Frizen ueber Bluhm / Roelleke: Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk

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Werner Frizen

"Wirkendes Wort" wurde fünfzig

  • "weil ich finde, daß man sich nicht >entziehen< soll". Gesammelte Aufsätze zu Thomas Mann und seinem Werk. Hg. v. Lothar Bluhm und Heinz Rölleke (Sonderband der Zeitschrift "Wirkendes Wort") Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2001. 495 S. Kart. € 39,50.
    ISBN 3-88476-451-9.


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Die Zeitschrift "Wirkendes Wort" ist ins Stadium des Alexandrinismus eingetreten. Im Jahre 2000 wurde sie fünfzig, und schon beginnt der Kampf gegen das Vergessen. Aus Anlaß des runden Geburtstages beschenkt sie sich selbst mit einem Sonderband ihrer eigenen Publikationen, weil man, wie es ihr Titelzitat sagt, sich den Ehrungen nicht entziehen soll, wenn schon ein Jubiläum ansteht. Und bevor die anderen über den Anlaß hinweggehen, tut man es lieber gleich selber, das Feiern und Ehren.

Als Organ für "Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben" (so der Untertitel von 1950) gegründet, hat "Wirkendes Wort" im Laufe dieses halben Säkulums sein Antlitz mehrfach gewandelt. Standen am Anfang, mit der Emphase jener Jahre formuliert, ein linguistisches und ein didaktisches Interesse im Zentrum der Programmatik, so verschob sich der Akzent nach einigen Jahren von der Lehre – Robert Ulshöfers "Der Deutschunterricht" stand dafür ein – auf die Wissenschaft und gab der Literatur mehr Raum. Die Modulationen im Untertitel – "Deutsche Sprache in Forschung und Lehre" (Ende der 60er Jahre) und "Deutsche Sprache und Literatur in Forschung und Lehre" (1988) – spiegeln das neue Profil, aber auch die Entpathetisierung des alliterierend-universalistischen Anspruches auf "Lehre und Leben" im Jahre 1950.

Wenn schon Alexandrinertum zum 50., so mögen die Herausgeber geschlossen haben, dann auch mit und um einen Alexandriner klassisch-moderner Signatur – Thomas Mann eben. Keinem deutschen Schriftsteller, sagt das Vorwort, wurden in "Wirkendes Wort" mehr Beiträge gewidmet als ihm. Die 37 hier reproduzierten Aufsätze hat der Zufall der Wissenschaftsgeschichte so zusammengetragen. Darüber statistische Erhebungen anzustellen oder die Frage nach ihrer Repräsentativität zu stellen, könnte also als nahezu müßig erscheinen. Doch betonen die Herausgeber, daß "Der Zauberberg" das meiste Forschungsinteresse gefunden hat, gefolgt vom "Doktor Faustus" und "Felix Krull".

Dies Ergebnis ist zumindest nicht unrepräsentativ: Es sind eben die >intellektualen Romane<, die am ehesten den professionellen Leser zu einer wissenschaftlichen Reaktion stimulierten: der ins Faustische ausartende späte Hochstaplerroman mit seinen Essays über das Sein und das Nichts, der Zeit- und Schwellenroman mit seinen Diskursen über Gott und die Welt, und der Roman des endgültigen Zusammenbruchs mit seiner Frage nach dem Ausbruch aus der Fundamentalkrise der Kunst. Nur am Rande sei's vermerkt: "Lotte in Weimar", der Goetheroman, wurde nicht eines Artikels gewürdigt – auch das ein repräsentativer Befund. Beachtenswert auch, daß "Wirkendes Wort" den scheinbaren Mauerblümchen des großschriftstellerischen Werkes immer ein Plätzchen eingeräumt hat: dem "Wunderkind" etwa oder dem "Eisenbahnunglück", "Herr und Hund" ebenso wie "Unordnung und frühes Leid" – und diesen brillanten Petitessen sind nicht die schlechtesten Analysen gewidmet.

Vergessen

Man liest die Anthologie mit gemischten Gefühlen. Die Befriedigung des Wiedererkennens und die Melancholie im Angesicht so manchen Wissenschaftspetrefaktes streiten in einer Brust. Da ist eben, wenn gesammelt sein muß, auch viel Urväterhausrat gestapelt. Nietzsche spricht in der Zweiten Unzeitgemäßen von den "unverdaulichen Wissenssteinen", die "ordentlich im Leibe rumpeln". 1 Vergessenkönnen ist eine Bedingung des Lebens. Zu viele Wackersteine im Bauch, das wissen wir aus der Geschichte Isegrimms, rumpeln und pumpeln im Bauch herum, und der Mageninhalt wirkt tödlich – denn, verdauen kann er ihn nicht und gefressen hat er ihn auch nicht.

Wenn Wilhelm Grenzmann, der Pädagoge, 1955 verblüfft feststellt, daß die Erotik im "Krull" "eine merkwürdig große Rolle" (S.22) spielt, erntet er nach fünfzig Jahren Enthüllungs-Germanistik in Sachen "Thomas Mann und die Erotik" nur noch ein amüsiertes Lächeln. Wenn Wilhelm Martin Esser 1962 im damals so genannten >muttersprachlichen Unterricht< durch eine stilistische Analyse der Hochstapler-Memoiren "positiv gesellschaftbildend wirken" (S.64) will, dann stehen edle didaktische Absicht und immoralistisches Erzählen in unauflösbarem Gegensatz. Wenn Johannes Pfeiffer in "Die Betrogene" das "Geheimnis" vermißt, "die verborgene Mitte" des "gültige[n] Kunstwerks" (S.27), dann spricht aus ihm die Kunst-Metaphysik der Nachkriegszeit im Jargon der Eigentlichkeit, die nicht einmal mehr amüsieren kann. Und wenn Hans Heinrich Borcherdt das exordium von "Königliche Hoheit" nach allen biederen Regeln dessen durchdekliniert, was man damals "immanentes Interpretieren" nannte und als Aufspießen von Motiven mit wiederholter Germanisten-Schelte diverser Autoren bedacht wurde, dann bestätigt sich auch hier, daß jede Zeit ihre Toten hat. Sie erinnern an die "ledrige[n] Leichen", 2 die Hofrat Behrens konservierte, als er versuchte, seine bräunlichen Schönen, seine Havannas, luftdicht aufzubewahren. Er tauscht solche Erfahrungen mit Castorp aus, der weiß Gott am eigenen Leibe erfahren hat, was es mit alexandrinischen Leichen auf sich hat.

Mit ihnen, die der Sammelband vor der geschichtlichen Selektion bewahren zu müssen glaubt, läßt sich nicht einmal mehr Wissenschaftsgeschichte in Fußnoten schreiben. Der sich immer stärker beschleunigende Informations- und Wissenszuwachs, der Gemeinplatz sei erlaubt, macht nicht nur Erinnern, sondern auch Vergessen zu einem Lebens-Mittel: Konservieren heißt Auswählen.

Verdrängen

Aber das ist ja längst nicht alles. Zwei Drittel der Aufsätze datiert aus den letzten zwanzig Jahren, gut die Hälfte aus den Neunzigern. "Wirkendes Wort" hat sich nämlich erst zu Thomas Mann hin entwickelt. Auch mit dieser Tendenz liegt die Zeitschrift im Trend. Das, was eine böse Zunge einmal die Thomas-Mann-Industrie genannt und was in den letzten Jahrzehnten beeindruckende, aber auch beängstigende Trust-Dimensionen angenommen hat, hat hier eine strebsame Dependance gefunden. Es sind darunter viele Yuppies der Thomas-Mann-Forschung – Thomas Mann hätte geschrieben: Jung-Meier –, die dafür gesorgt haben, daß auch hier die Schlote rauchen. Die Herausgeber stellen mit gutem Grund fest, daß das intensivierte Augenmerk für Beziehungsgeflechte und Einflüsse "der ausgesprochen forschungs- und editionsintensiven Thomas Mann-Philologie" korrespondiert. Auch "Wirkendes Wort" ist vor dieser industriellen Proliferation nicht geschützt, die mit dem erweiterten Quellenmaterial in quasi exponentieller Funktion explodiert.

Bestimmte Themen verdienten es nun allerdings, ein- für allemal auf einen index causarum prohibitarum gesetzt werden. Die "Physiognomie des Todes" (S.293) zum wievielten Male zu beschreiben kann eine nette stilistisch-essayistische Übung sein, ist aber ohne Erkenntniswert. Das Rad zum wer-weiß-wievielten Male neu erfinden und im Zeichen des Dreigestirns alles noch einmal interpretieren, beim Apollinischen anfangen und beim Dionysischen aufhören, die Welt nach Wille und Vorstellung durchbuchstabieren, putzt den Interpreten ganz ungemein, den ungeduldigen Leser aber faßt hamletischer Erkenntnisekel an. Auch Motive aufzuspießen wie Schmetterlinge ist im Falle des Leitmotivikers eine unendliche und unendlich kombinierbare Beschäftigung: Man nehme einen Wortindex, bilde aus ihm Motivketten, verknüpfe sie mit hinlänglich bekanntem Quellenmaterial aus einem Biologie-Lehrbuch, und fertig ist der Essay – alles in allem entsteht so keine lebendige Organisation, sondern eine "parasitische Zellvereinigung" (S.356), die wie die Geschwülste in Hans Castorps biologischen Studien "der Auflösung entgegen" wuchert (S.407f.).

Erinnern

Erinnern heißt Beharren und Bleiben. Was bleibt von 50 Jahren Thomas-Mann-Literatur in "Wirkendes Wort"?

Unverzichtbar die beiden mit genauer Kenntnis protestantischer Theologie angereicherten Artikel Andreas Urs Sommers über den Bankrott der protestantischen Ethik in Buddenbrooks einerseits sowie Thomas Manns Relation zu Franz Overbeck andererseits. Mit Gewinn können auch Franz Orliks Betrachtungen zu den Parerga des epischen Werkes ein zweites Mal gelesen werden. Sie entsprechen einander wie die Flügel eines Diptychons: Subjektiviert Thomas Mann in der Skizze "Das Wunderkind" in einem ästhetischen Probehandeln das Fremde, die sein literarisches Schaffen gefährdende Öffentlichkeit, um sie zu bewältigen (vgl. S.226), ist er in der Idylle "Herr und Hund" der Empirie nie näher gewesen und gestaltet eine "vom subjektiven Vorstellen heteronome Realität" (S.247). Friedhelm Marx' Studie über die Integration des Mythos im "Zauberberg" erfreut nun als Vorspiel zu seiner gerade erschienenen Habilitationsschrift. 3 Klaus-Dieter Krabiel schließt eine Forschungslücke, wenn er die politischen Kontroversen Brechts und der Manns in den zwanziger Jahren aufarbeitet.

Auch ein kleines Duell entwickelt sich in den neunziger Jahren über eine angebliche >unheimliche Nachbarschaft< Thomas Manns mit Ernst Jünger: Michael Rupprecht versuchte auf der Basis von Strukturanalogien in Motivik und Metaphorik Thomas Mann eine mythische Geistesverwandtschaft mit dem "Wegbereiter [...] der Barbarei" 4 zu unterstellen. Vehement und kenntnisreich parierte Lothar Bluhm mit den Mitteln philologischer und historischer Exaktheit und stellte den hageren "Wollüstling" (S.438) als den hin, der er war: "Gegenmodell" und "Kontrastfolie" (S.433) in Fragen des Exils und der Inneren Emigration. Scharmützel dieser Art wünscht der Leser sich mehr.

Allen schließlich, die dem neuen, euphemistischen, medial gezauberten Thomas-Mann-Bild der Breloer und Elisabeth Mann-Borgese keinen Glauben schenken wollen, sei Sascha Kiefers Artikel über das "Novellenverbrechen" (so der betroffene Sohn) "Unordnung und frühes Leid" ans Herz gelegt: Schillers Philipp II., der Fürst ohne Freunde, ist sein Selbst-Bild, das in des Sohnes aggressiver Replik, der "Kindernovelle", zur väterlichen Totenmaske erstarrt (vgl. S.488). Da tun sich die Abgründe im bürgerlichen Heldenleben auf, die Armin Müller-Stahls melancholisch-gemütlicher Zauberer überspielt.

"Erinnerungslust" nannte Freud das Vergnügen am Wiedererkennen. Möge die Jubilarin weiterhin dieser Lust frönen: Beziehungen zu erkennen, die vorhanden, aber bisher verborgen geblieben waren. Sie ist die andere Seite des "plaisir du texte".


Dr. Werner Frizen
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Ins Netz gestellt am 23.04.2002
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Anmerkungen

1 Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, Bd.I, S.272.   zurück

2 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt / M.: Fischer 1974, Bd.III, S.354.   zurück

3 "Ich aber sage Ihnen ...". Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt / M.: Klostermann 2002.   zurück

4 Thomas Mann – Agnes E. Meyer, Briefwechsel 1937–1955. Hg. v. Hans.Rudolf Vaget. Frankfurt: Fischer1992, S.649.   zurück