneiders Hausheiligen Bourdieu verstehen wir Schneiders Buch am besten als Stellungnahme, mit der der Bochumer Germanist seine Stellung als Literaturwissenschaftler am Avantgarde-Pol des akademischen Feldes zu festigen sucht. 7 Und wie steht es mit der Überfülle von Fach- und Fremdwörtern? "Festzustellen ist [bei der Analyse der Wortstilistik] zunächst, ob die Figuren oder der Erzähler nur geläufiges Vokabular verwenden oder ob sie auch seltene Wörter (Rara) gebrauchen, die auf einen erweiterten Wortschatz und damit auf einen höheren Bildungsstand schließen lassen" (S. 40). Da haben wir's: der elaborierte Code dient zur Demonstration der Fachkompetenz des Autors, die, versteht sich, eine wichtige Voraussetzung für die Positionierung am Avantgarde-Pol ist.

Mir scheint, dies sei abschließend festgestellt, die besondere Fachkompetenz beim Verfassen einer Einführung darin zu liegen, das Thema didaktisch reflektiert zu entwickeln und sich dabei so einfach wie treffend auszudrücken: damit der Gegenstand nicht schwieriger erscheint, als er ist. Wer das kann, trägt vielleicht mehr dazu bei, die Zahl der Studienabbrecher zu vermindern, als jemand, der Ermahnungen verteilt – und seien sie auch noch so berechtigt.


Dr. Joachim Eberhardt
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Anmerkungen

1 Schon 1996 hat Schneider eine Einführung in die moderne Literaturwissenschaft im Aisthesis-Verlag Bielefeld vorgelegt, die 2000 bereits in 3. Auflage erschien.   zurück

2 Damit befindet er sich im Forschungstrend, vgl. Hartmut Steineckes Darstellung der Forschungsgeschichte in seinem Artikel Roman in: Jan Dirk Müller u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin u.a.: de Gruyter 1998–2003. Bd. 3. Berlin u.a. 2003, S. 317–322, hier S. 321.   zurück

3 Ein schönes Beispiel ist die charmante Offenheit, mit der Genette erklärt, warum er seine narrativischen Studien auf Prousts Recherche... konzentriert: das sei der einzige Text gewesen, über den er "daheim" verfügt habe, siehe Gérard Genette: Die Erzählung. München: Fink 1994, S. 197.   zurück

4 So der Titel eines Klassikers des Einführungsgenres mit einigen Neuauflagen, der methodisch zwar nicht auf dem neuesten Stand, aber dafür didaktisch vorbildlich gestaltet ist. Mir liegt die 3. Auflage 1993 vor: Cordula Kahrmann, Gunther Reiß, Manfred Schluchter: Erzähltextanalyse. Eine Einführung. 3. Aufl. Bodenheim: Athenäum 1993. Vgl. auch beispielhaft zur mangelnden Berücksichtigung der Gattungseigenheiten in der Analyse in literaturwissenschaftlichen Einführungen: Hans-Albrecht Koch: Neuere deutsche Literaturwissenschaft: Eine praxisorientierte Einführung für Anfänger. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1997, S. 85: "Ihre [d. i. der Gattungen] unterscheidenden Merkmale werden hier jedoch zugunsten der Ausbreitung des textanalytischen Werkzeugs vernachlässigt".   zurück

5 Vgl. Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main u.a.: Campus 1989.   zurück

6 Ein Beispiel: Schneider schreibt zur indirekten Figurencharakterisierung, dass sich bei "Meisterromanciers wie Fontane oder Thomas Mann äußerst subtile, ja geradezu raffinierte Techniken der Figurencharakterisierung nachweisen [lassen], deren Bewusstmachung ein mehrfaches aufmerksames Durchstudieren des Textes erfordert. Obwohl damit für die Gesamtdeutung u.U. noch nicht sehr viel gewonnen ist, kann die vollständige Analyse aller Figurencharakterisierungstechniken in einem Roman deshalb bereits ein außerordentlich aufwändiges und anspruchsvolles Unterfangen sein." (S. 19) So what?   zurück

7 Zum Konzept der Stellungnahme vgl. die konzise Darstellung in: Pierre Bourdieu: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 62 ff.   zurück