Eckel über Stevens / Wagner: Rilke und die Moderne

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Winfried Eckel

Diffuse Modernität

  • Adrian Stevens / Fred Wagner (Hg.): Rilke und die Moderne. Londoner Symposion. München: Iudicium 2000. 301 S. Kart. € 40,-.
    ISBN 3-89129-619-3.


Schwierigkeiten mit dem Modernebegriff

Der Begriff der "Moderne" ist ein schillernder Begriff. Wer heute in Deutschland von der "Moderne" spricht, kann sehr Unterschiedliches meinen: Entweder er reserviert den Terminus für gewisse künstlerisch-literarische Neuerungsbestrebungen um 1900 und benutzt ihn, nach dem Modell von Epochenbegriffen wie "Renaissance" oder "Romantik", als einen Titel für einen bestimmten historischen Zeitabschnitt, dessen Anfang und Ende markiert werden kann. 1 Oder aber er verwendet den Begriff als eine Kategorie geschichtlicher Selbstreflexion zur Kennzeichnung der eigenen Gegenwart, also eines Zeitabschnitts, der im Unterschied zu historischen Epochen zur Zukunft hin offen ist und sich nur negativ von der Vergangenheit einer Vor-Moderne absetzt. 2

Sofern die Etymologie des Modernebegriffs (von lat. "modo": >eben, gerade, gleich, jetzt; nur<) den Bezug auf die eigene aktuelle Gegenwart nahelegt, hat jede Verwendung von "Moderne" zur Bezeichnung einer abgeschlossenen historischen Epoche (ein Sprachgebrauch, wie er sich etwa in Prägungen wie "Berliner Moderne" oder "Wiener Moderne" oder in einer undialektischen Opposition von "Moderne" und "Postmoderne" zeigt) zweifellos etwas Mißliches. 3 Benutzt man dagegen den Begriff zur Selbstbeschreibung der eigenen Gegenwart, entsteht das Problem, wo und wann man diese Gegenwart einsetzen lassen will. Beginnt auch unsere Moderne "um 1900"? Geht man besser zurück bis zur Romantik? Ist "Moderne" womöglich deckungsgleich mit "Neuzeit"? Oder muß man den Anfang der Moderne gar noch weiter zurückverlegen?

Eine Antwort auf diese Fragen wird stark differieren, je nachdem ob man sich auf Kunst und Literatur, Wissenschaft und Technik oder auf die Gesellschaft ganz allgemein bezieht. Und sie wird entscheidend vom eigenen Selbstverständnis abhängen. Als einer Selbstbeschreibungskategorie eignet dem Begriff der Moderne ein spezifisches Moment von "Subjektivität", das ihn von Epochenbegriffen wie "Barock" oder "Aufklärung" grundsätzlich unterscheidet. Daß von "der" Moderne keine Rede sein kann, ist eine Einsicht, die mittlerweile auch in der Rilke-Forschung angekommen ist. 4

Ein Sammelband ohne Konzept

Der hier anzuzeigende Tagungsband ist von jeder systematischen Reflexion der Moderne-Kategorie völlig unberührt. Er enthält, wie das Vorwort ausweist, "Beiträge zu dem Symposion Rilke und die Moderne, das im Dezember 1996 am Institute of Germanic Studies in London stattfand" (S.7). Aber welche Moderne hier gemeint sein soll, diese Frage wird nirgendwo ausdrücklich und eingehender zu beantworten gesucht. Davon, daß hier überhaupt ein Problem liegen könnte, zeugt weder das Vorwort, noch irgendeiner der 14 — im übrigen keineswegs uninteressanten — Artikel. Von mindestens der Hälfte der Aufsätze muß man sagen, daß sie, auch bei wohlwollender Lektüre, mit der im Titel angedeuteten Fragestellung kaum etwas zu tun hat. Die andere Hälfte dagegen läßt sich immerhin als Versuch verstehen, die vorausgesetzte "Modernität" Rilkes irgendwie genauer zu bestimmen. Auf die intensive Modernediskussion der letzten Jahrzehnte wird dabei allerdings an keiner Stelle Bezug genommen.

Was dem Sammelband grundlegend fehlt, ist die einleitende Exposition einer Fragestellung, auf die die folgenden Einzelstudien als Antwortversuche bezogen werden könnten. Auf jeglichen Problemaufriß durch die Herausgeber Adrian Stevens und Fred Wagner wird verzichtet. Das Vorwort enthält praktisch nicht mehr als eine höchst schülerhafte Inhaltsangabe der versammelten Aufsätze, die in manchen Fällen nicht einmal das zentrale Argument der jeweiligen Artikel richtig wiedergibt. Die Herausgeber ersparen sich jede Mühe, die Thesen der einzelnen Beiträge zueinander auch nur irgendwie in Beziehung zu setzen, geschweige denn vor dem Hintergrund einer Theorie der Moderne zu verorten, wie man es angesichts des anspruchsvollen Titels ja hätte erwarten dürfen. Gliedernde Zwischenüberschriften zwischen den 14 Beiträgen gibt es nicht. Das Gesamtunternehmen erscheint ohne ein tragendes Konzept.

Was die Veröffentlichung gleichwohl interessant macht, das sind die vielfältigen Einzelstudien. Fast alle, auch wenn sie die Moderneproblematik ausklammern, sind für sich genommen lesenswert. Sie werden deshalb im folgenden genauer vorgestellt.

Die Wiederkehr des Existenz-Dichters

Der einleitende Essay des österreichischen Schriftstellers Kurt Klinger, "Rilke und die Fremdheit der Welt", unternimmt den Versuch zu einer umfassenderen Würdigung von Rilkes Person und Schaffen. In Absetzung zu einer 1996 von Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Anthologie mit Einzelanalysen verschiedener Interpreten zu 33 Rilke-Gedichten, interessiert sich Klinger dabei weniger für den souveränen "Künstler" und "Sprach-Meister" als für die Tatsache, daß Rilke "ein Schicksal hatte und ertrug, das ihn zum Lyriker verurteilte" (S.11). Klinger will sich bei Rilke "in die Beweggründe seiner Existenz einfühlen" (S.20) und die "existentielle Notwendigkeit" (S.11) seiner Dichtung herausstellen. So altmodisch bis in die Terminologie hinein dieses Vorhaben ist, stellt es fraglos eine nicht unberechtigte Korrektur mancher jüngeren Ansätze der Forschung dar, die aus der Welt der Rilkeschen Texte tendenziell jede Spur ihres Verfassers zu tilgen versucht haben.

Rilke erscheint so vor allem als der Dichter der Angst und der inneren Zerrissenheit. Gedichte seien für ihn "Schutzschilde […], um die ich-lose, du-lose Fremdheit einer Welt zu bannen, in der das Überleben das Leben kostet" (S.21), sie entsprängen der "Notwendigkeit[,] sich schreibend der Fremdheit und dem Verfall, der Umklammerung und des Erstickens [sic!] an >anwachsendem Grauen< zu widersetzen" (S.20). Auch wenn dieser These eine Triftigkeit für gewisse Aspekte von Rilkes Werk nicht abgesprochen werden kann, muß doch bezweifelt werden, ob sie in dieser Allgemeinheit und Pauschalität gültig ist. Zumindest das Selbstverständnis eines Dichters, dem es letztlich nicht um Abwehr, sondern um Integration, nicht um Verneinung, sondern Bejahung ("Rühmung") ging, dürfte damit nicht getroffen sein. Klingers — einseitig am sogenannten >mittleren Werk< orientiertes — Rilke-Portrait setzt so zwar einige kräftige Akzente, entbehrt aber der nötigen Differenziertheit.

Im Raum des Intertexts

Läßt sich Klingers Aufsatz immerhin implizit als die Würdigung eines Dichters unter den Bedingungen der Moderne verstehen, so ist die Studie von Manfred Schneider weit entfernt davon, Rilkes spezifische Modernität herauszuarbeiten. Unter dem Titel "Intertextuelles Bestiarium. Rilkes Tiere" geht es Schneider vielmehr darum zu zeigen, wie Rilkes Darstellung der Tierwelt aus einem literarisch-mythischen Fundus schöpft, der über die Neuzeit und das Mittelalter bis in die Antike zurückreicht. Rilkes Tiere, vor allem der Hund, trügen "die Last einer jahrhundertealten ikonischen und emblematischen Tradition" (S.25), ihre Eigenschaften stammten wesentlich aus den Archiven der Literatur.

Das Fortwirken der Tradition wird dabei insbesondere in der achten der "Duineser Elegien" gezeigt, die der animalischen Kreatur eine noch unverstellte, erst im Menschen verlorengegangene Beziehung zum Offenen zuschreibt. Durch das physiognomische Denken Rudolf Kassners, dem die Elegie gewidmet ist, sei Rilke in seinen Zuschreibungen an die Tierwelt bestärkt worden.

Der Nachweis des topischen Charakters der Rilkeschen Tierdarstellung wird schließlich als polemisches Argument gegen Martin Heideggers an Rilke anknüpfende Konzeption des Offenen als der Unverborgenheit des Seienden gewandt. Heideggers These einer Seinsvergessenheit sei nur möglich auf der Basis einer Literaturvergessenheit. Was das Tier für den Dichter Rilke, sei Rilke für den Philosophen Heidegger gewesen. Die durchaus kritische Bezugnahme Heideggers auf Rilkes Begriff des Offenen, die sich gerade auch in dem Rilke-Vortrag "Wozu Dichter?" zeigt, wird dabei indes übersehen. 5

Wider die Leibfeindschaft

Der Aufsatz "Die Mythisierung des Eros" von Gerald Stieg präsentiert eine Auswahl von Rilke-Stellen, die deutlich machen, daß der Apologet der sog. "besitzlosen Liebe" (Mason) sich zeit seines Lebens um eine Aufwertung gerade auch der körperlich-sinnlichen Liebe bemüht hat. Gegen die christlich-religiöse Leibfeindschaft habe Rilke — wie vor allem durch Hinweis auf die "Sieben Gedichte" vom Spätherbst 1915 (SW II, S. 435 ff.) und den "Brief des jungen Arbeiters" vom Februar 1922 (SW VI, S. 1111 ff.) belegt wird — die menschliche Sexualität zu einer geradezu göttlichen Macht zu stilisieren gesucht. 6

Diese Beobachtung trifft zwar zu, ist aber keineswegs so neu, wie der Verfasser zu glauben scheint. Zudem erfaßt sie nur einen isolierten Aspekt von Rilkes sehr komplexem Liebeskonzept. Leider wird nicht untersucht, wie sich das Ideal körperlich-sinnlicher Liebe zu jenem scheinbar ganz anderen des liebenden Verzichts auf den Geliebten und der einsamen Liebeserfüllung verhält, für das Rilke selbst den Begriff einer "intransitiven" Liebe geprägt hat. Außer acht gelassen wird zudem, daß Tendenzen zur Mythisierung auch auf diesem anderen Feld zu beobachten sind. Die naheliegende Frage, was Mythisierung überhaupt mit dem Thema der Moderne zu tun hat, wird nicht gestellt.

Der Eingriff des Sehens

Einige originelle Beobachtungen enthalten die kurzen Anmerkungen von Paul Oppenheimer ("Rilke, Einstein, Freud and the Orpheus Mystery") zu Rilkes Gedicht "Orpheus. Eurydike. Hermes". Als zentrales Thema des Gedichts bestimmt Oppenheimer das selbstbewußte Sehen, das als solches seinen Gegenstand nicht unverändert lasse. Rilkes Bearbeitung unterscheide sich darin von älteren Versionen des Mythos. Zugleich rücke Rilke in die Nähe von Theoretikern wie Einstein, Heisenberg oder Freud, die ihrerseits den Beobachter als Teilnehmer konzipiert haben, der durch seine Beobachtung in bestehende Systeme eingreift und sie verändert.

Gender-Problematik im "Malte"

Auf andere Weise als Stieg demonstriert auch Friedbert Aspetsberger die große Bedeutung von Vorstellungen des Sexuellen in Rilkes Werk. Seine Studie "Body-building. Malte lernt sehen und (nicht) gesehen werden. Ein Hinweis zur Geschlechterfrage in Rilkes Roman" fokussiert dabei vor allem auf die impliziten und expliziten Gender-Konzepte in Rilkes Prosabuch.

Im Anschluß an Überlegungen von Kathy Acker ("Seeing Gender") wird das Maltesche Programm des Sehen- und Schreibenlernens der Ausbildung einer männlichen Geschlechtsrolle zugeordnet, die Idee des Gesehen- und Bezeichnetwerdens sowie des sich beiden Akten Entziehens dagegen einer weiblichen Geschlechtsrolle. Beide Zuordnungen werden sodann mit der "doppelgeschlechtlichen Ausbildung" (S.75) des Protagonisten in Verbindung gebracht. Die "Aufzeichnungen" selbst seien der Versuch, schreibend das eigene soziale Herkommen zu überwinden und einen eigenen "Geschlechts-Körper" (S.88), ein neues "transsexuelles Ich" (S.88) zu finden.

Die bisweilen kühnen Ausdeutungen mancher Textpartien sind in ihrer Plausibilität natürlich abhängig von der des vorausgesetzten Theorierahmens, der leider nicht eigens expliziert wird; Aspetsberger beschränkt sich darauf, seine Thesen durch Hinweise auf parallele Befunde bei Hofmannsthal, Bronnen, Musil u.a. Autoren abzusichern.

Abschied von der Zentralperspektive

Erst nach ungefähr einem Drittel des Sammelbandes stößt man auf eine Studie, die die Leitfrage nach Rilkes Modernität ausdrücklich aufgreift. Ray Ockenden ("Rilkes >Neue Gedichte<: Perspektive und Finalität") beobachtet in den Gedichten der Pariser Jahre eine Auflösung der Einheit verbürgenden Zentralperspektive, wie sie sich etwa auch bei Nietzsche oder Cézanne ankündige. Eine Errungenschaft der "modernen Welt" seit der Renaissance werde damit im Übergang zur "Moderne" in Frage gestellt (S.89).

Dieser Entgrenzung und Dezentrierung stehe in den "Neuen Gedichten" jedoch andererseits die Tendenz gegenüber, die Texte durch Überschriften oder markante Schlüsse klar zu finalisieren. Erst im Spätwerk habe Rilke solche Begrenzungsstrategien zurückgenommen und im Zeichen der Musik die Idee eines "nie endenden Gedichts" (S. 108) entworfen.

Subjektivierung des Raums

Die Beobachtungen Ockendens finden eine Bestätigung in der Studie von Jeremy Adler ("Vom Raum zum Weltinnenraum: Rilkes Deutungsgedichte"). Im Anschluß an Bestrebungen der älteren Forschung bemüht sich Adler, den Begriff des "Weltinnenraums" als eine zentrale Kategorie zum Verständnis vor allem des Rilkeschen Spätwerks zu erweisen, und widerspricht damit ausdrücklich neueren Stimmen, die dem Terminus eine mehr nur lokale Bedeutung zusprechen wollen. Im Begriff des "Weltinnenraums" artikuliere sich ein Raum-Konzept, das von der Newtonschen Idee eines "absoluten Raums" Abschied nehme, indem es den Raum subjektiviere und die Grenze zwischen Ich und Welt in Frage stelle. Die Modernität des Konzepts zeige sich auch darin, daß kurz nach 1900 auf dem Feld der Malerei, der Philosophie oder der Physik Parallelentwicklungen zu verzeichnen seien, durch die die Existenz eines absoluten Raums gleichfalls in Zweifel gezogen werde.

Rilkes Weltinnenraum-Konzept reagiere auf eine moderne Entfremdungserfahrung, die es nicht nur zum Ausdruck bringe, sondern zugleich zu überwinden suche. Das wird vor allem durch eine subtile Analyse des Gedichts "Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen" (SW II, S. 92 f.) aufzuweisen versucht, dem durch eine originelle Kontextualisierung (Tönnies, Troeltsch, Simmel u.a.) neue Bedeutungen abgewonnen werden können. Flankiert werden diese Darlegungen von einem Blick auf Vorstufen des Weltinnenraum-Konzepts in den "Neuen Gedichten" sowie auf das Fortwirken des Gedankens im Spätwerk. Ob der von Adler vorgeschlagene Begriff des "Deutungsgedichts" sich durchsetzen kann, wird man abwarten müssen.

Rilke à la Merleau-Ponty

Eine interessante, wenngleich sehr forcierte Deutung von Rilkes Cézanne-Erlebnis schlägt Anthony Phelan vor (">Gesicht aus Aussehen [sic!]<: Rilke, Cézanne, Merleau-Ponty"). Sie setzt sich von der verbreiteten Forschungsansicht ab, derzufolge die Begegnung mit den Gemälden Cézannes im Herbst 1907 eher nur die aktuellen Bestrebungen Rilkes um "Sachlichkeit" bestätigt als eine eigentliche Wende in seiner Produktion eingeleitet habe.

Methodisch nicht unproblematisch scheint dabei, daß eine weiterreichende Bedeutung Cézannes auch für den Rilke der "Duineser Elegien" vor allem durch eine Assimilation der Cézanne-Deutung Rilkes an die Cézanne-Deutung Merleau-Pontys plausibel zu machen versucht wird. Wo Rilke aufhört und Merleau-Ponty anfängt, wird dabei nicht klar.

Rilke zwischen Moderne und Postmoderne?

Wo Rilkes Verhältnis zur Moderne in Rede steht, liegt natürlich die Frage nahe, ob man Rilke nicht auch in die Nähe der Postmoderne rücken kann. Schließlich hat die amerikanische Dekonstruktion den Dichter ja schon vor Jahren entdeckt. Am Beispiel (einmal mehr) des mittleren Rilke versucht Martin Swales dieser Frage nachzugehen ("Zwischen Moderne und Postmoderne? Überlegungen zu Rilkes (sogenannten) Dinggedichten").

>Modern< seien die "Neuen Gedichte", insofern in ihnen eine "Rhetorik der Substanz" am Werk sei, die gegenüber der "Insubstantialität" menschlichen Seins den Dingen eine gesteigerte "Substantialität" und "Authentizität" zuspreche (S. 161). >Postmodern< seien diese Gedichte, weil dieses "positive Kontrastbild zu unserer Uneigentlichkeit", das sie in den Dingen entwerfen, nur eine Fiktion, eine Setzung des Textes sei (ebd.): "Die Moderne […] war sehr in Substanz verliebt […]. Die Postmoderne weiß nur von Fiktivem, Ästhetischem, Textlichem" (S. 162).

Leider werden diese Thesen nur sehr holzschnittartig vorgetragen. Den Nachweis, daß die "Neuen Gedichte" selbst ein Bewußtsein ihrer Rhetorik entwickeln, bleibt Swales schuldig. Sie für die Postmoderne vereinnahmen zu wollen scheint mir deshalb problematisch. Daß ein Interpret nachträglich auf die Rhetorizität dieser Gedichte aufmerksam wird, kann m.E. noch keine ausreichende Legitimation dafür sein (könnte doch sonst jeder Text, der sich seine eigene Welt schafft, bereits als postmodern gelten). Zweifellos wären Spuren eines postmodernen Bewußtseins im Spätwerk Rilkes, vor allem in den "Sonetten an Orpheus", leichter aufzufinden gewesen.

Dichtung in der Tradition des Erhabenen

Der Beitrag von Katrin Kohl (">Ruf-Stufen hinan<: Rilkes Auseinandersetzung mit dem Erhabenen im Kontext der deutschen Moderne") eröffnet eine lose Reihe von Einfluß- und Beziehungsstudien. Klopstock erscheint als der Geburtshelfer einer neuen lyrischen Sprache in Rilkes Krisenjahren nach 1910. In der Auseinandersetzung insbesondere mit Klopstocks "Messias" habe sich Rilke eine eigene Sprache in der Tradition rhetorisch-erhabener Dichtung geschaffen, durch die die "Duineser Elegien" erst möglich geworden seien.

Indem sie der technisch-rationalen Lebenswelt der Moderne eine rein dichterische Welt entgegensetze, sei diese Sprache primär nicht mimetisch orientiert. Sie biete eine Alternative sowohl zum Schweigen des Lord Chandos als auch zu den Sprachexperimenten der Avantgarden, die sich letztlich in ein mimetisches Dichtungsverständnis durchaus einfügten.

Kohl knüpft an die ältere Arbeit Wodtkes zu "Rilke und Klopstock" an, als deren Ergänzung sie ihren Artikel versteht. Sie macht dabei deutlich, daß Rilkes Anknüpfung an die erhabene Dichtungstradition im Rahmen der Moderne kein vereinzeltes Phänomen darstellt, sondern als eine "durchaus zeittypische Entwicklung" anzusehen ist (S. 177). Auch bei Nietzsche, Dehmel, Mombert, Trakl u.a. seien Rückgriffe auf diese Tradition zu beobachten.

Rilke und Schuler

Unter dem Titel "Ältere Schrecken: Zu den Beziehungen zwischen Rilke und Alfred Schuler" geht Hans Holzkamp einem seltener untersuchten Kontext insbesondere des späteren Rilke nach. Nach einem einleitenden Blick auf die biographischen Umstände der Begegnung Rilke — Schuler vergleicht Holzkamp vor allem die Konzeptionen des "Offenen", die sich bei beiden Autoren an zentraler Stelle finden.

Zwar seien die Anschauungen nicht deckungsgleich, andererseits aber gebe es eine Reihe von Gemeinsamkeiten, wie vor allem die Idee, daß zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten keine feste Grenze gezogen werden könne. Dabei sei immer wieder festzustellen, daß Vorstellungen, die Rilke bei Schuler faszinierten, schon zuvor in Rilkes Werk ausgebildet gewesen seien, weshalb gefolgert werden müsse, "daß die Anregungen, die Rilke von Schuler aufnahm, eher als Bestätigung bereits bestehender Anschauungen und Einstellungen denn als Vermittlung gänzlich neuer Ansätze wirkten" (S. 200). Die Entwürfe Rilkes wie Schulers erscheinen so als gleichermaßen typisch für das Denken der Jahrhundertwende.

Die exzellente Studie wirft Licht auf eine der dunklen Seiten der Moderne, auf einen der Moderne womöglich immer schon innewohnenden Antimodernismus. Sie tut dies, ohne freilich zu einer systematischen Reflexion über den Moderne-Begriff selbst anzusetzen. Die Ergebnisse der älteren Forschung werden resümiert und kenntnisreich vertieft. Der Blick auf Rilke und Schuler wird durch Seitenblicke auf Bachofen, Ludwig Klages und Walter Benjamin ergänzt.

Freundliche Engel

Eher enttäuschend fällt die kleine Untersuchung von Robert Vilain zur späten französischen Lyrik Rilkes aus (">Une voix presque mienne<: Rilkes Gedichte auf französisch"). Der Versuch einer Gesamtcharakteristik dieser späten Werkstufe verbindet sich mit dem spezielleren Interesse an dem Motiv des Engels, das hier in einer vor allem gegenüber den ersten beiden "Duineser Elegien" durchaus veränderten Gestaltung begegnet.

Unzureichend reflektiert wird dabei, daß der Engel in der französischen Spätlyrik, anders als in den "Elegien", freilich nur ein, wenn auch wichtiges, Motiv unter anderen darstellt. Übersehen wird im übrigen, daß die freundlichere Ausformung des Engelsmotivs, die Vilain als Charakteristikum der französischen Lyrik herausstellt, auch schon in Teilen der späten deutschen Produktion anzutreffen ist, ansatzweise sogar bereits in den "Elegien" selbst.

Die behandelten Gedichte werden insgesamt nur recht oberflächlich analysiert, prinzipiell Neues wird kaum zutage gefördert. Insbesondere der Vergleich der Gedichte "Füllhorn" und "Corne d'abondance" fällt mager aus. Eine stilkritische Untersuchung, die die ganz eigene Sprachgebung der französischen Spätlyrik hätte herausstellen können, unterbleibt.

Rilke und Baudelaire

Die eindringliche Studie von Adrian Stevens (">La sensation du neuf<: Rilke, Baudelaire und die Kunstauffassung der Moderne") rückt die — gegenüber dem Einfluß Rodins und Cézannes — oft nicht recht gewürdigte Bedeutung des Baudelaireschen Erbes für Rilkes Kunst und Kunstauffassung ins angemessene Licht.

Demnach ist der Verfasser der "Fleurs du Mal" für Rilke vor allem in zwei Hinsichten wegweisend geworden: zum einen als Apologet einer Kunst der Erinnerung und der Imagination, zum anderen als Anwalt auch des Häßlichen und gemeinhin aus der Kunst Ausgeschlossenen. Indem Rilke in beiden Hinsichten Baudelaire folge, reihe er sich ein in eine künstlerische Moderne, die sich einerseits von der Tradition der Mimesis der Natur, andererseits von einer Kunst absetze, die sich am Schönen als dem Gegensatz des Häßlichen, Schrecklichen, Zerrissenen nur selektiv orientiere. U.a. an "Die Flamingos" aus den "Neuen Gedichten" wird so gezeigt, wie Rilke ein anschaulich Gegebenes nicht einfach >nach der Natur< reproduziert, sondern mit Hilfe von Erinnerung und Imagination in ein vom Leben unterschiedenes Kunstding verwandelt, das gemäß der Forderung Baudelaires eine "sensation du neuf" hervorzurufen vermag. Am Beispiel von "Archaïscher Torso Apollos" wird die Transformation des Fragmentarischen ins Ganze und des Häßlichen ins Schöne demonstriert.

Die Stärke der Studie liegt zweifellos in dem eindrucksvollen Nachweis, wie genau bestimmte ästhetische Verfahrensweisen Rilkes von Baudelaire her verstanden werden können. Das geschieht freilich, wie sich kritisch anmerken läßt, um den Preis, daß Unterschiede zwischen beiden Autoren weitestgehend ausgeblendet werden. Zudem ließe sich fragen, ob die mit Baudelaire unternommene scharfe Kontrastierung von mimetisch-realistischer Kunst einerseits, poetisch-imaginativer Kunst andererseits nicht den Bruch zwischen Tradition und Moderne überbetont. Sofern die platonistische Tradition die Nachahmung der Natur immer auch als Idealisierung verstand, wird die Unterscheidung von traditioneller Nachahmungs- und moderner Verwandlungspoetik problematisch.

Rilke und Barrett-Browning

Den Abschluß des Bandes bildet die aufschlußreiche Untersuchung von Jo[anna] Catling zu Rilkes Übersetzungen weiblicher Liebeslyrik am Beispiel von Barrett-Brownings "Sonnets from the Portuguese" ("Translating Desire: Elizabeth Barrett-Browning and Rilke's Women in Love"). Der Aufsatz zielt auf den Nachweis, daß Rilkes Übertragung weniger von Zurückhaltung gegenüber dem Original als vom Versuch der Aneignung und Transformation eines in mehrfacher Hinsicht Fremden bestimmt sei: "Rilke ultimately projects onto the original his own personal wish-interpretation of what he perceives to be a feminine discourse of desire" (S. 299).

Rilke selbst habe die "Sonnets" als einen der "großen Vogelrufe des Herzens in der Landschaft der Liebe" 7 (Widmung an Merline) bezeichnet und Barrett-Browning damit in die Nähe der sogenannten "großen Liebenden" gerückt, auch wenn die wechselseitige Liebe der "Sonnets" sich von dem in diesen verkörperten Ideal der unerwiderten, "intransitiven" Liebe unterscheide. Die in den Übertragungen zu beobachtende Tendenz zu einer gewissen "Entsubjektivierung" des Gefühlsausdrucks gegenüber dem Original, wird mit Rilkes Vorstellung von der Liebe als einer letztlich anonymen, "elementarischen" Macht in Zusammenhang gebracht.

Die Ausführungen unterstreichen den Anspruch Rilkes, wonach die "Sonette nach dem Portugiesischen" einen nicht unwichtigen Platz unter seinen eigenen Arbeiten einnehmen. Eine partielle Rekonstruktion der Rilkeschen Liebeslehre, biographische Hinweise zu Rilkes Entdeckung der viktorianischen Dichterin und zur Entstehung der Übertragungen, Reflexionen auf das mit der Übersetzung verbundene Gender-Problem sowie genaue Vergleiche von ausgewählten Übersetzungen und Originaltexten gehen eine intensive Verbindung ein.

Resümee

Durch eine Reihe interessanter und anregender Einzelstudien vermag der Band, einige neue Schlaglichter auf Rilke zu werfen. Seinem im Titel signalisierten Anspruch, Rilkes Verhältnis zur Moderne zu bestimmen, wird er jedoch nicht gerecht. Allenfalls mag man zugestehen, daß er Ansätze und Materialien zu einer solchen Bestimmung enthält. Zwei Kritikpunkte lassen sich hervorheben:

  • Eine angemessenere Behandlung des Themas hätte zum einen, wie schon angedeutet, einen systematischen Problemaufriß durch die Herausgeber und eine durchgängige Reflexion der Modernekategorie und ihrer Problematik durch alle Beiträger erfordert.

  • Zum andern, das ist hier hinzuzufügen, wäre auch ein differenzierterer Blick auf Rilke selbst angezeigt gewesen. Die überwiegende Zahl der Beiträge konzentriert sich allein auf den mittleren Rilke. Das Frühwerk wird gar nicht, das Spätwerk nur unter sehr eingeschränkten Perspektiven in den Blick genommen. Da auf den verschiedenen Werkstufen mit einem durchaus unterschiedlichen Verhältnis Rilkes zur Moderne gerechnet werden muß, wäre diesbezüglich durch die Herausgeber auf eine größere Ausgewogenheit zu achten gewesen.

Man wird die konzeptionelle Schwäche des Bandes um so mehr bedauern müssen, als in den auf die Moderneproblematik bezogenen Einzelstudien einige konvergierende Beobachtungen zu verzeichnen sind, die vor dem Hintergrund einer präzisen Fragestellung an Profil hätten gewinnen und zu weitergehenden Überlegungen hätten Anlaß geben können. Diese Gelegenheit ist leider verpaßt worden. Man wird auf eine Untersuchung, die das Thema "Rilke und die Moderne" mit der nötigen Differenziertheit sowohl im Blick auf Rilke als auch auf den Modernebegriff behandelt, weiter warten müssen.


Dr. Winfried Eckel
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Philologie
Germanistisches Institut
GB 3 / 58
D-44780 Bochum

Ins Netz gestellt am 19.02.2002
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Anmerkungen

1 Vgl. etwa die beiden im Reclam-Verlag erschienenen Textsammlungen: Jürgen Schutte / Peter Sprengel (Hg.): Die Berliner Moderne 1885 bis 1914. Stuttgart 1987; Gotthart Wunberg (Hg.): Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981.   zurück

2 Vgl. Jürgen Habermas: Die Moderne — ein unvollendetes Projekt. In: J. H.: Kleine politische Schriften I—IV. Frankfurt / M. 1981, S. 444—464; Silvio Vietta: Die literarische Moderne. Stuttgart 1992; Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995.   zurück

3 Dies zeigen die begriffsgeschichtlichen Untersuchungen von Jauß und Gumbrecht: Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: H. R. J.: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt / M. 1970, S. 11—6; Hans Ulrich Gumbrecht: Modern, Modernität, Moderne. In: O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 4. Stuttgart 1978, S. 93—131.   zurück

4 Vgl. etwa die problembewußte Studie: Ulrich Fülleborn: Rilke 1906 bis 1910: Ein Durchbruch zur Moderne. In: Rilke heute. Der Ort des Dichters in der Moderne. Frankfurt / M. 1997, S. 160—180.   zurück

5 Vgl. Martin Heidegger: Wozu Dichter? In: M.H.: Holzwege. Frankfurt / M. 1950, S. 248—295: "Versuchte man das von Rilke gemeinte Offene im Sinne der Unverborgenheit und des Unverborgenen zu deuten, dann wäre zu sagen: Was Rilke als das Offene erfährt, ist gerade das Geschlossene, Ungelichtete" (S. 262).   zurück

6 Nachweise folgen der Ausgabe: Rainer Maria Rilke, Sämtliche Werke. Besorgt durch Ernst Zinn. Frankfurt / M. 1955ff. (Sigle: SW).   zurück

7 Ingeborg Schnack: Rainer Maria Rilke. Chronik seines Lebens und seines Werkes. Frankfurt / M. 1990. Bd. 2, S. 718.   zurück