Zur Aktualität der Avantgarde
"Der Begriff der Avantgarde bedarf der
Aufklärung" 1 , formuliert Enzensberger
bereits 1962. Seine Forderung scheint fast dreißig Jahre später nichts an
Aktualität verloren zu haben. Daß die Aufklärung über die
Avantgarde zugleich eine über die selbstgeschaffenen Aporien avantgardistischen
Denkens im Zeichen der Postmoderne ist, bestätigt das von Wolfgang Asholt und
Walter Fähnders geleitete Internationale Avantgarde-Symposion 1999 an der
Universität Osnabrück, dessen Beiträge nun in gedruckter Form vorliegen.
Die titelgebende Metapher eines "Blicks vom Wolkenkratzer"
suggeriert dabei zwar eine Bildlichkeit "des allumfassenden Blickes" (S. 9), wie
die Herausgeber einleitend anmerken. Angesichts der Veränderungen, die die
Postmoderne, der postkoloniale Diskurs, der Gender-Diskurs und die digitalen Medien
bewirkt haben, kann von einer allumfassenden Perspektive allerdings ernsthaft kaum die Rede
sein. Das Verdienst des Bandes liegt vielmehr darin, aus einer dezidiert modernen Perspektive
unterschiedliche Facetten der Avantgarde in den Blick zu rücken, ohne die
Widersprüchlichkeit aufzulösen, die dem Begriff in seinem ambivalenten
Verhältnis zur Zeit inhärent sind.
Avantgarde Neoavantgarde Postavantgarde
Die Schwierigkeiten, den schillernden Begriff der Avantgarde auf einen
gemeinsamen Nenner zu bringen, verdeutlicht bereits die Definition der Avantgarde, die
Asholt/Fähnders vorschlagen:
Unter ‚Avantgarde‘ wären also all jene
künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts zu subsumieren, die als
‚Vorhut‘ in allen Gattungen und diese tendenziell überwindend einen unwiderruflichen
Bruch mit der überkommenen Kunst proklamieren und eine radikal neue Kunst zu
schaffen suchen, teilweise auch, um damit eine neue Kunst-Leben-Relation mit
Auswirkungen für den Alltag zu stiften.(S. 14f.)
Asholt/Fähnders greifen in ihrer Wendung auf den Ursprung des
Begriffs auf die militärische Metapher der Vorhut zurück, um das ambitionierte
Unterfangen der künstlerischen Avantgarden zu erläutern. Dabei führt die
Rhetorik des Bruches, die in der Definition der Avantgarde als Überwindung des Alten
bereitliegt, zunächst nicht zu Eindeutigkeit, sondern vielmehr zu einer
Vervielfältigung des Avantgarde-Paradigmas in die unterschiedlichen Dimensionen der
historischen Avantgarde, der Neo-Avantgarde der Nachkriegszeit sowie der
Postavantgarde.
Voraussetzung für das vor diesem Hintergrund keineswegs
selbstverständliche Festhalten an dem Begriff der Avantgarde, das fast alle
Beiträge des Bandes kennzeichnet die Ausnahme ist Stephen C. Foster mit dem
bemerkenswerten Diktum:
Ich würde vielmehr zu sagen wagen, daß es
keine selbst-reflexive Theorie der Avantgarde (Theorie aus sich heraus) gibt, und daß
eine solche auch nicht möglich ist, weil die Avantgarde selbst in keiner Weise ein
theoretisches Phänomen darstellt (S. 405) ,
ist die Einsicht, daß sowohl
die historische Avantgarde als auch die Neoanvantgarde "Maßstäbe gesetzt
und etabliert haben, die weder in literarisch-künstlerischer Theorie noch deren Praxis
hintergehbar sind" (S. 16).
Topographie und Geschichte der Avantgarde
Problematisch bleibt aber die Bestimmung der Postavantgarde im Zeichen
postmodernen Denkens: Fordert die Postmoderne dazu auf, die Avantgarde zu verabschieden
oder ist sie selbst als Weiterentwicklung avantgardistischer Positionen zu begreifen?
Indem Asholt/Fähnders für Letzteres optieren, betten sie die
Diskussion um die Theorie und Praxis der Avantgarde in den Horizont einer am Leitfaden
geschichtlicher Kontinuität entwickelten und in sich ausdifferenzierten Moderne
zurück. Selbstverständlich ist das zwar nicht. Bemerkenswert sind jedoch die
Arbeitsergebnisse in ihrer umfassenden Breite, die den Einblick in französische
Theorie-Verhältnisse (Antoine Compagnon) mit Diskussionen um die
lateinamerikanischen und spanischsprachigen Avantgarden (Carlos Rincón und Harald
Wentzlaff-Eggebrecht), die historische Avantgarde in den Niederlanden (Klaus Beekman)
und die russische Literatur und Kunst der Avantgarde (Rainer Grübel) verbinden,
zugleich aber den Blick für die übernationalen Aspekte der Avantgarde (Mojmír
Grygar und Hubert van den Berg) freigeben.
Breite dokumentiert der Band nicht nur in topographischer, sondern ebenso
in thematischer Hinsicht: Der Surrealismus (Marie-Paule Berranger und Karlheinz Barck),
Dadaismus (Stephen C. Foster) und Apollinaires Begriff des Esprit Nouveau (Claude Leroy),
die vielfältigen Verbindungen von Avantgarde und Psychoanalyse (Thomas Anz) sowie
der Zusammenhang von Postmoderne und Postavantgarde (Ottmar Ette) bleiben ebensowenig
ausgespart wie die politische Diskussion um die Nähe der Avantgarde zu Anarchismus
(Rolf Grimminger) und Faschismus (Manfred Hinz).
Avantgarde Moderne Postmoderne
Dabei ist es nicht erstaunlich, daß der Band äußerst
unterschiedliche Ansätze in sich vereint. So stellt Peter Bürger in seinem Beitrag
die Avantgarde in Form eines fingierten Dialogs, der die Positionen Hegels und der
Frühromantik unter veränderten Vorzeichen aufnimmt, noch einmal in den
Rahmen einer philosophischen Theorie der Moderne. In ähnlicher Weise geht Walter
Fähnders in seinem Beitrag vom frühromantischen Konzept des Fragments aus,
um die Avantgarde als ein Projekt zu kennzeichnen, das mit Habermas gegen Habermas
argumentiert in der unvollendeten Moderne keiner Vollendung mehr bedarf.
Überraschend ist in diesem Zusammenhang allerdings der
wiederaufbrandende Streit um Moderne und Postmoderne. So plädiert Bürger im
Anschluß an Hegel für ein modernes Konzept der Vermittlung, während er
Derridas postmodernem Kunstbegriff der différance selbst eine Form avantgardistischer
Theoriebildung als "eine Art Statthalter der Unmittelbarkeit" kritisiert. Dabei
wäre der avantgardistische Beitrag Derridas zur Theorie durchaus ernst zu nehmen als
der Versuch, den Gegensatz von Vermittlung und Unmittelbarkeit außer Kraft zu setzen
zugunsten eines Paradigmas sprachlicher Performativität, das den ihm inhärenten
Gestus der Überwindung zugleich ironisch kritisiert.
Auf ähnliche Probleme wie Bürger trifft Fähnders, wenn
er die bevorzugte Textsorte der Avantgarde, das Manifest, zunächst als
"Nichtort" betrachtet, um ihn in einem zweiten Schritt nicht als (postmoderne)
Atopie, sondern als (moderne) "Utopie" (S. 91) auszugeben. Hier trifft der von
Hegel und der Frühromantik vermittelte Blick mit der Postavantgarde auf eine Grenze,
die nicht überschritten wird, weil die modernistischen Begriffe von Fortschritt und
Innovation selbst problematisch werden.
Geschlechterverhältnisse
Eine skeptische Problematisierung der Avantgarde leitet dagegen die
Beiträge zum Verhältnis der Avantgarde zu den
Geschlechterverhältnissen. Dabei ist es nicht nur die von Birgit Wagner aus
diskursanalytischer Perspektive vorgebrachte These, die Theorie der Avantgarde habe Fragen
nach Geschlechterverhältnissen ausgeblendet, die auch bei Barbara Vinken zur
kritischen Hinterfragung avantgardistischen Denkens im Zeichen der "Pulp
Fiction" führt.
Weiter noch geht Albrecht Koschorke, wenn er die Allegorie des Weibes in
der Moderne als das "höhere Streben eines männlichen Kollektivs"
(S. 142) deutet und so als den Feind die "Frau im Mann" ausmacht, jenes
Moment des Hysterischen, das Freud in seinen frühen Arbeiten zutage gefördert
hatte. Im Rahmen von Koschorkes Analyse erscheint die Moderne weniger als Ausdruck von
Innovation und Fortschritt denn als eine durch die Frage nach den
Geschlechterverhältnissen bedingte Krisenerfahrung der Männlichkeit, die in der
Manifest-Rhetorik der Avantgarde durch eine neue Kultur der Willensstärke und
Entschlußkraft bewältigt werden soll.
Politik und Ästhetik
Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen theoriegeschichtlichen
Perspektiven, die die einzelnen Beiträge auszeichnet, stellt sich die Frage nach dem
grundsätzlichen Verständnis der Avantgarde um so dringlicher. Vertritt
Wolfgang Asholt im Blick auf Dada und Surrealismus die These, die Avantgarde denke die
Grenzen des eigenen Projekts mit und sei daher durchaus zur Selbstkritik in der Lage, so geht
Georg Bollenbeck dem "geheimen Zusammenhang zwischen Moderne und
Antimoderne, zwischen Avantgarde und Antiavantgardismus" (S. 473) nach, um die
politische Destruktivität des antiavantgardistischen Diskurses aufzuzeigen.
Im Blick auf die bereits von Roland Barthes diagnostizierte Gratwanderung
zwischen ästhetischer Innovation und politischer Affirmation, die die Avantgarde
kennzeichnet, deutet Karl-Heinz Barck das Moment des Politischen innerhalb der Avantgarde
mit Foucault als eine "Orts-Verschiebung" oder "Delokalisierung" (S.
527). Mit dem Verweis auf Breton und Foucault gelingt es Barck in seinem Beitrag, die
politische und die ästhetische Dimension der Avantgarde zu verknüpfen und sie
zugleich als eine neue Diskursbegründung darzustellen, die sich durch die drei
Momente der Aufhebung der Grenzen zwischen Künsten und Wissenschaften, der
Kritik am kulturellen Eurozentrismus und der revolutionären Tugend des Pessimismus
auszeichnet.
Das Ende der Avangarde?
Kritisch begegnet dagegen Bernd Hüppauf in seinem Beitrag
über "Das Unzeitgemäße der Avantgarden. Die Zeit, Avantgarden
und die Gegenwart" den Errungenschaften der Avantgarde. Wie Hüppauf
deutlich macht, sind Avantgarde-Bewegungen durch ein paradoxes Verhältnis zur Zeit
bestimmt. Hüppauf verweist nicht nur auf das Moment des Anachronistischen, das der
Avantgarde heute zukommt. Darüber hinaus stellt er die Postmoderne nicht als
Weiterführung, sondern als Überwindung der Avantgarde dar: "Die
Postmoderne versteht sich als die Überwindung der Moderne, und mit der Moderne
überwindet sie auch deren Zeit und die Zeit der Avantgarden." (S. 552)
Dabei kennzeichnet Hüppauf die Avantgarde zunächst mit
Nietzsches Attribut des Unzeitgemäßen: "Im Zentrum der Avantgarden
stand ein Verhältnis zur Zeit und eigenen Gegenwart, das mit dem Adjektiv
unzeitgemäß zu charakterisieren ist." (S. 560) Anders als bei Nietzsche
liege das Unzeitgemäße der Avantgarde in dem Sprung von der Kritik der
eigenen Zeit in eine Position, die scheinbar außerhalb der Zeit liegt, zugleich jedoch ein
ungebrochenes Fortschrittsdenken befördere, mit dem die Avantgarde noch heute
identifiziert wird. "So erscheint uns das Unzeitgemäße der Avantgarden so
vergangen wie die Vergangenheit, gegen die sie kämpften, aber aus deren kategorialem
Rahmen sie sich nicht zu lösen vermochten, aus dem sie sich gar nicht lösen
wollten." (S. 576f.)
Die zentrale Aporie der Avantgarde, so Hüppaufs Fazit, ist ihr
Verhältnis zur Zeit, da die Avantgarde sich in einem modernistischen Rahmen bewegt,
der im Zeichen der Postmoderne obsolet geworden ist: "Die Avantgarden
gehören in die Welt von gestern" (S. 548), lautet sein
ernüchterndes Schlußwort, das Paul Manns These vom Tod der Avantgarde zu
bestätigen scheint. 2
Erklären Asholt/Fähnders dagegen, "daß das
Potential der Avantgarde alles andere als erledigt ist" (S. 22), so zeigt sich darin der
berechtigte Wunsch, unter heutigen Bedingungen nach dem Weiterleben der Avantgarde in
Praxis, Kritik und Forschung zu fragen.
Perspektiven der Avantgarde heute
Die Leitperspektive von Asholt/Fähnders bestätigt der
Architekt Daniel Libeskind mit der den Band abschließenden Vorstellung seiner
Londoner Museumserweiterung The Spiral. Libeskinds Text liest sich nicht nur selbst wie ein
avantgardistisches Manifest. Sein Entwurf zeigt darüber hinaus, daß der
allumfassende Blick vom Wolkenkratzer einem in sich differenzierten Konzept der
Räumlichkeit weicht, das unter dem Leitwort von Inspiration und Wissen eine
Brücke zwischen Tradition und Innovation zu schlagen versucht.
Achim Geisenhanslüke
Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
Fachbereich 3
Sprach- und Literaturwissenschaften
Germanistik
D-47048 Duisburg
Ins Netz gestellt am 17.04.2001
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.
Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline.
Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez - Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Weitere Rezensionen stehen auf der Liste
neuer Rezensionen und geordnet nach
zur Verfügung.
Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen?
Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte
informieren
Sie sich hier!
[ Home | Anfang | zurück ]
Anmerkungen
1 Hans Magnus
Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: Einzelheiten. Frankfurt/M.1962, S. 296. zurück
2 Paul Mann: The Theory-Death of the Avant-Garde. Bloomington/Indianapolis 1991. zurück
|