Frizen über Fischer: Thomas Manns >Josephsromane<

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Werner Frizen

"Höllenfahrt" – Eine Archäologie
der Josephstetralogie Thomas Manns

  • Bernd-Jürgen Fischer: Handbuch zu Thomas Manns >Josephsromanen<. Tübingen / Basel: Francke 2002. XXVIII, 893 S. Geb. € 99,-.
    ISBN 3-7720-2776-8.


Die Stunde der Talmudisten

Wenn ein Kanon abgeschlossen ist, ist die Stunde der Talmudisten gekommen. Um das heilige Original schließen die gelehrten Kommentare ihre Klammer. Entsprechend beeindruckend, aber auch besorgniserregend ist die Kanonisierung zu beobachten, die das Werk Thomas Manns in den letzten Jahren erfahren hat. Handbücher sind mittlerweile zu Einzelwerken wie zum Gesamtwerk entstanden. Eine repräsentative Essay-Auswahl liegt kommentiert in sechs Bänden vor. Die im Erscheinen begriffene Große Frankfurter Ausgabe wird jedem Werk und jedem Werkchen einen Kommentar angedeihen lassen.

Nun also "Joseph". Lange vernachlässigt zugunsten von "Buddenbrooks" und "Zauberberg", erlebt die Romantetralogie zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion eine veritable Renaissance. Für alle, die ihrem Charme verfallen, aber auch für alle, die bei der "Höllenfahrt" im Brunnen der Vergangenheit steckengeblieben und nicht wieder ans Tageslicht des Verständnisses vorgedrungen sind, gibt es jetzt die gute Nachricht von der stupenden Fleißarbeit dieses in aberhundert Einzelinspirationen emporgeschichteten Monumentalkommentars.

Thomas Mann selbst wusste zu gut, dass seine Werke in besonderem Maße kommentarbedürftig sind. Mit dem einen Auge immer auch auf Popularität, mit dem anderen auf >Größe< schielend, war ihm wie seinem Vorbild Wagner die Gefahr nur zu bewusst, dass dem Künstler der Moderne wegen der wachsenden Komplexität und Spezialisierung seines Werkes das Publikum abhanden zu kommen droht. Als er das siebente Kapitel von "Lotte in Weimar" schrieb, sein chef d'œuvre in intertextueller Mimikry, dachte er daran, die vermittelnde Arbeit des Philologen in den Werkzusammenhang direkt mit einzubeziehen. "Denke an Noten-Beigabe eines Germanisten", so plant er im Tagebuch (25.7.1939), als sich herausstellt, dass die französische Übersetzerin mit dem hoch artifiziellen Sprachwerk ihre Schwierigkeiten bekommt. Vor Augen hatte er dabei natürlich das prominenteste Beispiel von "Noten", Goethes eigene "Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans".

Der Kommentar gehört also im Spätwerk Thomas Manns potentiell zur fiktiven Spielwelt mit dazu: Die bis zur Perfektion getriebene pseudowissenschaftliche Attitüde, die Archäologie des Wissens, der historische Edelrost, die hermetischen intertextuellen Spiele, sie alle befinden sich in einem Spannungsfeld von Verbergen und Enthüllen: Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Autor und Leser funktioniert nur, wenn die Maus weiß oder zumindest wittert, wo der Speck hängt.

Hermes, der Wegeöffner

Der Mondgott, Gott der Sprache und der Wissenschaft, ist der Hausgott der Josephstetralogie. Knapp 900 Seiten Kommentar sind da schon nötig, um dem hintergründigen Schreibergott auf die Schliche zu kommen. Wer sich vom findigen Wegeöffner leiten lässt, findet:

  • enzyklopädische Informationen zu historischen Personen, geschichtlichen Ereignissen und Orten, mythologischen Figuren, Konstellationen und Mustern

  • Worterklärungen und Übersetzungen der altorientalischen Phrasen und Wörter

  • Bedeutungserklärungen zu historischem oder historisierendem Wortmaterial, zu Bedeutungsverschiebungen und zur Subcodierung der Motivik

  • intertextuelle Bezüge zur Bibel, zur biblischen Archäologie und zur Bibelinterpretation auf der Basis der Thomas Mannschen Handbibliothek (und darüber hinaus)

  • Dialoge des Romans mit den diversen "Weltgedichten" von der "Divina Commedia" über "Phèdre", "Faust" und die "Recherche" bis hin zu "Parsifal", "Tristan" und dem "Ring des Nibelungen"

  • Erklärungen von Modernisierungen und Aktualisierungen, absichtlichen und unabsichtlichen Anachronismen

  • historische Analogien zur Exilssituation und zum nationalen Wahn der dreißiger und vierziger Jahre

  • unterirdische Motiv- und Themen-Kommunikation innerhalb des epischen Gesamtwerks

  • systematische, statistisch gesicherte Untersuchungen zur Semantik, Syntax und Prosodie

  • Strukturanalysen, Motivverzweigungen, Beziehungszauber

  • Überblicke über die immense Tradition der "Joseph"-Bearbeitungen von Philo bis Webber.

Auf den Leser dieser "Noten-Beigabe" kommt also, das lässt sich nicht verharmlosen, eine Menge >Philologie der Philologie< zu. Schon "Fiorenza", Thomas Manns einziges Drama, nannte der gallig-scharfsichtige Alfred Kerr seiner Zeit eine "Philologenarbeit" 1 welche Boshaftigkeit hätte er sich wohl erlaubt, wenn er "Joseph und seine Brüder" rezensiert hätte? Der biblische Roman ist ein Palimpsest, >Literatur auf zweiter Stufe<, und Thomas Mann gibt sich noch extremer als sonst wie ein Polyhistor. Der Kommentator musste es ihm gleichtun. Seine Informiertheit ist beeindruckend, die Breite seiner Kenntnisse stupend, der Überblick souverän. Eine seiner wesentlichen Kommentatoren-Aufgaben war es, unter den überschriebenen Textschichten des Palimpsests die Rasuren aufscheinen zu lassen. Zwar ist es am Ende bemerkenswert, wie ökonomisch Thomas Mann seine Gewährsleute ausbeutet und wie wenig Titel im ganzen genügten, um von >viertausend Jahren< Rechenschaft abzulegen – doch kam über die sechzehn Jahre der Entstehungszeit schon eine kleine Bibliothek zusammen.

Fischer stellt die Zitate, Anspielungen, Imitationen und Transformationen bereit, die den Bedeutungsüberschuss erzeugen, den Gérard Genette die textuelle Transzendenz 2 genannt hat. Um Text-Transzendenzen zu eröffnen, reicht es natürlich nicht, die Material- und Faktenressourcen aufzudecken. Fischer kennt sich bei den Sternen der höchsten Höhe am Lektürehimmel Thomas Manns nicht minder gut aus wie beim archäologischen und kulturhistorischen Rohstoff. Weshalb auch der philosophische, literarische, musikalische Referenzrahmen immer präsent bleibt, indem das Material fungiert. Mit dem Ariadnefaden solcher Quellenkritik an der Hand irrt es sich um einiges bequemer durch die Bibliothek von Babel.

Kommentieren oder Interpretieren?

Die Antworten auf diese Frage schreiben an einer unendlichen Geschichte. Solange das Ideal der naturwissenschaftlichen Exaktheit auch den Geisteswissenschaften als Ideal vorschwebte, galt subjektive Einrede ins angeblich objektive Kommentierungsgeschäft als Verletzung der philologischen Standesehre. Lange hat Friedrich Beißners Rigidität als vorbildlich gegolten, die dem Kommentator jeden textexegetischen Ansatz verbot. Auch heute ist das Argument natürlich nicht leicht von der Hand zu weisen, dass der Kommentator die Leser-Rezeption nicht am Gängelband steuern darf.

Fischer hat mit seiner Subjektivität keine methodischen Probleme. Er will mehr als nur das kulturelle Wissen bereitstellen, das dem zeitgenössischen Leser Thomas Manns zumindest in umfangreicherem Maße als dem heutigen noch zu Gebote stand. Er will Zusammenhänge, Strukturen, Bezüglichkeiten, semantische und poetische Tiefendimensionen entdecken helfen, die sich sonst nur nach längerem Textstudium auftun.

Und das ist gut so. Denn es hilft wenig zum Verständnis, wenn ein Kommentar zu einem Meisterwerk der Integration von Wirklichkeits-, Sprach- und Bildungswelten ein Zitat, einen Namen, ein Ereignis, eine Anspielung gerade einmal identifizieren und benennen würde. Fischer skizziert nicht nur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte, wie es sich gehört. In Basis-Artikeln, die dem Einzelwortkommentar vorausgeschickt sind, stellt er wesentliche Deutungshilfen bereit, gibt Auskunft zu Suprastrukturen und wagt auch die eine oder andere kecke Hypothese. Das tun heißt nicht, den Leser in seinem Literatur-Verständnis zu belehren, schon gar nicht zu bevormunden. Angesichts des Traditionsbruchs, der sich zwischen dem bürgerlichen Stammpublikum Thomas Manns und dem spätmodernen Leser von heute aufgetan hat, wäre eine Kommentarabstinenz eher ein Ausdruck von Dünkel als dies Angebot von Lesehilfen.

Zwei Tendenzen fallen dabei besonders ins Auge. Fischer liest die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern als humoristischen und humanistischen Roman. Über den Kommentar setzt er als Motto Thomas Manns Absichtserklärung aus einem Brief an Ernst Bertram: "auf Pathos und religiöse Inbrunst lasse ich mich nicht ein". (S.295) Und er liest ihn als Sprachwerk. Der eine Fokus hat auch harmonisierende Konsequenzen: Josephs Entwicklung geht bei Fischer zu glatt, zu gefällig, eben >verteufelt human< vonstatten. Viele Verwegenheiten bleiben dabei unter dem schicklichen Schleiergewand verborgen. Der andere ist der verdienstvollste. Fischer beredet die Stilqualitäten nicht nur, sondern legt mikroskopische, statistisch unterfütterte Untersuchungen vor zu Lexikon, Stilvariation, Sprachebenen, Etymologien, Wort- und Formbildung, syntaktischen Figuren, zur Prosodie, Motivik, Perspektive, Erzählhaltung – ein Fundament, das man in den sechziger Jahren zu legen begonnen hatte, 3 an dem aber nicht weiter gearbeitet worden war.

Im Herbst 2006, so steht zu erwarten, soll im Rahmen der Frankfurter Ausgabe der nächste Kommentar zum Josephsroman erscheinen. Mit Spannung wird zu beobachten sein, wie er diese Steilvorlage annimmt.


Dr. Werner Frizen
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Ins Netz gestellt am 03.07.2002
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Anmerkungen

1 Klaus Schröter (Hg.): Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955. Frankfurt / M.: Klostermann 2. Aufl. 2000, S.61.   zurück

2 Gérard Genette: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1993, S.9.   zurück

3 Vgl. Hans Arens: Analyse eines Satzes von Thomas Mann. Düsseldorf: Schwann 1964; Walter Weiss: Thomas Manns Kunst der sprachlichen und thematischen Integration. Düsseldorf: Schwann 1964.   zurück