Ertler über Choe: Ideologie

Klaus-Dieter Ertler

Hyondok Choe: Ideologie. Eine Geschichte der Entstehung des gesellschaftskritischen Begriffs. (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen 37) Frankfurt/M.: Peter Lang 1997. 297 S. Kart. DM 89,-.

Der Ideologiebegriff hat seit seiner Einführung in die europäische Geistesgeschichte gegen Ende des 18. Jahrhunderts eine Reihe von vielfältigen Ausprägungen erfahren, die im fraktal angelegten Denkzusammenhang der heutigen Zeit große Unsicherheiten in ihrer Anwendung verursachen. Wenn manche Zeitgenossen in der neoliberalistischen Strömung das Ende der Ideologien zu erkennen vermeinen, sehen andere gerade in der "conditio post modernam" ein höchst ideologisches Gesellschaftssystem, das sämtliche gewachsene Strukturen einebnet und sie einem unzulässigen Tauschwertverhältnis anheimstellt. Auf beiden Seiten scheint man im allgemeinen zu erkennen oder zu fühlen, was mit Ideologie gemeint ist. Stellt man aber die Frage nach einer präzisen Definition, wird die Vielfalt der Auslegungsmöglichkeiten deutlich.

Das reiche Panorama der Begriffsverwendung, das von einem äußerst restriktiven Gebrauch als Bezichtigungsbegriff für das "andere" - "falsche" - Denken ausgeht und bis zu einer weiten Auslegung reicht, welche mit der Ideologie alle menschlichen Denk- und Verhaltensformen verknüpft, gestaltet die Definition nicht einfacher. Ideologie bleibt nach wie vor ein unscharfes Konzept, das je nach Fokalisierung des Beobachters die tendenziell eine oder andere Bedeutung annimmt und in seiner multiplen Semantik immer eines begleitenden Kommentars bedarf. Es handelt sich dabei nicht von ungefähr um das "most elusive concept in the whole of social science". 1

Doch wo nahm die Polysemie des Begriffes ihren Ausgang? Läßt sich in dessen frühen Verwendungen ebenso eine solche Bandbreite erkennen? Welche Einflüsse waren richtungweisend für dessen partikulare Bedeutungsstrukturen? Auf diese Fragestellungen möchte Choe in seiner Studie zur Entstehung der gesellschaftskritischen Variante von "Ideologie" eine klare Antwort liefern. In der klassischen Kette der terminologischen Genese, die im allgemeinen von F. Bacon und Baron d'Holbach über Destutt de Tracy zu Napoleon Bonaparte und K. Marx, von G. Lukács und A. Gramsci über L. Althusser und M. Pêcheux zu T. Eagleton, P. V. Zima und N. Luhmann führt und die je nach der zeitgenössischen Diskurskonstellation an unterschiedlichen Stellen semantische Innovationen aufweist, beschränkt sich Choe auf die erste Phase der begrifflichen Entwicklung. Ihn interessiert in der vorliegenden Arbeit nur die anfängliche Ausdifferenzierung, um anhand der genaueren Auseinandersetzung mit den prototypischen Formen des Ideologiebegriffes Besonderheiten in dessen semantischer Emergenz auszumachen und eine systematische Übersicht über den schon in frühen Stadien ansetzenden diffusen Begriffsgebrauch zu entwerfen. Choe rekonstruiert auf der Grundlage der Wortgeschichte eine Voraussetzung dafür, über die Bedingungen der Möglichkeiten der Ideologietheorie als einer wissenschaftlichen Analyse nachzudenken und ein Potential für ein wissenschaftlich operationalisierbares kritisches Konzept zu entwickeln. Insofern erwartet er sich von seiner Arbeit eine Klärung der undifferenzierten Begriffsverwendung und möchte damit der noch weit verbreiteten "Ideologisiertheit" des Begriffes epistemologisch entgegenwirken.

Choe geht bei seinen Betrachtungen weniger von der Problemgeschichte "Ideologie" als von dessen Wortgeschichte aus und möchte sich damit nicht dem Vorwurf der Überinterpretation, d.h. einer Anreicherung des Konzeptes mit anachronistischen bzw. verzerrenden Wertungen, aussetzen. Er will also darauf verzichten, den Gegenstand von einer ideologietheoretischen Systematik oder von einem festgelegten Ideologiebegriff her zu betrachten. Seine Analyse ist von vornherein historisch-semantisch ausgerichtet, wovon er sich ein größtmögliches Maß an Objektivität verspricht. (Kap. I).

Ausgegangen wird in dieser Geschichte der Entstehung des gesellschaftskritischen Begriffes von der Idolenlehre Bacons oder der Vorurteilskritik Helvétius' und D'Holbachs, deren Wortverwendungen in einem einleitenden Kapitel (Kap. II) metatheoretisch zur Betrachtung gelangen. Auch Destutt de Tracys (Kap. III) und Napoleons (Kap. IV) terminologischen Konstruktionen kommt eine - wenngleich nicht tiefgehende - Aufmerksamkeit zu. Die Priorität der Untersuchung bezieht sich allerdings auf das Werk Karl Marx', dessen Begrifflichkeit aufs genaueste unter die Lupe genommen wird, weil der Vf. meint, gerade in diesen Schriften die Vorformen der heutigen Varianten erkennen zu können. Im zentralen Kapitel (Kap. V) geht es daher um die vorrangige Rolle des Marxschen Werkes bei der Herausbildung des Begriffes "Ideologie" in seiner gesellschaftskritischen Version. 2

Choe nimmt in seiner Einführung eine rudimentäre Klassifikation vor und streicht fünf semantische Wortklassen heraus, die mit den gängigen Taxonomien der schichtenspezifischen Theorien im Sinne von Terry Eagleton 3 oder David Hawks 4 konform gehen und sich weniger mit systemischen oder neokonstruktivistischen Beobachtungen befassen. Er spricht deshalb von fünf richtungweisenden Rahmungen, die im 19. Jahrhundert das einschlägige Theoriedesign charakterisierten: Ideologie0 (die "Idee"), Ideologie1 (der umgangssprachliche, von Napoleon geprägte Ideologiebegriff), Ideologie2 (der historisch-materialistisch kritisierte "Idealismus"), Ideologie3 (die "ideelle Form der Verschleierung des Interesses der herrschenden Klasse"), Ideologie3v (die "ideelle Form des Klasseninteresses", eine Variation von Ideologie3). (S. 23).

Mit dieser Optik durchforstet Choe die Marxschen Schriften und begibt sich auf die Suche nach den einzelnen Schattierungen und Verwendungsformen von "Ideologie", um tendenzielle Konstanzen und Brüche herauszuarbeiten und sie mit der allgemeinen Begriffsentwicklung in einen fruchtbaren Zusammenhang zu bringen. Dabei entstehen chronologische Blöcke, die je verschiedenartige Interpretationen des Begriffes erkennen lassen und zwischen der rationalistischen französischen Perspektive und der idealistischen germanischen Sicht vermitteln. 5 Daraus ergibt sich auch die Interpretationsvielfalt, die Choe mit seiner Wortfrequenz- und Wortbedeutungsstudie überwinden möchte. Die chronologische Sicht erweist sich in diesem Zusammenhang als besonders förderlich.

In der vierteiligen chronologischen Gliederung dieses fünften Hauptkapitels erkennt der aufmerksame Leser bereits die Gemengelage, die sich durch den epistemologischen Bruch im Marxschen Werk abzeichnet und die sich auf die einzelnen Begriffsverwendungen auswirkt. In einem ersten Abschnitt beschäftigt sich Choe mit den frühen Schriften von Marx und mit dessen prototypischen Verwendungsweisen des Wortes "Ideologie" bis zum Jahre 1845. Der zweite Abschnitt befaßt sich mit dem Hauptwerk der Ideologieinterpretation Die deutsche Ideologie (1845/46). Darauf folgt die Übergangszeit von 1846-1852, bevor sich der Vf. schließlich den Manuskripten zur politischen Ökonomie und weiteren Schriften (1852-1883) widmet.

So erhält die Begriffsstudie eine historische Tiefenschärfe, aus der die jeweiligen Verwendungen abgeleitet werden. Am Anfang, d.h. in den frühen 1840er Jahren, steht - semantisch gesehen - eine einheitliche Bedeutung des Wortes im Vordergrund, die sich auf den allgemein verbreiteten, von Napoleon geprägten Ausdruck "Ideologie" bezieht und die als pejorativer Bezichtigungsbegriff in die Umgangssprache eingegangen ist. Doch wird das Wort nicht mehr ausschließlich von den Vertretern der anti-aufklärerischen oder restaurativen Herrschaft gegen die fortschrittlichen "Intellektuellen" gebraucht, sondern wird als allgemein verwendbarer Ausdruck in das sprachliche Gesamtregister der Gesellschaft aufgenommen. Choe zählt in den politisch-journalistischen Frühschriften von Marx (und Engels) vier Wortverwendungen, die eine solche semantische Entwicklung bestätigen.

Gerade die allgemein gehaltene Verwendung des Begriffes erklärt so die erste Tuchfühlung mit dem napoleonischen Konzept, das den fortschrittlich denkenden Intellektuellen (à la Destutt de Tracy) despektierlich gegenübergestanden war, doch als solches im engeren Sinn von Marx nicht rezipiert wurde. Nur so war es möglich, daß sich Marx in der Frühphase nicht für die "Idéologie" als Wissenschaftsdisziplin interessierte und bloß die umgangssprachliche Verwendung im Auge hatte. Choe interpretiert das Desinteresse des jungen Marx an der neuen Wissenschaftsdisziplin im Anschluß an seinen Lehrer Hans Jörg Sandkühler als höchst idealismusfremd. Marx habe das Bewußtseinsverständnis Destutt de Tracys hintangestellt und sei auf das "Bewußtsein einer geschichtlichen Formation und Epoche" 6 übergegangen.

Der Deutschen Ideologie widmet Choe einen bedeutenden Abschnitt seiner Studie, obwohl er sich dessen bewußt ist, daß das Werk als ambivalent gilt und nur in kaum merklichen Ansätzen auf die künftige epistemologische Wende hinweist. Deutlich tritt Marx' Hauptintention im Untertitel zum Ausdruck: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten. So inflationär der Terminus "Ideologie" im Werk auftaucht, so heterogen werden die Bedeutungen des Begriffes. Dem Vf. zufolge handelt es sich dabei um eine außerordentlich polemische Schrift, deren rhetorischer Apparat gerade deshalb so oft auf das Konzept zurückgreift. Choe zählt in der Deutschen Ideologie 108mal das Wort, was etwa 40 % aller Nennungen in sämtlichen publizierten Schriften von Marx und Engels ausmacht. Die heterogene Flut des Konzeptes "Ideologie" läßt sich laut Choe darauf zurückführen, daß Marx' wissenschaftliche Aktivitäten erst nach dem epistemologischen Bruch eintreten und deshalb der Gebrauch des Wortes bei ihm später zurückgeht. 7 In der Deutschen Ideologie bezeichnet "Ideologie" den Junghegelianismus und den "wahren Sozialismus", von denen Marx (und Engels) sich grob zu distanzieren suchten. In diese wenig ideologietheoretisch angelegte Schrift pflanzt Choe sein oben erwähntes Kategorisierungssystem ein und nimmt anhand dessen einen Sondierungsversuch vor. In fast der Hälfte aller Wortverwendungen (53) meint er, die zeitgenössische umgangssprachliche Bedeutungsvariante - Ideologie1 - heraushören zu können. (S. 83).

Eine theoretische Präzision erfuhr der Begriff dann im Hinblick auf die von Marx und Engels intentionierte Kritik des Idealismus. In Abgrenzung zur "wirklichen, positiven Wissenschaft" wurde der Begriff - wie der Untertitel zeigte - mit dem Junghegelianismus gleichgesetzt, verlor aber nicht die Möglichkeit, darüber hinaus auch als unabhängiger theoretischer Begriff zu fungieren. Etwa ein Drittel solcher Verwendungen als Ideologie2 (40) zählt Choe in seinen Untersuchungen zum Text (S. 84), wenngleich er später einräumt, daß die Grenze zur Ideologie1-Variante nicht immer leicht aufrechtzuerhalten war. (S. 143).

Zentral für Choes Suche nach der Entstehung des gesellschaftskritischen Begriffes wird die klassenspezifische Verwendung von Ideologie im Sinne der dritten Art, Ideologie3. Eine solche Verwendung bleibt in der Deutschen Ideologie noch unausgeprägt und sollte sich erst nach dem epistemologischen Bruch in schärferer Konturierung einstellen. Im Vordergrund steht dabei nicht mehr die Kritik der spekulativen Konstruktion, sondern es geht um die anlaufenden politisch-ökonomischen Studien über die Funktion der Geschichte im gesellschaftlichen Prozeß sowie über die Rolle des Bürgertums in der neuen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. In diesem Sinne möchte Choe "Ideologie" verstanden wissen.

"Dabei entstand ein neuer Begriff 'Ideologie' (Ideologie3), der als eine Kategorie zur Analyse der bürgerlichen Gesellschaft fungieren sollte. Diese wurde durch das Prinzip der Arbeitsteilung in zwei antagonistischen, durch das Verhältnis zu den Produktionsmitteln bestimmten Klassen konzipiert. Die Teilung der Arbeit findet auch innerhalb der herrschenden Klasse statt, so daß ein Teil von ihr sich zu Denkern der Klasse bildet, der theoretisch das Interesse seiner Klasse vertritt - Ideologen. Ihre Tätigkeit besteht in Illusions- bzw. Ideologiebildung, d.h. sie verhüllen das Sonderinteresse der Klasse, so daß es als das allgemeine menschliche Interesse schlechthin erscheint." (S. 84).

19mal 8 zählt Choe in der Deutschen Ideologie Wortverwendungen, die dieser für seine Untersuchungen relevanten Bedeutung mehr oder minder entsprechen könnten. (S. 84). Hier sieht der Vf. die Innovationsleistung der dritten Variante von Ideologie insofern, als er Marx die alleinige Konzeption der schichtenspezifischen Auslegung von "Ideologie" zuschreibt. Gerade der "konzeptive Ideologe" des Bürgertums (Ideologie3) sei maßgeblich von Ideologie2, die im großen und ganzen mit dem Idealismus konform geht, abzutrennen und erhalte eine davon weitgehend unterschiedliche Funktion.

"Bisher ist nicht bekannt, daß ein Theoretiker vor Marx den Begriff 'Ideologe' zur Bezeichnung eines theoretischen Vertreters des Klasseninteresses der Herrschenden verwendet hätte." (S. 122). So erprobt Choe seine epistemologischen Rahmenlinien im Werk der Deutschen Ideologie und sieht in Marx die ausschlaggebende Kraft für die Elaboration der gesellschaftskritischen Variante.

Im folgenden Abschnitt des fünften Kapitels nimmt sich Choe die Schriften zwischen 1846 und 1852 vor und versucht, anhand dieser Texte die respektive Autorschaft von Marx und Engels zu klären und deren unterschiedliche - oft verschüttete - Begriffsverwendungen nachzuzeichnen. Dem Leser vermittelt er einen historischen Einblick in die politisch aktiven Jahre der beiden Essayisten und bezeichnet die Phase als eine "Periode der Geschichtsschreibung im Kontext politischen Handelns". (S. 144). Als Kontext wirken hier die Aktivitäten von Marx und Engels bei der Gründung des Kommunistischen Korrespondenzkomitees (1846), ihr Beitritt zum Bund der Gerechten (Bund der Kommunisten) von 1847, die Revolution von 1848 und die danach einsetzende Restauration, die Gründung der Neuen Rheinischen Zeitung im Juni 1848 sowie die Auflösung des Bundes der Kommunisten in den frühen 1850er Jahren.

In diesen bewegten Zeitraum fallen 18% der Wortverwendungen (46), die von Choe anhand der einzelnen, vor allem journalistischen Publikationen aufgelistet werden. Sehr häufig (29mal) tritt der Ausdruck in den Artikeln und Heften der Neuen Rheinischen Zeitung auf. "Welcher Begriffsklasse sind die 46 Verwendungen semantisch zuzuordnen?" fragt sich der Vf. (S. 147). Der Befund fällt für die allgemein geltende pejorative Variante aus der zeitgenössischen Umgangssprache tendenziell negativ aus, zumal der Ausdruck in dieser Form allmählich schwindet. Anders verhält es sich mit der philosophischen Verhöhnung des "Wirklichkeitsfremden" aus der Sicht der "materialistischen Geschichtsauffassung", deren Annahmen stets auf eine unverblümte Idealismuskritik verweisen. 55% aller Wortverwendungen (25) lassen sich im vorliegenden Zeitraum auf diese Gruppe der Ideologie2-Interpretation festlegen. (S. 149).

Choe meint zu erkennen, daß der im Anschluß an das Studium der Französischen Revolution entwickelte Ideologie3-Begriff in der Zeit zwischen 1846 und 1852 eine wesentliche theoretische Bereicherung und Präzisierung erfährt. (S. 149). Im Vergleich zur Verwendung in der Deutschen Ideologie, in der Ideologie3 noch maßgeblich mit "Illusion" vermischt wurde, versteht man unter Ideologie3 nun die "ideelle Form der Täuschung oder Verschleierung des Interesses der herrschenden Klasse." (S. 149). Quantitativ sieht der Vf. den Fortschritt im Begriffsbildungsprozeß von Ideologie3 13mal (ca. 29%) konkret ausgedrückt.

Tendenziell neu sind von pejorativer Wertung befreite Begriffsverwendungen (Ideologie0), die zu den Bedeutungsgruppen Ideologie2 und Ideologie3 stark kontrastieren. 7mal (ca. 16% des Gesamtrahmens) kommen solche aus intellektueller Sicht unscharfen Distinktionen hier vor und verweisen - laut Choe - eher auf die Engelssche Terminologie als auf die Marxsche Taxonomie, zumal es sie in den alleine verfaßten Schriften des letzteren nicht gibt. (S. 150). Damit gelangt Choe zu einem aufschlußreichen Ergebnis über die konträren Ideologieauslegungen von Marx und Engels. Diese divergierenden Tendenzen zeichnen sich erst in diesem chronologischen Block (1846-52) ab und werden vom Vf. im folgenden resümiert.

"Das Jahr 1848 markiert einen Wendepunkt im Wortgebrauch bei Marx. Zwölf von 15 Verwendungen nach 1848 beziehen sich begrifflich auf Ideologie3; sie kommen allesamt im Kontext der Auseinandersetzung mit den damals sich vollziehenden Prozessen bürgerlicher Revolutionen in Frankreich, Italien und England vor. Dabei sind polemische Nuancen nicht ganz zu leugnen, aber der theoretische Gehalt des Wortes nimmt immer deutlichere Konturen an; seine inhaltliche Aussagekraft überwiegt die polemische Funktion. [...] Bei Engels sieht es anders aus: 20 der 24 Wortverwendungen sind dem Begriff Ideologie2 zuzuordnen. [...] Den Begriff Ideologie3 in der strengen Marxschen Begriffsbestimmung findet man kaum in den von Engels allein verfaßten Schriften. [...] Der Begriff Ideologie ist bei Marx in die Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Entstehung eingebettet, und ihm ist eine Kritik ihrer Herrschaftsform implizit vorausgesetzt." S. 183f.

Somit situiert Choe im Marxschen Schaffen der Jahrhundertmitte den Ausdifferenzierungsprozeß des Ideologieverständnisses als partikularen Ausdruck des bürgerlichen Denkens und Argumentierens. Immer stärker nimmt Ideologie3 bei Marx die theoretischen Resultate der Analyse der modernen Gesellschaft und ihrer Entstehung an und impliziert die Kritik dieser Herrschaftsform. Indem Choe diese Version des Ideologieverständnisses privilegiert und sie von Engels Partizipation abtrennt, meint er, den eigentlichen Kern des Ideologischen in der Epoche von 1846 bis 1852 verankern zu können.

Im letzten Abschnitt der Studie, "Die Manuskripte zur bürgerlichen Ökonomie und andere Schriften 1852-1883", wird ersichtlich, daß die Worte "Ideologie/Ideologe/ideologisch" darin nur mehr spärlich auftauchen. 34mal in dreißig Jahren verwendet Marx am wissenschaftlichen Höhepunkt seiner Forschungstätigkeit die hier untersuchten Termini (S. 185), und wiederum nimmt Choe eine Kategorisierung der Begriffe vor. Der Verwendungsmodus des Wortes stellt demzufolge nichts anderes als eine logische Weiterführung der Begrifflichkeit dar, zu der Marx während der Niederschrift der Deutschen Ideologie gekommen war. Es nimmt daher nicht wunder, daß die Version "Ideologie1" in diesen dreißig Jahren äußerst selten geworden ist und - in ihrer einzigen Anwendung - nur mehr eine rhetorische Rückwendung auf einen Begriffsgebrauch darstellt. (S. 185). Ebenso beziehen sich die spärlichen Verwendungen von Ideologie2 (6mal) auf frühere erstarrte Diskursmuster und sollten - laut Choe - keineswegs als polemische Konstrukte gegen den Idealismus eingeschätzt werden, wie dies bei Engels geschieht, der gerade in dieser Variante die Hauptaussage des Begriffes zu erkennen vermeint. (S. 185).

Wie es Marx seit seinen Studien über die französische Revolution gegen Ende der 1840er Jahre gezeigt hat, bildete das Bürgertum als herrschende Klasse diskursive Immunisierungsstrategien aus, die das stratifikatorische Interesse als klassenübergreifendes und anthropologisch konstantes auswiesen und ein offensichtlich kohärentes Ideengebäude darboten. Darin erkennt Choe die Leistung der marxistischen Gesellschaftstheorie, und deshalb sei der Ideologiebegriff vorrangig als gesellschaftskritischer, klassenbezogener zu verstehen. Im Zeitraum von 1852-1883 stößt er auf 17 Begriffsverwendungen, welche in diese Richtung weisen, d.h. etwa die Hälfte der Termini ist im Sinne von 'Ideologie3' zu verstehen. (S. 186). Als seltene Ausnahme bezeichnet Choe die Ausweitung des Wortes vom bürgerlichen, partikularen Interesse auf das Interesse einer beliebigen - nicht unbedingt herrschenden - Klasse. Zum Leidwesen des Vf.s "verschwindet [dabei] der kritische Akzent im Hinblick auf die die Herrschaft legitimierende Funktion; die Konnotation der Verschleierung geht verloren". (S. 188). Eine solche Verwendung bezeichnet Choe als Ideologie3v, gewissermaßen als unorthodoxe Abweichung vom Marxschen Paradigma. Bestätigt fühlt er sich in dieser begrifflichen Disqualifikation durch die seltene Verwendung: nur zweimal kommt Ideologie3v in den Texten des späten Marx vor. (S. 188).

Doch Choes Tendenzmodell wird in einem weiteren Schritt erneut konterkariert. Er muß zugeben, daß ein Sechstel der Begriffsverwendungen von 1852-1883 einer Klasse zuzuordnen ist, die auf die weiteste Rahmung zurückgreift und in Bacons bzw. Destutt de Tracys Verständnis der Ideologie als Ideologie0, als Wissenschaft von den Ideen, ihren Ausgang nimmt. (S. 189). Es ist bemerkenswert, mit welcher Akribie der Vf. die einzelnen Rahmungen aus dem Marxschen Gesamttext herausfiltert, doch hält er so sehr an seiner Grundthese fest, derzufolge Marx als Schöpfer der Ideologie3 -Version erkannt wird, daß augenfällige Abweichungen vom orthodoxen Modell gerne als exogen bedingte "Verirrungen" zugerechnet werden. Ein Beispiel dafür ist im vorliegenden auszumachen, zumal der Vf. "für Marx" mit allen Mitteln eine terminologische Lauterkeit und Reinheit beansprucht. Der Rechtfertigungsprozeß liest sich in bezug auf die häufige Verwendung von Ideologie0 dann folgendermaßen:

"In den ökonomischen Schriften von Marx wird überwiegend das Wort 'ideologisch' gepaart mit 'materiell' bzw. 'ökonomisch' verwendet. Vermutlich wollte Marx seinen Untersuchungsgegenstand, den materiellen Bereich bzw. die basale Struktur des Lebensprozesses, abstecken, der gesetzmäßig, unabhängig von kognitiven oder willentlichen Tätigkeiten von Menschen, verlaufe. Dafür benötigte er als Kontrastbegriff zu 'materiell' 'ideell' und nahm 'ideologisch' als dessen Wortkörper. Ursprünglich war 'ideologisch' bei Marx in diesem Sinne kein terminus technicus. Es ist Engels, der nach Marx' Tod im Zuge der Systematisierung des 'Historischen Materialismus' 'Ideologie0' inhaltlich mit dem Begriff Ideologie2 vermengt und zum terminus technicus verwandelt." (S. 189).

So erfährt das Marxsche Werk eine beinahe sakral anmutende Färbung, die von sämtlichen Fremdeinflüssen zu reinigen sei und über die Kreation des Ideologie3-Begriffes zugänglich werde. Marx habe sich durch die zunehmend wissenschaftliche Beschäftigung mit der Geschichte der bürgerlichen Revolution und der politischen Ökonomie auf einen epistemologischen Ideologiebegriff eingestellt, der eben nicht mehr die polemische Funktion innehatte wie Ideologie1 oder Ideologie2. Im Gegensatz dazu habe Engels diese Wende ab 1850 nicht mitgemacht und sei am polemischen Begriff "Ideologie2" hängengeblieben. Somit scheint die Version "Ideologie3" nach der Abfassung der Deutschen Ideologie bei Engels kaum mehr auf. "Er stellte die erste Gestalt eines marxistischen (nicht Marxschen) Ideologiebegriffs dar, auf den sich Generationen vom [sic] Marxisten berufen sollten, deren Marx-Lektüre weitestgehend von der Engelsschen Sichtweise geprägt worden ist." (S. 276).

Mit diesen stark valorisierenden Worten schließt Choe seine aufschlußreiche Untersuchung zum Ideologiebegriff im Marxschen Werk und grenzt Engels Ansatz als zu polemischen und zu wenig wissenschaftlichen aus. Die Analyse strebt einen beachtlichen Grad an Tiefenschärfe an und orientiert sich insbesondere an der stratifikatorisch- bürgerbezogenen Ideologie3-Rahmung, die schließlich als Marxsche Innovation zum "eigentlichen" Ideologiebegriff gekürt wird. So begibt sie sich des Weitblicks, der auch den übrigen Rahmungen mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen könnte.

Darüber hinaus hängt die Studie, deren Quantitätsmessungen relevante Ergebnisse zutage fördern, in der Auswertung der Daten zu sehr am privilegierten Begriff und kann daher nicht erfassen, daß es bei Marx nicht um Ideologie im terminologischen, sondern eher im semantischen Sinne geht. So ist in seinen Schriften auch keine "Ideologietheorie" über die dritte Begriffsvariante entstanden, und Ideologie bleibt darin ohne die zusätzlichen semantischen Felder wie Mehrwert, Klassenbewußtsein etc. nicht erschließbar. Dadurch erklärt sich auch seine heterogene terminologische Verwendung von Ideologie, die Choe mühsam zu klassifizieren versucht und die seine Feststellungen immer wieder konterkariert oder aufhebt.

Die wortwissenschaftlich ausgerichtete Radiographie zeigt am Schrifttum von Marx und Engels einmal mehr, welche vielfältigen Dimensionen an der begrifflichen Genese von Ideologie beteiligt waren und wie aussichtslos es heute ist, sich ohne die Pluralität der Rahmungen auf den umstrittenen Begriff einzulassen.


Dr. Klaus-Dieter Ertler
Universität Graz
Institut für Romanistik
Merangasse 70
A-8010 Graz

Ins Netz gestellt am 08.03.1999.

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Anmerkungen

1 David McLellan: Ideology. Minneapolis: University of Minnesota Press 1995. S. 1. McLellan folgt hier offen- sichtlich der Diktion von Jorge Larrain, der seine Konzeptualisierung der aporetisch anmutenden Ideologie auf ähnliche Weise einleitet: "Ideology is perhaps one of the most equivocal and elusive concepts one can find in the social sciences." Jorge Larrain: The Concept of Ideology. Athens: The University of Georgia Press 1979. S. 13. Die Polysemantisierung des Ideologiebegriffes tritt darüber hinaus am deutlichsten in den Kurzdefinitionen der respektiven geisteswissenschaftlichen Fachwörterbücher zutage: "This has permitted a bewildering variety of conceptual permutations within both MARXISM - the tradition with which the term is principally associated - and rival doctrines (for example, the SOCIOLOGY OF KNOWLEDGE or LIBERALISM)." Gregory Elliott, Ideology. In: Michael Payne (Hg.): A Dictionary of Cultural and Critical Theory. Oxford: Blackwell 1996. S. 252-257. Hier S. 252. Als ebenso unscharf wird der Terminus "Ideologie" in einer weiteren englischsprachigen Definition eingeschätzt: "[...] ideology is as slippery a term in criticism as it is in the social sciences. [...] In use, the term is often nearly synonymous with George Sorel's 'myths', Vilfredo Pareto's 'derivations' (intellectual systems of justification), Sigmund Freud's 'rationalization', Antonio Gramsci's 'hegemony', and Roland Barthes' 'mythologies'." Sam Solecki: Ideology. In: Irena R. Makaryk (Hg.): Encyclopedia of Contemporary Literary Theory. Toronto: University of Toronto Press 1993. S. 558-560. Hier S. 558.    zurück

2 Wie heikel sich die Problematik im Marxschen Werk ausnimmt, unterstreicht auch Jorge Larrain: "In effect, the question arises whether a uniform 'theory of ideology' underlies the whole of Marx's writings. Even if the answer is affirmative, one has to acknowledge that the concept of ideology is not clearly defined; it must be theoretically worked out from what little Marx wrote of it. The analytic precision and systematic treatment of concepts like surplus-value, capital or labour contrast with the sometimes sketchy remarks about the concept of ideology." Jorge Larrain: The Concept of Ideology, S. 36.   zurück

3 Vgl. die neomarxistischen Interpretationen von Terry Eagleton: Ideology: An Introduction. London: Verso 1991 (Dt.: T. E.: Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993.). Er definiert Ideologie auf sechs verschiedene Arten und steuert von einer weiten Fokalisierung von Ideologie als "allgemein materiellem Prozeß der Produktion von Ideen, Überzeugungen und Werten des gesellschaftlichen Lebens" auf eine immer engere zu, die falsche und irreführende Ideen betont und dem Autor zufolge etwa an Marx' Theorie des Warenfetischismus zu erkennen seien. Vgl. ebd., S. 38ff. In dieser Kategorisierung findet auch die Postmoderne als ideologische Ausprägung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ihren Platz. Vgl. T. E.: The Illusions of Postmodernism. Oxford: Blackwell 1996.    zurück

4 David Hawkes: Ideology. London/New York: Routledge 1996.   zurück

5 Wie sehr sich beide Denksysteme in Marx' Schriften überlagern, belegt auch D. McLellan: "However varied the uses to which the term 'ideology' has been put over the last two centuries, two main lines have already been discerned. One is the French rationalist view of de Tracy and his colleagues from whom the term originated - though their optimistic rationalism was modified in the Anglo Saxon world with a heavy dose of empirism. [...] it lays emphasis on the consensual nature of society and adopts a contemplative account of truth: truth is a correspondence with reality which observation and reason should enable all people of good will to recognize through the application, in the social sciences, of methods not radically different from those obtaining in the natural sciences.

The second, and contrasting, line has Germanic roots, being originally associated with Hegel and Marx [...]. Here the emphasis is on the making of truth rather than on observation. [...] Of course, there is an infinite variety of positions between two stark poles. To take but the most obvious example, both are fully represented within the Marxist tradition." David McLellan: Ideology, S. 7f.    zurück

6 Vgl. Hans Jörg Sandkühler: Die Wirklichkeit des Wissens. Geschichtliche Einführung in die Epistemologie und Theorie der Erkenntnis. Frankfurt/Main 1991. S. 178.   zurück

7 Die Gleichung: je wissenschaftlicher ein Text, desto weniger ist es nötig, auf polemische Mittel zurückzugreifen, desto seltener wird der Gebrauch des Wortes "Ideologie" (S. 79) spricht für das spezifisch gesellschaftskritische Ideologieverständnis des Autors. Nicht von ungefähr sucht er in Marx' Werk die Wurzeln für eine solche Auslegung.    zurück

8 An anderer Stelle 18mal (S. 122).   zurück