Die bibliographische Erschließung von Genre-Literatur
Hans-Edwin Friedrich
Horst Illmer: Bibliographie Science Fiction & Fantasy. Buch-
Erstausgaben 1945-1995. 50 Jahre alternative Weltentwürfe in
Deutschland. (Bibliographien: Buch Bibliothek Literatur, 1) Wiesbaden:
Harassowitz 1998. 364 S.
Keine Sparte der Unterhaltungsliteratur ist bibliographisch so gut
erschlossen wie Science Fiction und Fantasy. Das ist auf die Initiative
begeisterter Leser und Sammler sowie der professionell mit diesem Genre
beschäftigten Herausgeber, Übersetzer und Journalisten
zurückzuführen. Die vorliegende Bibliographie von Horst Illmer,
der sich ebenfalls als Sammler und Liebhaber versteht, ist grundsätzlich
eine weitere Verbesserung der ohnehin schon guten Gesamtlage. Im Gegensatz zu den meisten bisher vorliegenden
Bibliographien 1 ist die auf Autopsie beruhende
Dokumentation der Titel mit allen wesentlichen Angaben vorbildlich
durchgeführt.
Illmer konzentriert sich auf einen spezifischen Sektor der Produktion,
"die im deutschen Sprachraum zwischen 1945 und 1995 erschienenen
Erstausgaben der Science Fiction und Fantasy im gebundenen Buch (S. 15).
Seine Bibliographie ergänzt die vorliegenden Verzeichnisse der
Taschenbuch- und Heftromanproduktion. Sie bietet keinen
repräsentativen Überblick. Im
gebundenen Buch konnte sich nach der Leihbuchära 2 der fünfziger und sechziger Jahre Science
Fiction (SF) nicht durchsetzen - sämtliche einschlägigen Buchreihen
sind nach kurzer Zeit eingestellt worden. Die Bibliographie erfaßt
demnach einen Randbereich, denn Taschenbuch und Heft waren die
eigentlichen Publikationsmedien für SF. Viele repräsentative
Autoren der Gattung erscheinen hier nur am Rande oder gar nicht. Statt dessen
wird Material erschlossen, das außerhalb der spezialisierten Nischen des
Buchmarkts erschienen ist und dessen Verbindung zur SF und Fantasy vielfach
erstmals deutlich wird.
Zur Problemlage: Die Diffusität der Science Fiction und
Fantasy
Die schwierige Aufgabe, die sich dem Bibliographen gestellt hat, sei kurz
rekonstruiert: Seit längerem ist in der Forschung die
außerordentliche Assimilationsfähigkeit dieses
hochkombinatorischen Genres bemerkt worden. Jedes andere Gattungsmuster
ist in SF transformierbar. Zum anderen ist die Extrapolation, d.h. die
Weiterentwicklung gegenwärtiger Tendenzen in die Zukunft hinein ein
integraler Bestandteil auch literarisch weniger anspruchsvoller Texte des Gen-
res. Aus diesem Grund bearbeitet SF immer wieder Probleme avant la lettre,
stellt also Semantik bereit, die im Fall des Eintreffens einer antizipierten Ent-
wicklung zur Verfügung steht. Daraus ergibt sich aber als dauerhafter
Trend die Entgrenzung des Genres und die Diffusion von SF-Themen in die
sogenannte Mainstream-Kultur hinein. Die Grenze des Genres ist diffus.
Gentechnik etwa hat seit Wells’ Roman The Island of Dr. Moreau (1896) eine
lange Geschichte als genuines SF-Motiv durchlaufen. Johannes Mario Simmels
Themenwahl im Roman Doch mit den Clowns kamen die Tränen (1987)
zeigte an, daß es aus der SF in den Mainstream ‘gewandert’ ist. Die genetische Veränderbarkeit des Menschen
ist seither zum brennenden Problem des öffentlichen Diskurses gewor-
den, so daß im neuesten Sammelband zum Thema die lange SF-Geschichte
des Motivs vergessen scheint. 3
Schließlich sind Gattungen der Unterhaltungskultur dynamische
Gebilde, die permanentem Anpassungsdruck des Marktes ausgesetzt sind. Es
kommt häufig zu Hybridbildungen verschiedener Genres, die im
Erfolgsfall weitere Subformen ausdifferenzieren und gelegentlich zu
überraschenden Verbindungen führen. Ein Beispiel dafür ist eine Textgruppe, die
wahlweise als "counterfeit world", "Allotopie"
4, "parahistorischer Roman" 5 oder
neuerdings "Uchronie" 6 bezeichnet wird.
Solche auf kontrafaktischen Spekulationen über alternative
Geschichtsverläufe beruhenden Texte sind multigenerisch. Viele stammen aus einem SF-Kontext, der mit dem
Motiv der Zeitreise und damit der Möglichkeit eines verändernden
Eingriffs in Geschichtsabläufe eine pseudowissenschaftliche
Begründung (Absicherung) 7 für die
fiktionale Existenzmöglichkeit alternativer Geschichte bereitstellt, andere
aus einem Fantasy-Kontext.
Eine davon weitgehend unabhängige Tradition
ist die virtuelle Geschichtsschreibung, die beispielsweise durch den Essay If
Napoleon had won the Battle of Waterloo (1907) von George Trevelyan markiert
wird und neuerdings die Aufmerksamkeit von Historikern gewonnen hat. 8 Vom Stoff her ist darüber hinaus die enge Verwandtschaft zur Gattung des historischen Romans nicht zu bestreiten. 9
Konsequenzen der Gattungsdefinition
Aus dieser komplexen Gemengelage ergibt sich, daß eine
trennscharfe Definition von SF nicht gelingen kann. Zwar besteht über
das Gattungsprofil intuitiv Einigkeit, die Grenze der SF ist jedoch unscharf. Es
gibt also notwendig eine große Zahl von Zweifelsfällen.
Dennoch gehört eine verhältnismäßig
präzise Vorstellung von SF zu den konzeptionellen Vorentscheidungen,
ohne die Illmers Bibliographie nicht denkbar ist. Was unter SF zu verstehen sei,
ist entscheidend dafür, was erfaßt wird und was nicht. Illmer
verzichtet auf eine abgrenzende Definition und entscheidet sich für
"alternative Weltentwürfe (S. 10)
als Oberkategorie. 10 Die Gattungsbestimmung ist
unnötig defensiv: Auch intuitives Wissen, was SF sei - Illmer reklamiert
es für sich -, sollte verbalisierbar sein. Diese Defensive führt zu
Unsicherheiten: Unzugehöriges wurde aufgenommen. Der Bibliograph
konnte sich von einigen seiner Funde nicht trennen.
Einer optimalen Erschließung des Materials käme eine
Arbeitsdefinition zugute, die erlaubt, Zweifelsfälle aufzunehmen, aber
möglichst sicher eindeutig nicht zum Gegenstand Gehöriges
auszuschließen. Die Arbeitsdefinition muß nicht positiv bestimmen,
was SF (und Fantasy) ist, sie muß aber ausschließen, was ganz sicher
nicht SF (und Fantasy) ist. Selbstverständlich sollte kein Titel fehlen, der
eindeutig zugeordnet werden kann. Grundsätzlich ist aber weniger die
Lösung des Definitionsproblems wichtig als vielmehr, daß
für die wissenschaftliche Arbeit Material bereitgestellt wird. Die zu
defensive Fassung des Gattungsbegriffs scheint mir eine konzeptionelle
Schwachstelle des vorliegenden Buches zu sein, weil sie Nicht-Kenner in die Irre
führt. Die Stärke ist die Erschließung der Texte, die nicht aus
dem Publikationskontext von SF und Fantasy stammen, sich aber typischer SF-
Motive bedienen. Unglücklich ist die Beschränkung auf das
gebundene Buch. Sie ist inkonsequent gehandhabt, denn die broschierten
Ausgaben der Hobbit Presse sind verzeichnet.
Das Verzeichnis enthält eine Bibliographie Romane und
Erzählungen (S. 17-287), eine Bibliographie Anthologien (S. 289-341) und
einen Anhang mit einem Verzeichnis der Science Fiction- & Fantasy-Reihen
und Serien (S. 345-359) und der Werkausgaben ausgewählter Autoren (S.
360).
Detailkritik
Vor der detaillierten Auseinandersetzung sei daran erinnert: Ein Werk
wie das vorliegende muß Lücken haben, Fehler sind kaum zu
vermeiden. Von der Anlage her setzt es vielfach Lektüre voraus. Was mir an Fehlern ohne systematische Suche
aufgefallen ist, ist verhältnismäßig geringfügig. 11 In wenigen Fällen sind Erscheinungsdaten
oder Originaltitel nicht recherchiert worden.
Horst Illmer ist unter anderem nach Buchreihen vorgegangen. Einige
Reihen enthalten aber Texte, die weder der SF noch der Fantasy zuzuordnen
sind. In der 1969-75 von Kalju Kirde im Insel-Verlag herausgegebenen Bibliothek
des Hauses Usher sind Fantasy-Elemente bei August Derleth, H.P. Lovecraft und
Jean Ray ausfindig zu machen, aber das Gros der Autoren hat weder mit SF
noch mit Fantasy etwas zu tun. Die 1967 bis 1974 erschienene Bibliotheca
Dracula des Hanser-Verlages, die Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges
(1983-84), die von Franz Rottensteiner herausgegebene Reihe Die phantastischen
Romane (Zsolnay 1975-1982) haben keinen SF/Fantasy-Schwerpunkt. Die meisten Bände der Reihe Hobbit Presse (Klett-Cotta, 1969ff.) wiederum sind
zwar der Fantasy zuzuzählen, einige aber nicht (z.B. Ueda Akinari).
Schwierig zu entscheiden sind Fälle, wo Autoren nur in einzelnen Texten
einschlägige Motive verwenden. Beispielsweise sind vier Titel von H.C.
Artmann verzeichnet, von denen in jedem Fall Drakula Drakula zu streichen
wäre, weil es Motivmaterial von Stoker und der Stoker-Rezeption
verwendet. Dann aber wieder fehlt die Ausgabe der Werke Artmanns, die alle
diese Texte darbietet. Die Motive von Artmanns Texten sind auch in der SF
und Fantasy gängig, aber anderen Traditionszusammenhängen
entnommen. Das gilt auch für die genannten Titel von Peter Marginter.
Von William S. Burroughs ist Nova Express zu Recht aufgenommen, Soft
Machine aber nicht.
Der umgekehrte Fall liegt vor, wenn auf SF und Fantasy
spezialisierte Autoren sich in anderen Genres versuchen oder sich aus dem
Genre wegbewegen. Nicht alle Bücher von J.G. Ballard und Ray
Bradbury gehören in die Bibliographie hinein. Ausführlich sind
nicht einschlägige Publikationen von Autoren anderer
Unterhaltungsgenres verzeichnet, die nur gelegentlich Ausflüge zur SF
und Fantasy gemacht haben, wie Clive Barker und Stephen King. - Ein
besonderes Problem stellen die Autoren der Höhenkamm-Literatur dar,
die irgendwie atmosphärisch mit SF und Fantasy in Verbindung gebracht
werden. Dazu zählen Jorge Luis Borges - von dem zwei ältere
Sammelbände aufgenommen sind, nicht aber die Werkausgabe -, Thomas
Pynchon (Vineland), George Orwell (Die Farm der Tiere), Rafik Schami und
Boris Vian (dessen Werkausgabe aufgelistet ist). Hier haben offenbar
Bestrebungen mitgespielt, das Genre durch Import klingender Namen
aufzuwerten. - Einzelne echte Irrläufer sind zu verzeichnen: Samuel
Beckett (Endspiel), Jörg Fausers Aqualunge, Jostein Gaarders Sophies Welt,
Peter Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht, Hans Erich Nossack und, trotz
dem "bio-adapter", Oswald Wiener (Die Verbesserung von Mitteleuropa,
Roman). Strittig ist sicher auch die Berücksichtigung von Grass’ Das
Treffen in Telgte. - In anderen Fällen wieder fehlen Texte. Von Stefan
Heym fehlt die Uchronie Schwarzenberg (1984); von Ernst Kreuder Agimos und
Die Unauffindbaren; von Max Kruses Kinderbüchern der Urmel-Reihe
sind zwei verzeichnet, die anderen nicht; von Friedrich Dürrenmatt
Stoffe I-III. Als Uchronie fehlt Uwe Wolff, Der ewige Deutsche.
Die fiktionalen Welten der Fantasy werden
erzähltechnisch auf eine auch außerhalb des Genres verwendete
Weise konstruiert. 12 Die Grenzen sind hier
fließend, trennscharfe Unterscheidungen kaum möglich. Faßt
man diesen Gattungsbegriff strukturell auf, wäre etwa ein Text wie Ernst
Jüngers Erzählung Auf den Marmorklippen ein Fantasy-Text. Aus
diesem Blickwinkel fehlen dann u.a. Tankred Dorsts Merlin oder Das weite
Land, Georg Zauners Die Erinnerungen des Helden Siegfried, Wolf von
Niebelschütz’ Der blaue Kammerherr, Fritz von Herzmannovsky-
Orlandos Rout am fliegenden Holländer und Maskenspiel der
Genien.
Verlassen wir das diffuse Feld der Einzelentscheidungen und wenden uns
weiteren Kritikpunkten zu. Einzelne Arbeitsschritte der Redaktion des
Materials sind offenbar nicht mehr erfolgt. Es hat den Anschein, als wäre
vieles Zufallsfund und nicht mehr weiter geprüft worden. Das Werk der
Autoren, die gelegentlich Genreelemente verwendet haben, ist nicht
systematisch in Augenschein genommen worden. Es
fehlt eine Aufschlüsselung der Pseudonyme, die anhand der
bisher vorliegenden Lexika einfach möglich gewesen wäre. 13 Man hätte so die Bücher von Alexej
Turbojew Karl-Herbert Scheer zuordnen können, die von Wayne
Coover Kurt Brand, das von Evo Präkogler Oswald Wiener. Gerade im
Leihbuchgeschäft häuften sich Pseudonyme: Bert Andrews, Frank
Berning, W. Brown, Wayne Coover, Clark Darlton, J.C. Dwynn, Jay Grams,
George P. Gray, Axel Jeffers, C. Munro, W.W. Shols, Charles Spencer, James
Spencer, Lars Torsten, J.E. Wells, C. C. Zanta. Anonym erschienene Antholo-
gien werden jedenfalls den Herausgebern zugeordnet, die zu ermitteln waren (S.
294). Nicht aufgeschlüsselt sind abweichend vom sonstigen Vorgehen die
Einzeltexte in je einem Prosaband von Jorge Luis Borges und Saki sowie etwa
fünfzehn Anthologien.
Anschlußfragen
Angesichts von Illmers Leistung sind diese Monita jedoch zu
vernachlässigen. Er faßt die bisherigen Vorarbeiten zusammen,
dokumentiert eine große Zahl einschlägiger Titel. Erstmals ist die
zwar leicht identifizierbare, aber schwer zugängliche
Leihbuchproduktion in weiten Teilen dokumentiert. Der Forschung ist ein
weiteres wichtiges Hilfsmittel zur Verfügung gestellt worden.
Die Bibliographie erschließt Material für Fragestellungen, die
über Gattungsgrenzen und über die Unterscheidung von trivialer
und ambitionierter Literatur hinausgehen. Was hier möglich ist, sei an
einem Beispiel erläutert: Das Motiv des Weltuntergangs nach dem
Atomkrieg hat seit der Erfindung der Atombombe die Literatur auf breiter
Basis, vom amerikanischen Pulp-Autor und seinem Pendant, dem deutschen
Leihbuch- und Heftautor, bis hin zu Nevil Shute, Arno Schmidt (Nobodaddy’s
Kinder, Die Schule der Atheisten), Wolfgang Hildesheimer (End of Fiction) und
Günter Grass (Die Rättin) beschäftigt. Es kann nicht
darum gehen, wie Wolfgang Albrecht zu Recht kritisiert hat, etwa Arno
Schmidts Romane "der Science-Fiction-Literatur zuzuschlagen". 14 Aber eine kulturwissenschaftliche Fragestellung, die
diesen Namen verdient, wird nicht daran vorbei kommen, die gesamte
Bandbreite des Motivs ohne Rücksicht auf literarische Ambitionen und
Spezialdiskurse in den Blick zu nehmen. 15 Erst so
kann seine Funktion angemessen erörtert werden. Die Diffusion von SF-
Motiven in die Alltagskultur kann unter Heranziehung von Illmers Bibliogra-
phie erforscht werden. Sie macht weiterhin sichtbar, wo sich semantische Tradi-
tionen herausgebildet haben, die miteinander verknüpft werden
können.
Allerdings ist ein zentrales Problem von Arbeiten, die mehr als die
Höhenkammliteratur in den Blick nehmen wollen oder müssen,
der Umfang der Textcorpora und die mangelnde Aufbereitung des Materials.
Bei gründlichen Studien stoßen Forscherinnen und Forscher
dementsprechend schnell an Kapazitätsgrenzen. Es wäre daher zu
überlegen, ob nicht der bibliographischen Materialerfassung eine
intensivere Erschließung folgen müßte. Textcorpora
müßten durch Regesten, Schlagworte und Register aufbereitet
werden. Ob ein solcher Weg möglich ist, könnte an
überschaubaren Gruppen (Geheimbundroman der Goethezeit,
Robinsonade des 18. Jahrhunderts) erprobt werden.
PD Dr. Hans-Edwin Friedrich
Institut für Deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Schellingstr. 3
D-80799 München
Ins Netz gestellt am 21.12.1999.
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit ist given to the author and IASL online.
For other permission, please contact
IASL online.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!