Geisenhanslüke über Asholt/Fähnders: Geschichte und Theorie der Avantgarde

Achim Geisenhanslüke

Geschichte und Theorie der Avantgarde

  • Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.): Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Avant Garde. (Critical Studies 14). Amsterdam-Atlanta: Editions Rodopi B.V. 2000. 730 S. Kart. DM 102,-
    ISBN: 90-420-1272-2



Zur Aktualität der Avantgarde

"Der Begriff der Avantgarde bedarf der Aufklärung" 1 , formuliert Enzensberger bereits 1962. Seine Forderung scheint fast dreißig Jahre später nichts an Aktualität verloren zu haben. Daß die Aufklärung über die Avantgarde zugleich eine über die selbstgeschaffenen Aporien avantgardistischen Denkens im Zeichen der Postmoderne ist, bestätigt das von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders geleitete Internationale Avantgarde-Symposion 1999 an der Universität Osnabrück, dessen Beiträge nun in gedruckter Form vorliegen.

Die titelgebende Metapher eines "Blicks vom Wolkenkratzer" suggeriert dabei zwar eine Bildlichkeit "des allumfassenden Blickes" (S. 9), wie die Herausgeber einleitend anmerken. Angesichts der Veränderungen, die die Postmoderne, der postkoloniale Diskurs, der Gender-Diskurs und die digitalen Medien bewirkt haben, kann von einer allumfassenden Perspektive allerdings ernsthaft kaum die Rede sein. Das Verdienst des Bandes liegt vielmehr darin, aus einer dezidiert modernen Perspektive unterschiedliche Facetten der Avantgarde in den Blick zu rücken, ohne die Widersprüchlichkeit aufzulösen, die dem Begriff in seinem ambivalenten Verhältnis zur Zeit inhärent sind.

Avantgarde – Neoavantgarde – Postavantgarde

Die Schwierigkeiten, den schillernden Begriff der Avantgarde auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, verdeutlicht bereits die Definition der Avantgarde, die Asholt/Fähnders vorschlagen:

Unter ‚Avantgarde‘ wären also all jene künstlerischen Strömungen des 20. Jahrhunderts zu subsumieren, die als ‚Vorhut‘ in allen Gattungen und diese tendenziell überwindend einen unwiderruflichen Bruch mit der überkommenen Kunst proklamieren und eine radikal neue Kunst zu schaffen suchen, teilweise auch, um damit eine neue Kunst-Leben-Relation mit Auswirkungen für den Alltag zu stiften.(S. 14f.)

Asholt/Fähnders greifen in ihrer Wendung auf den Ursprung des Begriffs auf die militärische Metapher der Vorhut zurück, um das ambitionierte Unterfangen der künstlerischen Avantgarden zu erläutern. Dabei führt die Rhetorik des Bruches, die in der Definition der Avantgarde als Überwindung des Alten bereitliegt, zunächst nicht zu Eindeutigkeit, sondern vielmehr zu einer Vervielfältigung des Avantgarde-Paradigmas in die unterschiedlichen Dimensionen der historischen Avantgarde, der Neo-Avantgarde der Nachkriegszeit sowie der Postavantgarde.

Voraussetzung für das vor diesem Hintergrund keineswegs selbstverständliche Festhalten an dem Begriff der Avantgarde, das fast alle Beiträge des Bandes kennzeichnet – die Ausnahme ist Stephen C. Foster mit dem bemerkenswerten Diktum:

Ich würde vielmehr zu sagen wagen, daß es keine selbst-reflexive Theorie der Avantgarde (Theorie aus sich heraus) gibt, und daß eine solche auch nicht möglich ist, weil die Avantgarde selbst in keiner Weise ein theoretisches Phänomen darstellt (S. 405) –,

ist die Einsicht, daß sowohl die historische Avantgarde als auch die Neoanvantgarde "Maßstäbe gesetzt und etabliert haben, die weder in literarisch-künstlerischer Theorie noch deren Praxis hintergehbar sind" (S. 16).

Topographie und Geschichte der Avantgarde

Problematisch bleibt aber die Bestimmung der Postavantgarde im Zeichen postmodernen Denkens: Fordert die Postmoderne dazu auf, die Avantgarde zu verabschieden oder ist sie selbst als Weiterentwicklung avantgardistischer Positionen zu begreifen?

Indem Asholt/Fähnders für Letzteres optieren, betten sie die Diskussion um die Theorie und Praxis der Avantgarde in den Horizont einer am Leitfaden geschichtlicher Kontinuität entwickelten und in sich ausdifferenzierten Moderne zurück. Selbstverständlich ist das zwar nicht. Bemerkenswert sind jedoch die Arbeitsergebnisse in ihrer umfassenden Breite, die den Einblick in französische Theorie-Verhältnisse (Antoine Compagnon) mit Diskussionen um die lateinamerikanischen und spanischsprachigen Avantgarden (Carlos Rincón und Harald Wentzlaff-Eggebrecht), die historische Avantgarde in den Niederlanden (Klaus Beekman) und die russische Literatur und Kunst der Avantgarde (Rainer Grübel) verbinden, zugleich aber den Blick für die übernationalen Aspekte der Avantgarde (Mojmír Grygar und Hubert van den Berg) freigeben.

Breite dokumentiert der Band nicht nur in topographischer, sondern ebenso in thematischer Hinsicht: Der Surrealismus (Marie-Paule Berranger und Karlheinz Barck), Dadaismus (Stephen C. Foster) und Apollinaires Begriff des Esprit Nouveau (Claude Leroy), die vielfältigen Verbindungen von Avantgarde und Psychoanalyse (Thomas Anz) sowie der Zusammenhang von Postmoderne und Postavantgarde (Ottmar Ette) bleiben ebensowenig ausgespart wie die politische Diskussion um die Nähe der Avantgarde zu Anarchismus (Rolf Grimminger) und Faschismus (Manfred Hinz).

Avantgarde – Moderne – Postmoderne

Dabei ist es nicht erstaunlich, daß der Band äußerst unterschiedliche Ansätze in sich vereint. So stellt Peter Bürger in seinem Beitrag die Avantgarde in Form eines fingierten Dialogs, der die Positionen Hegels und der Frühromantik unter veränderten Vorzeichen aufnimmt, noch einmal in den Rahmen einer philosophischen Theorie der Moderne. In ähnlicher Weise geht Walter Fähnders in seinem Beitrag vom frühromantischen Konzept des Fragments aus, um die Avantgarde als ein Projekt zu kennzeichnen, das – mit Habermas gegen Habermas argumentiert – in der unvollendeten Moderne keiner Vollendung mehr bedarf.

Überraschend ist in diesem Zusammenhang allerdings der wiederaufbrandende Streit um Moderne und Postmoderne. So plädiert Bürger im Anschluß an Hegel für ein modernes Konzept der Vermittlung, während er Derridas postmodernem Kunstbegriff der différance – selbst eine Form avantgardistischer Theoriebildung – als "eine Art Statthalter der Unmittelbarkeit" kritisiert. Dabei wäre der avantgardistische Beitrag Derridas zur Theorie durchaus ernst zu nehmen als der Versuch, den Gegensatz von Vermittlung und Unmittelbarkeit außer Kraft zu setzen zugunsten eines Paradigmas sprachlicher Performativität, das den ihm inhärenten Gestus der Überwindung zugleich ironisch kritisiert.

Auf ähnliche Probleme wie Bürger trifft Fähnders, wenn er die bevorzugte Textsorte der Avantgarde, das Manifest, zunächst als "Nichtort" betrachtet, um ihn in einem zweiten Schritt nicht als (postmoderne) Atopie, sondern als (moderne) "Utopie" (S. 91) auszugeben. Hier trifft der von Hegel und der Frühromantik vermittelte Blick mit der Postavantgarde auf eine Grenze, die nicht überschritten wird, weil die modernistischen Begriffe von Fortschritt und Innovation selbst problematisch werden.

Geschlechterverhältnisse

Eine skeptische Problematisierung der Avantgarde leitet dagegen die Beiträge zum Verhältnis der Avantgarde zu den Geschlechterverhältnissen. Dabei ist es nicht nur die von Birgit Wagner aus diskursanalytischer Perspektive vorgebrachte These, die Theorie der Avantgarde habe Fragen nach Geschlechterverhältnissen ausgeblendet, die auch bei Barbara Vinken zur kritischen Hinterfragung avantgardistischen Denkens im Zeichen der "Pulp Fiction" führt.

Weiter noch geht Albrecht Koschorke, wenn er die Allegorie des Weibes in der Moderne als das "höhere Streben eines männlichen Kollektivs" (S. 142) deutet und so als den Feind die "Frau im Mann" ausmacht, jenes Moment des Hysterischen, das Freud in seinen frühen Arbeiten zutage gefördert hatte. Im Rahmen von Koschorkes Analyse erscheint die Moderne weniger als Ausdruck von Innovation und Fortschritt denn als eine durch die Frage nach den Geschlechterverhältnissen bedingte Krisenerfahrung der Männlichkeit, die in der Manifest-Rhetorik der Avantgarde durch eine neue Kultur der Willensstärke und Entschlußkraft bewältigt werden soll.

Politik und Ästhetik

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen theoriegeschichtlichen Perspektiven, die die einzelnen Beiträge auszeichnet, stellt sich die Frage nach dem grundsätzlichen Verständnis der Avantgarde um so dringlicher. Vertritt Wolfgang Asholt im Blick auf Dada und Surrealismus die These, die Avantgarde denke die Grenzen des eigenen Projekts mit und sei daher durchaus zur Selbstkritik in der Lage, so geht Georg Bollenbeck dem "geheimen Zusammenhang zwischen Moderne und Antimoderne, zwischen Avantgarde und Antiavantgardismus" (S. 473) nach, um die politische Destruktivität des antiavantgardistischen Diskurses aufzuzeigen.

Im Blick auf die bereits von Roland Barthes diagnostizierte Gratwanderung zwischen ästhetischer Innovation und politischer Affirmation, die die Avantgarde kennzeichnet, deutet Karl-Heinz Barck das Moment des Politischen innerhalb der Avantgarde mit Foucault als eine "Orts-Verschiebung" oder "Delokalisierung" (S. 527). Mit dem Verweis auf Breton und Foucault gelingt es Barck in seinem Beitrag, die politische und die ästhetische Dimension der Avantgarde zu verknüpfen und sie zugleich als eine neue Diskursbegründung darzustellen, die sich durch die drei Momente der Aufhebung der Grenzen zwischen Künsten und Wissenschaften, der Kritik am kulturellen Eurozentrismus und der revolutionären Tugend des Pessimismus auszeichnet.

Das Ende der Avangarde?

Kritisch begegnet dagegen Bernd Hüppauf in seinem Beitrag über "Das Unzeitgemäße der Avantgarden. Die Zeit, Avantgarden und die Gegenwart" den Errungenschaften der Avantgarde. Wie Hüppauf deutlich macht, sind Avantgarde-Bewegungen durch ein paradoxes Verhältnis zur Zeit bestimmt. Hüppauf verweist nicht nur auf das Moment des Anachronistischen, das der Avantgarde heute zukommt. Darüber hinaus stellt er die Postmoderne nicht als Weiterführung, sondern als Überwindung der Avantgarde dar: "Die Postmoderne versteht sich als die Überwindung der Moderne, und mit der Moderne überwindet sie auch deren Zeit und die Zeit der Avantgarden." (S. 552)

Dabei kennzeichnet Hüppauf die Avantgarde zunächst mit Nietzsches Attribut des Unzeitgemäßen: "Im Zentrum der Avantgarden stand ein Verhältnis zur Zeit und eigenen Gegenwart, das mit dem Adjektiv unzeitgemäß zu charakterisieren ist." (S. 560) Anders als bei Nietzsche liege das Unzeitgemäße der Avantgarde in dem Sprung von der Kritik der eigenen Zeit in eine Position, die scheinbar außerhalb der Zeit liegt, zugleich jedoch ein ungebrochenes Fortschrittsdenken befördere, mit dem die Avantgarde noch heute identifiziert wird. "So erscheint uns das Unzeitgemäße der Avantgarden so vergangen wie die Vergangenheit, gegen die sie kämpften, aber aus deren kategorialem Rahmen sie sich nicht zu lösen vermochten, aus dem sie sich gar nicht lösen wollten." (S. 576f.)

Die zentrale Aporie der Avantgarde, so Hüppaufs Fazit, ist ihr Verhältnis zur Zeit, da die Avantgarde sich in einem modernistischen Rahmen bewegt, der im Zeichen der Postmoderne obsolet geworden ist: "Die Avantgarden gehören in die Welt von gestern" (S. 548), lautet sein ernüchterndes Schlußwort, das Paul Manns These vom Tod der Avantgarde zu bestätigen scheint. 2

Erklären Asholt/Fähnders dagegen, "daß das Potential der Avantgarde alles andere als erledigt ist" (S. 22), so zeigt sich darin der berechtigte Wunsch, unter heutigen Bedingungen nach dem Weiterleben der Avantgarde in Praxis, Kritik und Forschung zu fragen.

Perspektiven der Avantgarde heute

Die Leitperspektive von Asholt/Fähnders bestätigt der Architekt Daniel Libeskind mit der den Band abschließenden Vorstellung seiner Londoner Museumserweiterung The Spiral. Libeskinds Text liest sich nicht nur selbst wie ein avantgardistisches Manifest. Sein Entwurf zeigt darüber hinaus, daß der allumfassende Blick vom Wolkenkratzer einem in sich differenzierten Konzept der Räumlichkeit weicht, das unter dem Leitwort von Inspiration und Wissen eine Brücke zwischen Tradition und Innovation zu schlagen versucht.


Achim Geisenhanslüke
Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
Fachbereich 3
Sprach- und Literaturwissenschaften
Germanistik
D-47048 Duisburg

Ins Netz gestellt am 17.04.2001

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Anmerkungen

1 Hans Magnus Enzensberger: Die Aporien der Avantgarde. In: Einzelheiten. Frankfurt/M.1962, S. 296.   zurück

2 Paul Mann: The Theory-Death of the Avant-Garde. Bloomington/Indianapolis 1991.   zurück