Geiß über Jensen: Incunabula and their Readers

IASLonline


Jürgen Geiß

Herstellung, Vermarktung und Rezeption
von Drucken zur Inkunabelzeit.
Internationale Forschergruppe
um Kristian Jensen diskutiert Aspekte
des Medienumbruchs im 15. Jahrhundert

  • Kristian Jensen (ed.): Incunabula and their Readers. Printing, Selling and Using Books in the Fifteenth Century. London: The British Library 2003. X, 291 S. Zahlr. Ill. Kart. £ 35,-.
    ISBN 0-7123-4769-0.


Die Medienrevolution
im Blick der Inkunabelforschung

Johannes Gutenberg, im Jahre 2000 mit großem Pathos zum >man of the millennium< gekürt, hat ein halbes Jahrtausend nach seinem (vermuteten) Geburtstermin als Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern zahlreiche, auch vom breiten Publikum vielbeachtete Spuren in Ausstellungen, populären Darstellungen in Bild- und Printmedien, aber auch in wissenschaftlichen Publikationen hinterlassen. Dazu zählt auch der hier zu besprechende Sammelband einer Tagung, die Kristian Jensen, Leiter der Abteilung für Alte und seltene Drucke der British Library, unter dem Titel Incunabula and their readers vom 1.–2. Dezember 2000 in London organisiert hat.

Als Herausgeber des Tagungsbandes hat Jensen von den sechzehn gehaltenen Referaten (vgl. das vorläufige Programm unter http://www.sun.rhbnc.ac.uk/Music/Conferences/00-c-inc.html) elf herausgegeben, darunter einige in erheblich modifizierter und revidierter Form. Der besseren Übersicht halber seien die durchwegs in englischer Sprache publizierten, von acht angloamerikanischen und drei deutschen Inkunabelforschern verfaßten Beiträge (vgl. List of Contributors, S. IX f.), hier aufgezählt:

  1. Blaise Agüera y Arcas: "Temporary Matrices and Elemental Punches in Gutenberg's DK type" (S. 1–12)
  2. Lotte Hellinga: "Tradition and Renewal: Establishing the Chronology of Wynkyn de Worde's Early Work" (S. 13–30)
  3. Mary Beth Winn: "Illustration in Parisian Books of Hours: Borders and Repertoires" (S. 31–52)
  4. Cristina Dondi: "Books of Hours: The Development of the Texts in Printed Form" (S. 53–70)
  5. Mary Kay Duggan: "Reading Liturgical Books" (S. 71–81)
  6. Lilian Armstrong: "The Hand Illumination of Venetian Bibles in the Incunabula Period" (S. 83–113)
  7. Kristian Jensen: "Printing the Bible in the Fifteenth Century: Devotion, Philology and Commerce" (S. 115–138)
  8. John L. Flood: ">Volentes sibi comparare infrascriptos libros impressos ...<: Printed Books as a Commercial Commodity in the Fifteenth Century" (S. 139–151)
  9. Holger Nickel: "Orations Crossing the Alps" (S. 153–158)
  10. Falk Eisermann: "Mixing Pop and Politics: Origins, Transmission, and Readers in Illustrated Broadsides in Fifteenth-Century Germany" (S. 159–177)
  11. Bettina Wagner: ">Libri impressi bibliothecae monasterii Sancti Emmerammi<: The Incunable Collection of St Emmeram, Regensburg, and its Catalogue of 1501" (S. 179–205)

Die elf Beiträge beleuchten alle wesentlichen Aspekte der Produktion, Vermarktung und Rezeption von Inkunabeln als den primären Zeugnissen des durchgreifenden Medienumbruchs in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Nimmt man einen zehn Jahre früher publizierten Tagungsband zu Gutenberg und zum frühen Buchdruck 1 zum Vergleich, so fällt auf, daß in dem vorliegenden Sammelband von den meisten Referenten stärker benachbarte Wissenschaftsdisziplinen (Kunst-, Medien-, Liturgie-, Wirtschafts-, Textgeschichte und Philologie, Provenienz- und Rezeptionsforschung, Verlags- und Buchgeschichte usw.) einbezogen werden, zwar mit mit je eigenem fachlichen Schwerpunkt, aber auffällig oft >cross the borders<. Man geht sicher nicht fehl, diese Ausweitung des Beobachtungsspektrums dem durch die gegenwärtige Medienrevolution deutlich geschärfteren Blick für die Komplexität derartiger medialer Umbrüche – in allen vergleichbaren und unterschiedlichen Aspekten – zuzuschreiben. Wie anders wäre das breite Interesse, ja geradezu die Euphorie für das Gutenberg-Jubiläum im Jahre 2000 verständlich gewesen?

Der Erfinder Gutenberg im Fokus der Typenkunde

Naturgemäß fällt es schwer, aus wissenschaftlichen Sammelbänden einzelne Beiträge gesondert herauszuheben und zu würdigen. Allzuleicht könnte der – hier durchaus unbegründete – Eindruck entstehen, den restlichen Aufsätzen käme eine geringere Bedeutung zu. Wenn hier doch eine quantitative Auswahl vorgenommen wurde, so ist dies vor allem den vorgegebenen Richtlinien des Rezensionsorgans geschuldet. Zwei Beiträge verdienen jedoch wegen ihrer methodischen Leitfunktion für die Inkunabelforschung eine genauere Betrachtung: Einmal das Referat von Agüera y Arcas (1.) mit seiner revolutionären Neubewertung und -deutung von Gutenbergs Erfindung aus Sicht der Typenkunde, dann der Beitrag von Jensen (7.), da dieser in bemerkenswerter Weite des methodischen Blickwinkels alle angesprochenen Aspekte des Sammelbandes berücksichtigt (vgl. auch Jensens Vorwort, S. VI). Die beiden Beiträge bieten einen guten Ansatz, um die anderen je nach Sachverhalt weiter oder enger anzuschließen oder zumindest in ihrem Ansatz einzuordnen.

Der Beitrag "Temporary Matrices and Elemental Punches in Gutenberg's DK type" von Blaise Agüera y Arcas (1.) geht auf Voruntersuchungen des renommierten Inkunabelforschers Paul Needham, Kurator der Scheide Library in Princeton, zurück, der sich bereits seit 1988 mit der Varianz im Typenmaterial des frühesten Buchdrucks beschäftigt. Ende der neunziger Jahre gewann er den Physiker Agüera y Arcas für die Überprüfung seiner ersten Thesen mit Hilfe modernster Computertechnologien. Hielt Needham bei der Tagung noch selbst den Vortrag, so überließ er die Publikation der gemeinsam erzielten Forschungsergebnisse dem jüngeren Kollegen.

Der Beitrag bietet eine kritische Revision der Übertragung des Standardmodells der Typenherstellung in drei Stufen (Stahlpatrize, Kupfermatrize als Gußform, Bleitypenguß), wie es archivalisch erst seit Anfang der siebziger Jahre des 15. Jahrhunderts in Italien bezeugt ist, auf Johannes Gutenberg. Agüera y Arcas gewinnt mit Hilfe computertechnisch-stochastischer Verfahren (Scanvergrößerungen, Clusterbildung mit rechnergestütztem Ausschluß geringfügiger Varianten) aus Gutenbergs Donat-Kalender-Type, der ältesten bekannten Drucktype des Mainzer Prototypographen, ein systematisch nach Buchstabeneinzelteilen (z.B. Buchstabenkörper und Überstrich des kleinen i) zerlegbares und damit nach Gruppen sortierbares Material. Erst diese Zerlegung ermöglichte eine schlüssige technologische Erklärung der extremen Typenvarianz der Buchdrucker um Gutenberg.

Agüera y Arcas zeigt, daß diesen Unterschieden nicht die Buchstaben als Ganzes zu Grunde liegen, sondern eine Kombination fester Buchstabenelemente, die für sich gesehen deutlich unterscheidbare, gleichwohl aber klar definierbare Untergruppen bilden (vgl. Abb. S. 9). Pseudovarianten durch fehlerhafte bzw. abgenutzte Typen, Schrumpfung des für das Drucken eingefeuchteten Papiers und unterschiedliche Haftung der Druckfarbe als möglichen Erklärungen für das Phänomen der Varianz kann er mit Hilfe computergestützter Verfahren überzeugend ausschließen. Gemeinsam mit Needham entwickelt Agüera y Arcas aus dem Material heraus die These, daß die Typenvarianz auf unfeste, in mehreren Werkgängen angefertigte oder nachgebesserte Matrizen (Gußformen) zurückgehen müsse, die wiederum mit Hilfe von Patrizen, die nur Teile von Buchstaben umfaßten ("elemental punches"), hergestellt worden seien.

Sie schließen nicht aus, daß die Matrizen aus vergänglichen Materialien wie Sand, Ton oder Papiermasse hergestellt worden sein könnten ("temporary matrices") und verweisen dazu auf die bekannte Herstellung von Pilgerspiegeln durch Gutenberg um 1438 / 40 mit Hilfe der Sandgußtechnik. Nach ihrer Argumentation bliebe Gutenberg nur das Verdienst der Erfindung der Druckpresse; der Typenguß mit Hilfe des beweglichen Handgießinstruments unter Verwendung von Stahlpatrize und Kupfermatrize zur massenhaften Herstellung identischer Bleitypen wäre damit das Ergebnis von Experimenten anderer, bislang unbekannter Erfinder gewesen.

Die faszinierenden, methodisch sorgfältig durchgeführten Untersuchungen der beiden Forscher zur frühesten Druckgeschichte bringen neue Fragen, wenn nicht sogar neues Licht ins quellenarme Dunkel des Frühdrucks der 1450er und 1460er Jahre. Überraschend ist die Koinzidenz extremer Typenvarianz im Buchdruck bis in die frühen sechziger Jahre hinein – neben der DK-Type deuten Agüera y Arcas und Needham vergleichbare Phänomene bei der Type der 36-zeiligen Bibel sowie in der niederländischen Prototypographie an – mit dem bereits oben erwähnten Fehlen archivalischer Quellen für das Gießinstrument bis Anfang der 1470er Jahre. Problematisch bleibt hingegen die Frage nach dem Material der Matrizen, weil man ohne Handgießinstrument ein Zerstören der Matrize nach dem Guß jeder einzelnen Letter (!) annehmen müßte. Andererseits stünden Gutenbergs Erfahrungen mit dem Sandgußverfahren (Pilgerspiegel) durch die Thesen des Forscherteams aus Princeton als experimentelle Annäherung an die komplexe Technik des Letterngusses in einem neuen Licht.

Eine Begründung dafür, weswegen sich die frühen Letterngießer für den äußerst aufwendigen "Satz" vergänglicher Gußformen entschieden haben könnten, behält sich der Beitrag vor. Es wäre zu überlegen, ob der Grund in Rationalisierungsbestrebungen der Letterngießer gelegen haben könnte, die aufwendig zu gravierenden Patrizen einzelner Buchstabenteile – so z.B. Kürzungsstriche über Buchstaben – für verschiedene Matrizen mehrfach verwenden konnten. Die von Agüera y Arcas unterstellte schrittweise Umstellung von einer Sandguß- zur bekannten dreischrittigen Gußtechnik im Laufe der 1450er und frühen 1460er Jahre ist gut vorstellbar auch im Zuge der formalen Emanzipation des Buchdrucks von der Handschrift zu dieser Zeit sowie mit der damit einhergehenden Reduktion von Buchstabenformen. Wenn die These stimmt, so scheint es einen Punkt gegeben zu haben, an dem es den zeitgenössischen Letterngießern rationeller erschien, Buchstaben gleich als Ganzes mit Hilfe des Handgießinstruments zu gießen.

Wie auch immer die These des Beitrags in Zukunft bewertet werden wird – für die Typenforschung als Teil der Inkunabulistik eröffnet der Beitrag des Forscherteams aus Princeton vor allem mit seinem Hinweis auf vergleichbare Phänomene im frühesten Letternguß ein Feld, die Experimentierphase mit der neuen Technik, ihre Träger sowie ihren ständigen Forscherdrang, schneller, billiger und rationeller zu produzieren, besser zu beschreiben und als solche auch besser zu verstehen.

Druckerverleger im Netz der Marktwirtschaft

Bemerkenswerte Einblicke in die Komplexität der Verwendung von Drucktypen in einer Offizin gestattet auch Lotte Hellinga, die Altmeisterin der zeitgenössischen Inkunabeltypenforschung, mit ihrem Beitrag über die Offizin des Londoner Druckers Wynkyn de Worde (2.). Mit ihrer detaillierten Analyse des Typenmaterials gelingt es ihr nicht nur, eine innere Chronologie der Ausgaben der Druckwerkstatt herzustellen, sondern auch die Aufgabenorganisation innerhalb der Offizin mit ihren quer durch Europa reichenden Handelsverbindungen zu rekonstruieren.

Als ehemaliger Mitarbeiter der Offizin des englischen Prototypographen William Caxton übernahm Wynkyn de Worde von dort Druck- und Satzmaterial (Druckpressen, jüngere Matrizen und Lettern, Holzschnitte), ergänzte dieses aber nach und nach durch Holzstöcke für Illustrationen und Lombarden aus den Niederlanden sowie durch Typensätze Pariser Letterngießer. Weiter nutzte er die Matrizen Caxtons sowie Vorbilder aus Paris als Vorlagen für die Neuanfertigung neuer Gußformen, um die mit ihrer Hilfe hergestellten Typensätze auf dem englischen und niederländischen Markt gewinnbringend zu verkaufen. Aus der Umstellung von schmalen Quart- auf umfangreichere Folioausgaben ab 1497 / 98 schließt Hellinga schlüssig, daß Wynkyn de Worde erst mit seinem erfolgreichen Handel mit Drucktypen die Grundlage für ein größeres Engagement als Druckerverleger legte, um damit gewissermaßen das ökonomische Standbein zu wechseln.

Auch der Londoner Buchwissenschaftler John L. Flood geht in seinem Aufsatz "Printed Books as a Commercial Commodity in the Fifteenth Century" (8.) – eine revidierte Fassung eines Beitrages im Gutenberg-Jahrbuch 2001 (S. 172–182) – den ökonomischen Herausforderungen nach, denen sich Druckerverleger im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert als Produzenten von >Massenware< zu stellen hatten. Er arbeitet dabei plausibel heraus, wie es Verlegern nach ersten negativen Erfahrungen in den vorausgehenden Jahrzehnten erst in den 1480er Jahren gelang, sich durch die Bildung von Konsortien, verbesserte Absatzlogistik (Buchführer) und eine geschickte Investitionspolitik (Banken oder Kaufleute als Finanziers, Risikominimierung durch Engagement in verschiedenen Handelssparten) auf einem durch Auflösung der traditionellen Verbindung zwischen Produzent und Käufer undurchsichtig gewordenen Markt erfolgreich zu positionieren.

Am Beispiel von vier Offizinen gelingt es ihm darzustellen, daß im Verlagswesen des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts nur der bestehen konnte, der das Drucken entweder ohne ökonomische Interessen betrieb (Folz, Sporer, Köbel) oder aber durch ständige Marktanalyse, beständigen Kontakt zu den Textproduzenten sowie Kommissionsgeschäfte eine solide Verlagspolitik mit gängigen Texten aufbauen konnte (Grüninger).

Neue Textsorten

Einem speziellen Aspekt der Marktbeobachtung, der Erschließung und Veröffentlichung neuer Textgattungen durch den Buchdruck, widmen sich die deutschen Inkunabelforscher Holger Nickel und Falk Eisermann (9.–10.). Während Nickel den Weg gedruckter >Orationes< (öffentliche Fest- oder Prunkreden) in der Inkunabelzeit als Mustersammlungen von und für humanistische(n) Eliten an der römischen Kurie sowie den Universitäten und Stadtaristokratien Italiens nachzeichnet und in Leipzig ein frühes, wenn auch im Vergleich mit Italien bescheidenes Rezeptionszentrum auch nördlich der Alpen festmacht, fragt Eisermann nach textlichen Neuerungen im Bereich des illustrierten Einblattdrucks in der Inkunabelzeit.

In dem 1492 von Sebastian Brant publizierten Einblattdruck zum Donnerstein von Ensisheim sieht Eisermann einleuchtend einen frühen Vorläufer des reformatorischen >Flugblattes<, formal erkennbar an einer charakteristischen medialen Mischung von Bild und Text in der lateinischen Gelehrten- und in der deutschen Volkssprache. Eisermann arbeitet das neue Genre, das sich durch Autornennung und Mischung von politischer und persönlicher Propaganda aus dem traditionellen Strom bebildeter, religiös-katechetischer Einblattdrucke heraushebt, überzeugend als innovativ und zukunftsweisend heraus. Problematisch erscheint einzig seine Bezeichnung der neuen Textsorte als >humanistischer illustrierter Einblattdruck<: Nach den von ihm selbst beschriebenen Merkmalen hätte er vielleicht besser den Begriff >politisch< für >humanistisch< gewählt. Nach Auswertung sekundärer Zeugnisse (Briefwechsel) und zeitgenössischer Provenienzen kann Eisermann zeigen, daß das neue Genre kaum als >Massenprodukt< (wie etwa Ablaßbriefe) rezipiert wurde, sondern ausschließlich in den elitären Humanistenkreisen Süd(west)deutschlands. Zu Recht weist Eisermann auf das Problem hin, daß die von ihm vermutete Popularisierung des Genres in Richtung >Flugblatt< wegen der problematischen Quellenlage bis etwa 1520 nur sehr bruchstückhaft verfolgt werden kann.

Das >Buch der Bücher< als Massenware

Kristian Jensen setzt sich in seinem Beitrag "Printing the Bible in the Fifteenth Century" (7.) am Beispiel des Bibeldrucks mit dem Prozeß dynamischer Entwicklung und ständiger Verbesserung gedruckter Texte in der Inkunabelzeit auseinander. Verantwortlich für diesen Prozeß war nach Jensen weniger die Variabilität und Heterogenität handschriftlicher oder gedruckter Vorlagen, sondern das schrittweise Ergänzen des Bibeltextes durch texterschließende und -kommentierende Zusätze (Inhaltsverzeichnisse, Konkordanzangaben, Kanontafeln, Zählsysteme, Überschriftzusammenfassungen u.a.). Diese Zusätze erst scheinen es den großen Verlagshäusern Europas im 15. Jahrhundert ermöglich zu haben, gedruckte Bibeln gegen die scharfe Konkurrenz anderer Offizinen zu vermarkten ("diversity was no longer a possibility but an economic necessity ", S. 130).

Gegen den ab den 1480er Jahren marktbeherrschenden Einfluß venezianischer Verleger konnten sich im Bibeldruck nördlich der Alpen nur große Konsortialunternehmungen behaupten, die sich auf den Druck kommentierter Bibeln und damit auf eine qualitativ hochwertige Weiterentwicklung des gedruckten Textes spezialisiert hatten (Amerbach, Rusch und Koberger in Basel, Straßburg und Nürnberg). Neben der extremen Konkurrenz auf dem Markt gedruckter Bibeln förderte nach Jensen das Desinteresse der vortridentinischen Kirchenführung an der Herstellung eines einheitlichen Textes dessen Weiterentwicklung im Freiraum ökonomischer Zwänge und Möglichkeiten – im Gegensatz zu liturgischen Büchern, bei denen der Buchdruck eine schrittweise textliche Normierung und Standardisierung innerhalb der Diözesen mit sich brachte.

Diesen Aspekt nimmt auch Cristina Dondi in ihrem Beitrag über die römischen Horae in den Blick (4.), vor allem im Herausarbeiten eines von Paris um 1485 ausgehenden Trends zur "Massenproduktion" dieser Textsorte; zu Standardisierungsbestrebungen in den Text-Bild-Beziehungen der Pariser Stundenbuchdrucker seit den 1480er Jahren vgl. auch das Referat von Mary Beth Winn (3.).

Methodisch bemerkenswert ist der Blick Jensens auf die zeitgenössischen Provenienzen gedruckter Bibeln zur Inkunabelzeit: Er bringt deren Besitz in geistlichen Institutionen mit Seelgerätstiftungen von Privatpersonen in Verbindung und revidiert damit die These von der angeblich bevorzugten Verwendung der Bibel für die klösterliche Tischlesung. In kunstvoller Ausstattung, etwa auf Pergament gedruckt oder in professionellen Ateliers von Hand illuminiert (vgl. dazu auch den Beitrag von Lilian Armstrong (6.), die bei der Entwicklung handschriftlicher Bildprogramme für gedruckte Bibeln in Venedig eine enge Interaktion zwischen lokalen Verlegern und Illustratoren bis etwa Mitte der 1480er Jahre nachzeichnet), konnten Bibeln zu einem repräsentativen Ausweis von Frömmigkeit in Händen vermögender Personen werden. Die kommentierten Ausgaben hingegen scheinen vor allem als (wissenschaftliche) Studienexemplare genutzt worden zu sein. Für kleinformatige Bibeldrucke stellt Jensen trotz schlechter Überlieferungslage die These auf, daß diese Bücher dem einfachen Pfarrklerus als Grundlage für Pastorale und Predigt im Zuge der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung und Kirchenreform gedient haben könnten.

Das neue Medium im Blick
zeitgenössischer Käufer, Benutzer und Leser

Dem Aspekt lesender Rezeption liturgischer Inkunabeln widmet sich auch die amerikanische Medien- und Musikwissenschaftlerin Mary Kay Duggan (5.). Als besonders progressives Genre für eine bereits in der Handschriftenzeit einsetzende und sich durch den Buchdruck radikal verschärfende Tendenz zur Rezeption von Liturgica im privaten, meditativen Kontext – äußerlich erkennbar im Trend zum kleineren Format – macht sie Breviere und Psalterien aus, während Bücher für gemeinschaftliche Verwendung (z.B. Chorbücher) auch in der Inkunabelzeit vorwiegend an das Medium der Handschrift gebunden blieben. Als Leser – besser: Benutzer – liturgischer Bücher benennt die Autorin

  • Priester, die die Bücher nach wie vor als wichtiges Lektüre- und Erinnerungsmedium liturgischer Handlungen benutzten,
  • Wissenschaftler, die mit der Herstellung standardisierter Texte beschäftigt waren,
  • Angehörige monastischer Gemeinschaften, die im Zusammenhang mit der spätmittelalterlichen Klosterreformbewegung Liturgica neben Messe und Offizium auch für die private Meditation nutzten (interessanter Hinweis auf das Genre des Missale itinerantium, eine Kombination aus Grundmissale, handschriftlichen Ergänzungen und Votivholzschnitten, S. 76 f.) sowie
  • Laien, die Psalterien und Stundenbücher auf Latein und in der Volkssprache für die eigene religiöse Erbauung nutzten.

Ein interessanter Vergleich mit ihren Ergebnissen gelingt Duggan mit ihrer mediengeschichtlichen Analyse des 1440–1445 von Rogier van der Weyden für Bischof Jean Chevrot von Tournai geschaffenen Altarbildes der >Sieben Sakramente<, das die mannigfache Verwendung (para)liturgischer Bücher in der Hand von Geistlichen und Laien in einem Kirchenraum zeigt (S. 79 f.). Bemerkenswert, wenn auch von Duggan nicht eigens herausgehoben, erscheint vor allem der hier angedeutete Aspekt privater, gleichwohl aber in die (liturgische) Öffentlichkeit eines Kirchenraumes eingebette Rezeption liturgischer Bücher. Eine Schwäche des Beitrages liegt allerdings darin, daß die Verfasserin über recht allgemeine Einschätzungen, welchen Part denn die Inkunabeldrucker bei dem beschriebenen rezeptionstechnischen Umschwung spielten (Format- und Preisreduzierung), kaum hinauskommt.

Bettina Wagner geht schließlich in ihrem Beitrag zu den Inkunabeln im zeitgenössischen Katalog des Regensburger Benediktinerklosters Sankt Emmeram (11.) den Veränderungen nach, die der Buchdruck in einer größeren Büchersammlung zur Inkunabelzeit hinterlassen hat. Mehrfache Ansätze zur Katalogisierung, eigens eingeführte Rubriken für gedruckte Bücher sowie bereits Anfang des 16. Jahrhunderts bezeugte Dublettenverkäufe (!) gedruckter Texte zeigen an, daß schon die zeitgenössischen Bibliothekare um 1500 das neue Medium in seinen Eigen- und Besonderheiten sehr wohl zur Kenntnis nahmen. Wohl wegen der komplizierten, für geistliche Institutionen zur Inkunabelzeit jedoch typischen Bestandsgeschichte der Klosterbibliothek – neben der Hauptbibliothek der Mönche gab es volkssprachliche Bücher für die Laienbrüder, daneben kamen durch Privatbestände der Mönche und durch Legate von außen immer wieder neue Bücher hinzu – hat es die Verfasserin bei der Darstellung inhaltlicher Veränderung im Bestandsprofil durch den Buchdruck bei einigen sporadischen Andeutungen belassen (S. 185).

Eine willkommene Bereicherung der Katalogangaben gelingt ihr freilich durch die Identifizierung etwa eines Viertels des Bestandes aus heutigen Sammlungen, v.a. in der Bayerischen Staatsbibliothek München und der Bodleian Library Oxford. Eine von Wagner zu Recht als Desiderat bezeichnete (S. 189 mit Anm. 93) Auswertung moderner Inkunabelbestände in Regensburg würde hier weiteres Licht ins Dunkel bringen. 2

Fazit

Überblickt man die Ergebnisse aller elf Artikel, so bestätigen die meisten Beiträge einhellig eine längere Experimentierphase mit dem neuen Medium des Buchdrucks in den 1450er und 1460er Jahren. In den 1470er Jahren scheint dann eine Konsolidierungsphase eingetreten zu sein, die uns heute zu Recht von Inkunabeln als "the first mechanically mass-produced marketable product" (vgl. Klappentext vorne) sprechen läßt. Dies deckt sich auch mit den Steigerungsraten der Druckausgaben im 15. Jahrhundert, mehr noch mit ihren absoluten Ausgabenzahlen. 3 Die von den Autoren herausgearbeiteten Veränderungen, die die Drucker zumeist in produktiver Auseinandersetzung mit traditionellen, konkurrierenden oder ergänzenden Überlieferungsformen (Handschrift, Blockbuch, Druckgraphik) entwickelten, betreffen die "Hardware" – Drucktypen (Agüera y Arcas, Hellinga; 1.–2.), Layout, Rubrizierung und Illuminierung (Winn, Armstrong; 3. und 6.) – ebenso wie die "Software" – Textentwicklung (Dondi, Jensen, Nickel, Eisermann; 4., 7., 9.–10.), Finanzierung und Vermarktung (Jensen, Flood; 7.–8.) sowie Rezeption (Duggan, Jensen, Eisermann, Wagner; 5., 7., 10.–11.) des neuen Mediums.

Mit Blick auf parallele Ergebnisse der Handschriftenkunde, die ebenfalls um 1480 einen fundamentalen – wenn auch nicht totalen – medialen Umbruch von Text- und Bildüberlieferung sieht 4 und mit den radikalen Umwälzungen des Buchmarkts im Reformationszeitalter (um 1520 / 25) liegt auch im vorliegenden Sammelband, die Problematik, die mit dem Begriff "Inkunabel" als chronologischer Kategorie verknüpft ist, offen zu Tage. Es lag sicher nicht im Interesse der Beiträger zu vorliegendem Sammelband, sich als "Inkunabulisten" allein mit den Käufern, Besitzern, Lesern und Benutzern von Inkunabeln zu beschäftigen, in ihren rekonstruierbaren Sammlungen aber Bücher anderer Überlieferungstypen – Handschriften, Frühdrucke, Drucke der Reformationszeit – außen vor zu lassen. Gleichwohl könnte bei dem etwas unbedarfteren Leser eben dieser Eindruck entstehen und damit eine wesentliche Kategorie der rezeptionsgeschichtlichen Stellung zeitgenössischer Büchersammlungen – auch möglicher Funktions- und Benutzungsdifferenzierungen von Texten mittels der Überlieferungsform – verloren gehen.

Diese kritischeren Anmerkungen betreffen freilich die Inkunabulistik als Ganze, weniger die Qualität des vorliegenden Sammelbandes. Vielmehr bietet er einen im Einzelnen sorgfältig ausgearbeiteten, mit Vorwort (S. VI), Abkürzungsverzeichnis häufig benutzter Sekundärliteratur (S. VII–VIII), biographischen Angaben zu den Beiträgern (S. IX–X) sowie nicht zuletzt 51 schwarz-weiß und 14 farbigen Abbildungen einen hervorragenden Querschnitt über neue Forschungsrichtungen, die sich um die Inkunabelkunde entwickelt haben. Etwas unglücklich ist die Trennung der Anmerkungen (S. 207–277) vom Text, da das unmittelbare Nachschlagen erschwert und vielleicht mehr Popularität vorgespiegelt wird, als der Qualität der einzelnen Artikel zukommt. Lobenswert und äußerst nützlich für aus Auffinden konkreter Sachverhalte ist das umfangreiche Kreuzregister (S. 279–291), das Orte (vereinzelt Inkonsequenzen, z.B. "Breslau, diocese of", S. 281, neben "Wroclaw, and the printing of Books of Hours", S. 291), Institutionen, Personen (bei Autoren mit beigeordneten Texttiteln, ein Druckfehler: "Brandt, Sebastian", S. 281) und Sachverhalte minuziös erschließt. Teilweise sind auch mehrere Einstiege möglich, so z.B. bei den Basler Kartäusern unter "Basel", S. 279, und unter "Carthusian Order", S. 281).

Für denjenigen, der sich die aktuelle Forschungsdiskussion der internationalen Inkunabulistik schnell und übersichtlich erschließen möchte, ist der Sammelband eine sehr empfehlenswerte Bereicherung für das eigene Buchregal.


Dr. Jürgen Geiß
Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz,
Handschriftenabteilung IIIA
Handschriftenkatalogisierung Greifswald (DFG)
Potsdamer Str. 33
D-10785 Berlin

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 20.10.2003
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Bettina Wagner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Johannes Gutenberg – Regionale Aspekte des frühen Buchdrucks. Vorträge der Internationalen Konferenz zum 550. Jubiläum der Buchdruckerkunst am 26. und 27. Juni 1990 in Berlin (Beiträge aus der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz 1) Berlin 1993.   zurück

2 Zufallsfunde des Rezensenten: Jürgen Geiß: Zentren der Petrarca-Rezeption in Deutschland (um 1470–1525). Rezeptionsgeschichtliche Studien und Katalog der lateinischen Drucküberlieferung. Wiesbaden 2002, S. 166 [Nr. 1.294]: Regensburg, Bischöfliche Zentralbibliothek, SWS Ink. 101 (Petrarca: Opera, 1496: HC 12749, gekauft von Abt Erasmus Münzer, gebunden in der Regensburger Werkstatt Kyriß 29; S. 355 [Nr. 67.150]: Regensburg, Staatliche Bibliothek, Inc. 4o 21 (Petrarca: Rerum familiarium libri. Venedig 1492: HC 12811, Legat von Erasmus Daum, Einband spätes 16. Jh.) zu nennen.   zurück

3 Bis 1459: 24 Ausgaben; 1460–1469: 363 [Steigerungrate 15x]; 1470–1479: 5.197 (!) Ausgaben [14x], 1480–1489: 8.483 Ausgaben [1,6x], 1491–1500: 12.277 [1,4x]; Zahlen nach: The illustrated ISTC [Incunabula Short Title Catalogue]. 2nd Ed. CD-ROM + Manual. Reading 1998; Auswertung durch den Rezensenten.   zurück

4 Vgl. etwa Tilo Brandis: Die Handschrift zwischen Mittelalter und Neuzeit. Versuch einer Typologie. In: Gutenberg-Jahrbuch 1997, S. 27–57.   zurück