Ertler über Schlieben-Lange: Ideologie

Klaus-Dieter Ertler

Die Idéologistes in wissenschaftstheoretischer und wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive


  • Brigitte Schlieben-Lange: Idéologie: Zur Rolle von Kategorisierungen im Wissenschaftsprozeß. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 18) Heidelberg: C. Winter Universitätsverlag 2000. 86 S. Kart. DM 26,-.



Das vorliegende Bändchen liefert die gedruckte Version eines Vortrags, den die renommierte Soziolinguistin Brigitte Schlieben-Lange am 25. April 1998 in Heidelberg zu einem äußerst breiten und umstrittenen Thema – der klassifikatorischen Problematik der Ideologie – hielt und mit dem sie unter Beweis stellte, wie bedeutsam der semantisch mehrfach besetzte und verschieden evaluierte Begriff seit seinen Ursprüngen für die Entwicklung der Wissenschaft und Forschung geworden ist. In den knapp sechzig Seiten geht es der Vf.in aber keineswegs um eine umfassende und Vollständigkeit beanspruchende Aufbereitung der Begriffsgeschichte oder um eine erschöpfende Analyse der gängigen Definitionen von Ideologie, wie sie es bereits an anderer Stelle versucht hatte oder wie es von D. McLellan, H. Choe bzw. von L. Clauzade in den späten neunziger Jahren durchgeführt wurde.1


Blick auf den ursprünglichen Begriff Idéologie

In ihrem neuesten Beitrag wirft die Vf.in im Gegenteil einen analytischen Blick mit epistemologisch unübersehbaren Konsequenzen auf einen sehr engen historischen Ausschnitt, d.h. auf den ursprünglichen Entwurf des Begriffs Idéologie, der von den französischen Idéologistes unter der Führung von Destutt de Tracy als philosophisch-wissenschaftliche Richtung instituiert wurde und zwischen dem Sturz Robespierres und dem Aufstieg Napoleons seinen Höhepunkt erreichte. B. Schlieben- Lange möchte damit den vielfältigen Ausprägungen, die der Begriff im Laufe seiner Geschichte erhalten hat, auf den Grund gehen und schließt die marxistische Dimension, wie sie in der deutschen Ideologie und deren Kritik elaboriert wurde, gleich von vornherein dezidiert aus (S. 1). Die historische Dimension werde von ihr diesmal nicht in Betracht gezogen, meint sie. Damit wird ihr Blick frei für die im ursprünglichen Begriffsdesign von Ideologie enthaltenen Elemente, d.h. für deren Denotate und Konnotate, für deren Homogenisierungen und offene Widersprüche, anhand derer die Bedeutung des Begriffs innerhalb der heutigen Wissenschaftsgeschichte zum Ausdruck kommt.

Mit anderen Worten gesagt, untersucht die Vf.in am Beispiel der frühen Genese von Ideologie, welche Rolle Kategorisierungen und Klassifikatoren im allgemeinen innerhalb der Wissenschaftsdiskussionen und der wissenschaftlichen Richtungen spielen und wie sich dieser Prozeß auf die Sprachwissenschaftsgeschichte auswirkt. Dabei soll gerade am vorgeführten Untersuchungsobjekt Idéologie auf allgemeiner Ebene zum Ausdruck kommen, wie sehr die Wahrnehmung von wissenschaftlichen Prozessen durch einen Beobachter, die von diesem sowohl interagierend als auch beobachtend mitvollzogen wird, durch den Einsatz von Kategorisierungen und Klassifikatoren einer maßgeblichen Filterung und Vororientierung unterliegt.


Doppelstruktur des Klassifikators Idéologie

Am Beispiel von Idéologie kann gezeigt werden, wie ein Begriff einerseits Aktivitäten kategorisiert, die einen definierten Ausschnitt von Wirklichkeit wissenschaftlich bearbeiten, und andererseits Verfahren und Einstellungen festlegt, mit denen Wissenschaft betrieben wird. Die Vf.in nützt hier die semantische Mehrfachfunktion von Ideologie aus, um deren Doppelstruktur im wissenschaftlichen Feld nachzuweisen, und meint, daß es solche Modellierungen, die unsere Wirklichkeit zugleich von innen und von außen beobachten können, in größerem Ausmaß erst in neuerer Zeit gibt. Mit ihrer Untersuchung gelangt B. Schlieben-Lange auf eine epistemologisch vielversprechende Spur, die auf einen schlüssig anmutenden Paradigmenwechsel um 1800 hinweist: Es seien seit diesem Zeitpunkt im Wissenschaftsprozeß nicht nur zahlreiche Klassifikatoren mit ähnlicher Doppelstruktur beobachtbar, die sich sowohl am Gegenstandsbereich wie auch am Verfahren orientieren – man denke an die Phänomenologie, den Kognitivismus, die Pragmatik oder Analytik –, sondern es seien seit dieser Zeit ebenso zahlreiche Klassifikatoren nachweisbar, welche die Unterschiede zwischen Theorie und Methode betonen, wie etwa die Hermeneutik, der Empirismus und der Rationalismus.

Damit schließt sich die Vf.in an das zeitgenössische Interpretationsmuster von Wirklichkeit an, demzufolge die paradoxe Position des zugleich internen und externen Beobachters in das epistemologische Konzept eingearbeitet wird. Will man die Beobachtungsvorgänge der eigenen Beobachtung registrieren und diese partikulare Gemengelage bei wissenschaftlichen Befunden mitberücksichtigen, ist eine Untersuchung der Untersuchungsmittel von Bedeutung. Je mehr und je eingehender der Beobachter seine Beobachtungskriterien reflektiert und sie in einer second order observation in seine Ergebnisse einbringt, um so mehr wird die Untersuchung sowohl ihrer Umweltkomplexität wie auch der vor diesem Hintergrund reduzierten Systemmodellierung gerecht. Diese Argumentationslinie verfolgt auch die Vf.in in ihrer Studie, da sie des öfteren unterstreicht, wie sehr der Ausdifferenzierungsprozeß des Wissenschaftssystems heute mehr denn je nach disziplinübergreifenden Verfahren verlangt, die ihre Kategorisierungen mitzureflektieren vermögen und ihre paradoxen Modellierungen gleichzeitig auflösen können.


Zugleich Verfahren und Element:
die Paradoxie des Klassifikators

Aus diesen Überlegungen heraus hat sich B. Schlieben-Lange gerade deshalb eingehend mit einem Klassifikator des Wissenschaftssystems auseinandergesetzt, der eine solche paradoxe Modellierung schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorweggenommen hatte und trotz seiner Vorläuferrolle lange Zeit unterbelichtet geblieben war. Der heutigen epistemologischen Problematik entspricht der Ideologie-Begriff deshalb, weil er auf der logischen Skala mehrfach vorkam und nicht nur als reine Wissenschaftstheorie fungierte, sondern auf tieferen, untergeordneten Positionen auch als Wissenschaftslehre, als science de l'homme (im Gegensatz zu den Naturwissenschaften), als reine Wissenschaft vom Denken (im Gegensatz zu den angewandten Humanwissenschaften) und als Ideologie im eigentlichen Sinne (der Grammatik und der Logik gegenübergestellt) vorkam. Die Vf.in weist, wie erwähnt, anhand von Destutt de Tracys Élémens d'idéologie2 nach, daß der Begriff im Begriff von Anfang an eine Mehrfachverwendung fand und dadurch sowohl für die Kategorisierung der wissenschaftlichen Elemente wie auch als wissenschaftliches Element selbst bereits jenem Modell der Paradoxierung entsprach, das sich die heutige Kognitionswissenschaft auf die Fahnen geschrieben hat. Daraus ergibt sich die Frage, ob und wie diese Vielfachplazierung innerhalb eines hierarchischen Systems der Wissenschaften nicht auch das System grundlegend ändert. Von Interesse ist nun für die Vf.in die Tatsache, daß die Einführung des Klassifikators willkürlich erscheint und als Rückkoppelungsschleife erst im nachhinein seine Identität konstruiert, so daß es etwa möglich wird, vorausgehende wissenschaftliche Aktivitäten ex post dem eigenen Forschungsprogramm zuzuordnen und sich über die Klassiker eine anerkannte Vorläuferschaft zu konstruieren.

Neben den klassifikatorischen Implikationen des frühen Ideologiekonzeptes beschäftigt sich die Studie auch mit der historischen Positionierung der Idéologistes um Destutt de Tracy, Cabanis, Maine de Biran und Degérando. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht das Forschungsprogramm, mit dem die Gruppe das Ziel verfolgte, nicht nur den Epochenumbruch systematisch zu erfassen, sondern auch ihre Erkenntnisse, die aus dem Paradigmenwechsel hervorgegangen waren, den neu gegründeten pädagogischen Institutionen zur Volksbildung nahezubringen. Der Klassifikator idéologie fungierte also nicht nur im Kontext eines wissenschaftlichen Systemzusammenhangs, sondern diente auch als selbstreferentieller Faktor seiner institutionellen Durchsetzung, zumal die Ministerien und Schulbehörden mit der Vermittlung des Ideologiekonzeptes betraut wurden. Das Studium der Ideen und ihrer Genese stand in engem Zusammenhang mit der in den Écoles Centrales vermittelten Logik und Grammatik und galt gewissermaßen als Erkenntnistheorie avant la lettre. B. Schlieben-Lange glaubt, daß die Herausbildungsmodalitäten von Diskursformationen im Foucaultschen Sinn hier bei weitem überschritten worden seien, da es sich bei der terminologischen Durchsetzung von idéologie nicht nur um Systeme von diskursiven Rekurrenzen handelte, sondern letztendlich auch um handfeste Aktionen im institutionellen Bereich.


Historische Positionierung der Idéologistes

Wenngleich die Vf.in aus heuristischen Gründen die im Laufe der Geschichte stattfindende "chamäleonhafte" Weiterentwicklung des Ideologiebegriffes aus ihrer Darstellung ausklammert, zeigt sie nichtsdestoweniger auf, welche axiologische Umkehrung der Klassifikator idéologie unter der napoleonischen Herrschaft, d.h. nach der Regierungsübernahme am 18 brumaire des Jahres 8, erfahren hat. Napoleon sah in der Gruppe der renommierten Idéologistes eine Gegnerschaft, die er abwertend als Idéologues bezeichnete und wodurch er dem Klassifikator gegenüber eine polemische Abgrenzung vornahm. Er versah den Begriff mit dem Stigma der Lächerlichkeit und wandte dabei ein rhetorisches Verfahren an, das insbesondere über Synonymrelationen wirksam wurde und bis in die heutige Zeit als polemische Variante erhalten blieb. Napoleon zufolge waren die Vertreter um Destutt de Tracy nicht nur Ideologen, sondern auch Metaphysiker, Träumer, Terroristen, Jakobiner und Robespierre-Anhänger, wobei seine Einschätzung der Gruppe als Metaphysiker sich am schärfsten gegen die neuen Ideenwissenschaften richtete. Nichts lag vom Klassifikator idéologie nämlich weiter entfernt als eine etwaige Verknüpfung mit der Metaphysik, von der er bislang programmgemäß geflissentlich abgegrenzt wurde.

Was die Rezeption des Klassifikators idéologie in Deutschland betraf, so stellt die Verfasserin fest, daß das Forschungsprogramm der Idéologistes als ganzes verweigert worden war, da die Rezensenten den Klassifikator re-klassifizierten und in Termini der in Deutschland gebräuchlichen Wissenschaftssystematik, die sich an Leibniz und Wolff orientierte, wiedergegeben hätten, ohne auf die Spezifizität der damals vorliegenden Erkenntnisse einzugehen. Durch diese Verweigerung sei im zeitgenössischen Deutschland die »Ver-nicht-ung« (S. 38) des französischen Forschungsprogramms erfolgt.

Neben der Darstellung der unterschiedlichen Rezeption, die der Klassifikator unmittelbar nach seiner Entstehung erfuhr, und neben der Aufbereitung von dessen mehrfacher Applikation in Destutt de Tracys ursprünglicher Konzeptualisierung bringt die Verfasserin ihr eigenes Forschungsgebiet, die Sprachwissenschaft, in die Untersuchung ein und zeigt in einem Kapitel über die unausgeschöpften Potentiale der idéologie auf, daß der französische Idéologiste Destutt keineswegs – wie das noch Foucault in seinem Werk Les mots et les choses3 vertrat – als Vertreter der Episteme der Repräsentation einzuschätzen sei. Destutt habe in den Élemens d'idéologie bereits Überlegungen formuliert, mit denen er die überkommene Episteme überschritten und auf die Trias von Leben, Arbeit und Sprache verwiesen habe, die die neue Ordnung bezeichnete, wobei er aber nicht im Sinne des 19. Jahrhunderts historisch vorgegangen sei, sondern sprachanalytisch und dekonstruktiv, und damit ins 20. Jahrhundert vorausgewiesen habe. Insofern erkennt B. Schlieben-Lange in Destutt de Tracy den Theoretiker der Krise der Repräsentationsbeziehungen, und das sogar in einem engeren sprachtheoretischen und zeichentheoretischen Sinne.


Die Rolle Destutt de Tracys

Anhand von einigen schlüssigen Belegstellen weist sie nach, daß die komplexen Ideen, denen die Idéologistes auf der Spur waren, zwar über Empfindungen und Urteile im monistischen Ich entstehen, immerhin aber mit Hilfe von Zeichen fixiert werden, die ihrerseits von Destutt de Tracy selbst als unzuverlässig erkannt wurden. Aus diesen Belegstellen geht gleichzeitig hervor, daß das menschliche Denken durch diese Unsicherheiten im Bereich der Zeichen und deren Zuschreibungsmechanismen bis zu einem gewissen Grad variabel und relativ bleibt. Diese Unsicherheiten habe Destutt de Tracy aber nicht wie etwas später Humboldt über die Mittel von Dialogizität/Alterität aufgelöst, sondern sei den Weg zu den sensiblen Ursprüngen des je eigenen Denkens gegangen. Auf diese Weise habe der Idéologiste den Bezugspunkt für die Sprachdekonstruktion in die eigene Sensibilität gelegt. Die Verbindung zur modernen Kognitionswissenschaft ist damit insofern hergestellt, als bei einer solchen Klärung der Verknüpfung von Ideen und ihrer Fixierung durch Zeichen das Prinzip der Selbstaufhebung inkludiert wird, womit die Ideologie ihre eigene Hinterfragbarkeit garantiert.

In ihrem letzten Abschnitt wendet sich die Verfasserin aufgrund der vorgehenden Untersuchungen dem sprachtheoretischen Status von wissenschaftlichen Kategorisierungen zu und stellt fest, daß – wie schon bei Destutt de Tracy – auch heute die Kategorisierung als kognitiver Prozeß gegen die sprachlichen Verfestigungen von Signifikaten und Signifikanten gerichtet wird, wobei aber in unserer Zeit die Würdigung der sprachlichen Gestaltung zumeist fehlt und eine Art von »Parallel-Linguistik« entstanden ist, die das Wechselspiel zwischen Kategorisierung und sprachgebundenem Klassifikator nicht reflektiert. B. Schlieben-Lange vertritt jedoch die These, daß Wissenschaftstypisierungen und - kategorisierungen bis zu einem gewissen Maße ähnlich funktionieren wie Alltagskategorisierungen, und sie so mit idéologie im pränapoleonischen Sinne parallelführt. Der Vf.in zufolge gelte es deshalb zu zeigen, daß nur die für eine bestimmte Sprachgemeinschaft relevanten Konzepte als Signifikate fest an einen Signifikanten geknüpft werden können. Neben den Relevanzgesichtspunkten sind für eine Untersuchung der Semantik von Wissenschaftsklassifikatoren auch die Oppositionen von Bedeutung, so wie sie auch in der strukturellen Semantik vorkommen. Im Sinne der kognitiven Semantik funktionieren die Wissenschaftsklassifikatoren darüber hinaus auch prototypisch, mit einem stark ausgeprägten Zentrum und einer schwachen Peripherie, wobei gerade den referenzsemantischen Aspekten, d.h. den konzeptuellen Rahmenbedingungen, – wie in den Thesen der Idéologistes – eine große Bedeutung zugemessen wird. Wie bei den ideologietheoretischen Schriften vor zweihundert Jahren lassen sich moderne Wissenschaftsklassifikatoren mehrfach lesen und unterliegen gewissermaßen einem Subsumptionszwang, der als Basisfunktion die wissenschaftlichen Aktivitäten bestimmten Klassifikatoren zuordnet.


Begriffsgeschichtliche Dokumentation zur Verbreitung von Idéologie im Anhang

Auf die knapp formulierten, aber weit ausholenden Thesen der Verfasserin folgt im Anhang eine von Jochen Hafner zusammengestellte begriffsgeschichtliche Dokumentation zur diskursiven Verbreitung des Klassifikators idéologie in den offiziellen Schriften der Écoles Centrales. Das übersichtlich aufbereitete Textkorpus, das aus ministeriellen Rundbriefen an die Lehrerschaft wie auch aus der Korrespondenz zwischen den Experten besteht, zeigt auf, wie aktiv der Klassifikator das Wissenspotential der Zeit ordnete, wie sehr er selbst allerdings von der jeweils geltenden Kategorisierungsstufe abhängig war. Das Korpus dokumentiert aber auch die Fülle an richtungweisenden erkenntnis-, zeichen- und sprachtheoretischen Überlegungen, die sich im kommunikativen Zusammenhang des neu einzurichtenden Unterrichtswesens niederschlugen. Es geht darin hauptsächlich um die Frage nach dem Ursprung der Ideen und dem allgemeinen Prinzip ihrer Klassifizierung, um die Analyse des menschlichen Verstandes und der Gedanken sowie um die Funktion des Denkens im Sprachunterricht. Ein Auszug aus dem Bericht von Mathieu Nicolas Domange möge diese Ambitionen unterstreichen: »Nos idées tirent leur origine des sens: elles ne sont que des sensations actuelles, ou le souvenir des sensations dont elles nous retracent les images. Comment nous distinguons nos sensations et nos idées. La méthode qui nous apprend à les distinguer nous vient de la nature même, qui nous fait connaître successivement les qualités des corps, par l'entremise de nos sens. [...] Cette méthode de décomposition et de composition, appelée analyse, est la seule qui doive nous diriger dans l'étude des sciences et des arts. L'origine de nos idées et leurs principales espèces étant indiquées, quel ordre doit régner entr'elles, pour former un système de connaissances.«4

An dieser spezifischen Beobachtung und Aufbereitung des Ideologiebegriffes und an dessen Parallelsetzung mit den Kriterien der Wissenschaft wird deutlich, wie sich die Vf.in dem komplexen Thema der Ideologie gegenüber selbst positioniert. Indem sie dem Begriff die polemische Note nimmt, die ihm aus der napoleonischen Kritik und – noch mehr – aus der marxistischen Gesellschaftsbeschreibung erwachsen ist, und indem sie sich auf seine ursprüngliche Konzeptualisierung konzentriert, erreicht sie ihn an einem Punkt, wo er sich noch problemlos in das wissenschaftliche System einfügt und als Bestandteil dieses Systems beobachtet und beschrieben werden kann. Sie folgt insofern dem angelsächsischen Mainstream, der sich tendenziell auf eine empirische Version der Sozialwissenschaften einstellte und diese auf die Naturwissenschaften ausrichtete. Diese Art von Sozialwissenschaften hätte sich demnach auf die objektive Welt der Fakten auszurichten und sollte in irgendeiner Weise objektiv verifizierbar sein – und sei es über die Falsifikation.


Methode: empirische Sozialwissenschaften

Aus diesem Denkzusammenhang schöpft B. Schlieben-Lange das Argumentationspotential, mit dem sie sich nun an die komplexen und variablen Bedingungen des immer breiter ausholenden Wissenschaftssystems nähert und zu dessen selbstreflexiver Bewältigung sie einlädt. Die Beobachtung der Genese von disziplinübergreifenden Verfahren und deren Kategorisierung, wie sie zur Zeit der Idéologistes eine besondere Geltung erreichte, führt die Verfasserin schließlich zur These, daß es hinsichtlich der Klassifikation von Wissenschaften und der dabei leitenden Relevanzen um 1800 einen signifikanten Bruch gebe, den es zu beschreiben gelte und der insbesondere über die massive Verbreitung klassifikatorischer Doppelstruktur – nicht zuletzt im Sinne des Destuttschen Ideologiebegriffs – gut nachvollziehbar sei. Für die Problematik des Ideologiebegriffs im engeren Sinne mag dieser chronologische Einschnitt sicherlich gelten, da es gerade in jener Zeit in der Tat zu dessen Ausdifferenzierung kam. Auch die sprach- und kognitionswissenschaftliche Auslegung des damaligen Wissenschaftssystems scheint durchaus einleuchtend. Ob es sich dabei allerdings um ein Spezifikum der betreffenden Epoche handelt, bleibt durch die Verwurzelung der Fragestellungen in den beiden voraufgehenden Jahrhunderten, insbesondere durch die Behandlung der Problematik in den Arbeiten von Francis Bacon und John Locke, höchst problematisch.


Univ.-Doz. Dr. Klaus-Dieter Ertler
Universität Graz
Institut für Romanistik
Merangasse 70
A-8010 Graz

Ins Netz gestellt am 12.09.2000.

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Anmerkungen

1 Brigitte Schlieben-Lange: Die diskursive Verfaßtheit von Periodisierungen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 100 (1995), S. 58–76.
B. S.-L. et al. (Hg.): Europäische Sprachwissenschaft um 1800. Methodologische und historiographische Beiträge zum Umkreis der »idéologie«. Münster 1989–1994, 4 Bde. David McLellan: Ideology. Minneapolis: University of Minnesota Press 1995.
Hyondok Choe: Ideologie. Eine Geschichte der Entstehung des gesellschaftskritischen Begriffs. Frankfurt/Main: Peter Lang 1997. (Rezension dazu von Klaus-Dieter Ertler bei IASL online)
Laurent Clauzade: L'Idéologie ou la révolution de l'analyse. Paris: Gallimard 1998.   zurück

2 Antoine-Louis-Claude Destutt de Tracy: Projet d’élémens d’idéologie.... Paris: P. Didot l’aîné, F. Didot et Debray, an IX [1801].
Ders.: Élémens d’idéologie. Seconde partie. Grammaire. Paris: Courcier, an XI [1803].
Ders.: Élémens d’idéologie. Première partie. Idéologie proprement dite. Paris: Courcier, an XIII [1805].
Ders.: Élémens d’idéologie. Troisième partie. Logique. Paris: Courcier, an XIII [1805].
Ders.: Élémens d’idéologie. IVe et Ve parties. Traité de la volonté et de ses effets. Paris: Courcier [1815].
Ders.: Éléments d’idéologie. Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann 1977 [Faksimile- Neudruck der Ausgaben: Paris 1801-1815].    zurück

3 Michel Foucault: Les mots et les choses. Paris: Gallimard 1966.   zurück

4 Mathieu Nicolas Domange: École centrale du département de la Meuse. Cours de Grammaire générale et des Langues anciennes. Exercice public du 12 fructidor an 7. Zit. nach Brigitte Schlieben-Lange: Idéologie S. 71.   zurück