Giuriato über Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte

IASLonline


Davide Giuriato

"Ende des Schreibens.
Wann wird es mich wieder aufnehmen?"
Annette Schütterle liest Kafkas Oktavhefte neu
– als Handschriften

  • Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als "System des Teilbaues" (Cultura 33) Freiburg im Breisgau: Rombach Verlag 2002. 325 S. Kart. EUR (D) 25.90.
    ISBN 3-7930-9341-7.


I. "Es ist ein Bruchstück"

"Die Lektüre des gesamten Œuvres Kafkas unter diesem Aspekt [der Bereiche Buch, Schrift, Druck, Schreibvorgang, Papier] würde eine wohl einzig dastehende Insistenz des Autors auf der körperlichen und geistigen Realität des Schreib-Akts enthüllen." 1 Was Hans-Thies Lehmann 1984 als eine Forschungshypothese formulierte, die sich aus einer an der Buchstäblichkeit von Kafkas Texten orientierten Lektüre und der Einsicht in deren Aspekte von Referenzentzug und Selbstbezüglichkeit aufdrängte, eröffnete im Umgang mit Kafkas Schreiben eine Perspektive, die dessen literarische Tätigkeit über deren konzeptuelle Reflexion hinaus bis hin auf den physischen Akt des Schreibens beziehen zu können versprach. Daß dieser von höchster poetologischer Relevanz geprägte Bezug erst angemessen untersucht werden kann, wenn man sich demjenigen Ort zuwendet, wo die Spuren dieses – in seiner >Eigentlichkeit< nicht mehr einholbaren – physischen Akts zu lesen sind, nämlich den Handschriften, ist die ebenso notwendige wie höchst spannende Einsicht, die die vorliegende Studie von Annette Schütterle motiviert hat. Sie betritt damit – man glaubt es im Falle Kafkas kaum – Neuland.

Die texttheoretisch und methodisch eng an der französischen Schule der "critique génétique" orientierte Untersuchung von Franz Kafkas Oktavheften, die im Winter 1916 / 1917 "in einer Art Schreibrausch" entstanden sind und aus denen so berühmte, mit dem Signum der Abgeschlossenheit und Einheitlichkeit versehene Texte wie beispielsweise Bericht für eine Akademie, Jäger Gracchus, Beim Bau der chinesischen Mauer u. a. editorisch hergestellt wurden, stellt nun endlich einen breit angelegten Versuch dar, im archivalischen Rückgriff auf das tatsächlich Überlieferte und materialiter Vorliegende den Blick für das freizugeben, was diese angeblichen "Texte" wirklich sind: Bruchstücke nämlich eines an die Topographie des Schriftträgers gebundenen Schreibstromes.

So lernt man jetzt vieldiskutierte >Texte< wie beispielsweise Die Brücke durch deren originalen Kontext neu zu lesen: Durch den Umstand nämlich, daß dieses Stück gleich zu Beginn des Oktavheftes B zu stehen kommt, "überbrückt es selbst den durch den Wechsel der Hefte unterbrochenen Schreibprozeß und erfüllt damit eine Funktion, die offensichtlich störanfällig und bedroht ist" (S. 106). Bruchstücke entstehen dabei allemal, und so wird eine Stelle aus dem China-Komplex in ihrem Bezug auf die eigene Schreibtätigkeit – hic et nunc – lesbar: Die Erzählung im berühmten Oktavheft C vom allzu lückenhaften Mauerbau und die Metapher des "Teilbaues" – der sich übrigens der Untertitel der vorliegenden Studie verdankt – geben der für Kafka charakteristischen Ambivalenz gegenüber dem eigenen Gelingen anschaulichen Ausdruck und prägen auch die Niederschrift der folgenden Stücke im selben Heft. Eines davon – Ein altes Blatt – trägt an einer Stelle des Manuskripts diese Ambivalenz im doppelten Verfahren der Streichung und der unterpungierenden Wiederherstellung, die man getrost als charakteristisch für Kafkas Schreiben im allgemeinen nehmen kann, 2 mit sich: "Es ist ein Bruchstück", kann man in der Handschrift – und nur in Treue zu ihr – lesen.

Was dabei auf dem Spiel steht, ist nicht weniger als die gewissenhafte Konturierung des Begriffs des Schreibens und seiner möglichen semantischen Spannweite, die von der tropologischen Inszenierung, über die explizite Selbstthematisierung, die poet(olog)ische Reflexion, die materiellen Umstände des Schreibens (Papier, Format, Schreibwerkzeuge etc.) bis hin zur spezifischen Bewegung der Schreibhand reichen kann. 3 Es ist daher anschaulich, wenn die Autorin ihre Studie in den drei folgenden Teilen aufbaut:

  1. Den Eingang bildet eine begrifflich freilich noch unpräzise Erörterung von Kafkas Begriff des Schreibens und der daraus resultierenden, ausführlichen Darlegung ihrer Vorgehensweise (Teil I, S. 13–68).

  2. Der Hauptteil der Arbeit enthält eine dem Schriftträger-Prinzip verpflichtete und am konkreten Schriftbild interessierte, fortschreitende Lektüre der Oktavhefte A-F (Teil II, S. 69–256), die den Leser angesichts der teilweise umständlichen und punktuellen Beschreibungen des Schriftbilds gespannt auf die anstehende Faksimile-Edition der Oktavhefte warten läßt.

  3. Im Schlußteil versucht die Arbeit einen kritischen Blick auf die turbulente Editionsgeschichte von Kafkas Schriften, die nicht zuletzt genau damit zusammenhängt, was man unter "Kafkas Schreiben" verstehen und wie man es entsprechend darstellen soll (Teil III, S. 257–298). Die Kritik an der textkonstituierenden Praxis und die Einsicht in die Notwendigkeit photographischer Reproduktion stehen hier im Vordergrund.

II. Schreiben: Kafka

Das Interesse an Kafkas Schreiben leitet die Autorin durch eine ausführliche Darstellung ihrer Vorgehensweise: Das von der "critique génétique" vorangetriebene Interesse an der Materialität von Handschriften und am eigenständigen Status dieser Materialität nährte sich von den kritischen Untersuchungen des französischen Strukturalismus (Julia Kristeva, Roland Barthes) zu den Begriffen des Textes und des Werkes und der daraus entstandenen Zuwendung zur Prozessualität des Schreibens. 4 Es gehört zu den Vorzügen der "critique génétique", daß sie sich im Umgang mit Handschriften von werkästhetischen Begriffs- und Beurteilungsinstrumenten gelöst und ihnen im Gegensatz zur Beschreibung von Drucktexten die statische Autorität abgesprochen hat, gleichsam die Dynamik des produktiven Aktes fokussierend: Der sogenannte "avant-texte" – das heißt alle Materialien, die zur Veröffentlichung eines Textes hinführen wie Notizen, Brouillons, Entwürfe, Reinschriften etc. – wird somit zum Zeugen eines "in Bewegung geratenen Textes". 5 Die Rede von der "écriture" im Sinne einer intransitiven Geste der Textproduktion wird somit um ihre körperliche Bedeutung erweitert und das Augenmerk auf punktuelle, letztlich nur philologisch und historisch im Einzelfall zu untersuchende Schreibsituationen gelenkt.

Ihre Vorgehensweise, die die Autorin anschaulich darlegt (S. 40–68), scheint sehr geeignet, gewichtige Aspekte von Kafkas Schreiben als eine Art "Gegenstrategie zum Vollendungswillen […], wie er den klassischen Werkbegriff bestimmt", 6 zu beleuchten. In der Tat legt Kafkas Reflexion über das Schreiben im allgemeinen einen gewichtigen Akzent auf die Eigendynamik des Schreibakts und kämpft stets um die Möglichkeit, den immer wieder einsetzenden Abbruch des "Schreibstromes" 7 aufzuheben. Der Schreibende ist dabei dem Eigensinn des Schreibakts ausgeliefert: "Ende des Schreibens. Wann wird es mich wieder aufnehmen?" (zit. nach S. 31). Es fällt schwer, auf einen solchen Schreiber die letztlich juristischen Bezeichnungen von "Autor" oder "Schriftsteller" anzuwenden, weil die an sie gebundenen Eigentumsvorstellungen von Kafka mit Nachdruck untergraben werden und allenfalls auf seine tatsächlich publizierten Texte Anwendung finden könnten. Selbst die von der Autorin gewählte Rede vom "schreibenden Subjekt" scheint noch zu stark den Vorstellungen von Autorschaft verbunden zu sein, selbst wenn es nicht als Urheber, sondern als ein Effekt – als eine Art sub-jectum – des Schreibstromes definiert wird. 8

Allenfalls läßt sich eine solche Schreibkrise durch Veränderung der Schreibumstände beeinflussen. Von November 1916 bis Mai 1917 nimmt Kafka Abschied vom gewohnten Schreibort "zu Hause" und von den für seine Roman-Projekte bevorzugten Quartheften und bezieht eine "Arbeitswohnung", wo er die kleinformatigen Oktavhefte an einem – wie es die Autorin in Anlehnung an Gerhard Neumann nennt – "exterritorialen Schreibplatz" beschreibt (S. 18). Hier trifft bis in die äußere Einrichtung des Schreibplatzes jener Tagebucheintrag Kafkas zu, der zu Strategien und Taktiken zur Überwindung der Schreibkrise Anlaß geben könnte: "das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst" (zit. nach S. 22).

Daß nun in den Oktavheften diese Schreibumstände vornehmlich als poetische Figurationen zum Thema des Geschriebenen selbst werden, bestärkt die Autorin in ihrer Grundannahme eines hochgradig "selbstreflexiven" Schreibens bei Kafka, das sich nicht nur in Selbstthematisierungen und poetologischen Selbstfigurationen erschöpfen soll. 9 Darüber hinaus nämlich reicht dieses Schreiben noch bis in die Anordnung der Schrift in den Heften und bis in die Seitengestaltung.

III. Das Schriftbild:
Anton oder Autor?

Das Interesse für das spezifische Schriftbild, das die Autorin mit Recht und mit Gewinn aus der Einsicht in den Kafkas Schreiben inhärentem, hartnäckigem Verweis auf das materialiter Vorliegende wahrnimmt, 10 bestimmt nun die folgende Lektüre der Oktavhefte, die sie im Original der Bodleian Library in Oxford eingesehen hat. Leider konnte die Studie aus rechtlichen Gründen keine Abbildungen der Handschriften enthalten. Sie hat es aber versäumt, wenigstens für besonders einschlägige Stellen eigens diplomatische Transkriptionen anzufertigen, die der Anschaulichkeit der Ausführungen entgegengekommen wären.

Stattdessen hat sich die Autorin dafür entschieden, die Oktavhefte nach der bestehenden, in bezug auf Dokumentation und vermittelnde Übersetzung des Schriftbildes eben gänzlich ungeeigneten Kritischen Ausgabe zu zitieren, 11 obwohl an dieser Edition gerade bemängelt wird, daß "die Schriftträger selbst nicht in ihrer Materialität dokumentiert sind, sondern diskursiv beschrieben werden"
(S. 285). Dieses inkonsequente Darstellungsverfahren – das die eigene Bemühung um Schriftbildlichkeit zu untergraben droht – läßt immerhin augenscheinlich erkennen, daß die photographische Reproduktion der Handschriften nicht nur legitim, sondern darüber hinaus für ein angemessenes Studium von Kafkas Schriften unentbehrlich ist. 12 Zu gerne möchte man beispielsweise folgendes Stück in seinem spezifischen Schriftbild vor sich haben:

Im Oktavheft kommt eine kurze Erzählung zu stehen, von der die Autorin vermutet, daß sie "eine poetische Reflexion Kafkas eigener Schreibsituation" darstelle
(S. 132). Tatsächlich läßt sie sich als Figuration eines Schreibers erkennen, der von einer Dame besucht wird. Sie wird allegorisch eingeführt: "Gestern kam eine Ohnmacht zu mir." Ihre Beschreibung als Dame "mit lang fliessendem Kleid und breitem mit Federn geschmücktem Hut" legt die Vermutung nahe, in der "Feder" eine nunmehr standardisierte Metonymie für das Schreiben zu lesen. 13 Ihre Herkunft aus ebenjenem "exterritorialen Ort" ("Sie wohnt im Nachbarhaus") und ihre "hohle" Stimme geben ihr die Wirkung eines Dämons des Schreibens, der an der Einheitlichkeit des Produkts des Schreibens sich zu schaffen macht.

Der Schreibende stellt seine durch ihre Anwesenheit veränderten Umstände wie folgt dar: "Mir war als sei ich ein Spatz, übe auf der Treppe meine Sprünge und sie zerzause mein weiches flockiges graues Gefieder." Der Umstand, daß der Schreibende eine für Kafkas Thematik typische Verwandlung in ein Tier erfährt und sein Schreiben (seine Feder) von einer zerzausten Sprunghaftigkeit, ja von einer mächtigen Ohnmacht eingenommen wird, läßt sich noch im Namen erahnen, den der Schreibende von der Dame erhält: ">Anton<, rief sie mit hohler und doch sich rühmender Stimme". Erst im Geschriebenen, nämlich im Schriftbild, läßt sich der vermeintliche "Autor", dessen Name einer – für die Bewegung dieses Entwurfs typischen – Verschiebung von "Autor" zu "Anton" unterliegt und der deswegen ein "Autor" eben nicht mehr ist, erkennen, und erst in der photographischen Reproduktion von Kafkas Schriften ließen sich diese schriftspezifischen Verwandtschaften vergleichen.

Man bedankt sich also für den Blick, den die anregende Studie für Kafkas Handschriften eröffnet, und darf mit Spannung auf weitere Einsicht warten, die die anstehende Faksimile-Edition der Schriftträger gewähren wird.


lic.phil. Davide Giuriato
Universität Basel
Deutsches Seminar
SNF-Projekt "Schreibszenen"
Bernoullistr. 28
CH-4056 Basel

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Ins Netz gestellt am 31.08.2003
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Anmerkungen

1 Hans-Thies Lehmann: Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka. In: Gerhard Kurz (Hg.): Der junge Kafka. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1984, S. 213–241, hier S. 240.   zurück

2 Vgl. Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. In: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß u.
Peter Staengle. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld / Roter Stern 1995 ff. (Einleitungsband).   zurück

3 Vgl. Martin Stingelin: "Unser Schreibwerkzeug arbeitet mit an unseren Gedanken". Die poetologische Reflexion der Schreibwerkzeuge bei Georg Christoph Lichtenberg und Friedrich Nietzsche. In: Lichtenberg-Jahrbuch (1999), Saarbrücken 2000, S. 81–98. Vgl. zudem: Vilém Flusser: Die Geste des Schreibens. In: Ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf 1991,
S. 39–49.   zurück

4 Die Autorin rezipiert im diesbezüglichen Teil ihrer Arbeit die Schriften von Roland Barthes nur lückenhaft, wenn sie festhält: "An der materiellen Dimension dieses Prozesses, d.h. an den Spuren des Schreibens auf dem Papier, zeigt Barthes kein Interesse." (S. 53) Zumindest wäre zu erwähnen, daß Roland Barthes 1973 in "Variations sur l'écriture" immerhin rund fünfzig Seiten darauf verwendet, den Begriff des Schreibens nicht mehr nur "metaphorisch" verstehen zu wollen und sich in ausführlicher Insistenz für das Interesse am "muskulären" Akt des Schreibens ausspricht; vgl. Roland Barthes: Variations sur l'écriture (1973). In: Ders.: Œuvres complètes. Tome II: 1966–1973. Edition établie et présentée par Eric Marty. Paris: Seuil 1994, S. 1535–1574. – Vgl hierzu auch Martin Stingelin (Anm. 3).   zurück

5 Vgl. S. 48 ff. – Die unglückliche Ausdrucksweise und Begriffsbildung lassen erkennen, daß die Kritik der "généticiens" an der Autorität des Textes selbst noch ganz im Zeichen dieser Autorität steht und diese somit bestärkt: Ein "Text": kann nicht in "Bewegung" geraten, wo noch gar kein Text existiert. Eine begriffliche Weiterführung in der Reflexion zum Begriff des Schreibens – die den herkömmlichen Text-Begriff auch nicht ex negativo in Anspruch zu nehmen nötig hat – hätte die Autorin finden können bei: Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht und Ludwig K. Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1991, S. 759–772.   zurück

6 Hier gewinnt die Autorin wegleitende Impulse bei Gerhard Neumann: Der verschleppte Prozeß. Literarisches Schaffen zwischen Schreibstrom und Werkidol. In: Poetica 14 (1982), S. 92–112, hier S. 100.   zurück

7 Ebd.   zurück

8 So scheinen mir einige Stellen in der Studie nicht nur von einer Unsicherheit in der Anwendung der Begriffe zu zeugen, sondern darüberhinaus auf diesem Wege zu Aussagen zu gelangen, die die von Kafka selbst artikulierte Zweifelhaftigkeit seiner Autorität geradezu wiederherzustellen versuchen und die man deswegen nicht teilen möchte: "Die Schreib-Experimente in den Tagebüchern halten sich nicht an feste Werkgrenzen, sondern erzeugen vielmehr einen potentiell unabschließbaren Schreibstrom, den das schreibende Subjekt hervorbringt und dadurch zugleich sich selbst als Autor konstituiert und reflektiert." (S. 21)   zurück

9 Hier wäre etwas mehr Ordnung im unbedachten Durcheinander der Begriffe "Selbstreflexion" (S. 21), "Autoreflexion" (S. 32), "Selbstbezüglichkeit" (S. 251), "Selbstkommentar" (ebd.), "Selbstreflexivität" (S. 250) wünschenswert gewesen. Immerhin handelt es sich in dieser Studie um das zentrale Signum von Kafkas Schreiben, und man fragt sich, ob diese Begriffe – obwohl sie wesentlich an der Autorität des Schreibenden kratzen – nicht doch der letztlich ungebrochenen Reflexionskraft eines "schreibenden Subjekts" – sei dies nun der reale Autor oder jener aus sich selbst sich nährende "Schreibstrom": – verpflichtet sind.   zurück

10 Hier gälte es die Betonung der "Materialität" begrifflich zu spezifizieren. Es gehört noch zu den Aufgaben der Schreibprozeßforschung, den wie auch immer konturierten Begriff der "Materialität der Schrift" unter Einbezug des empirischen Materials zu reformulieren, ohne in einen unbedarften Positivismus zu verfallen.   zurück

11 Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente I. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt / M..: S. Fischer 1993. In: Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley u. Jost Schillemeit. Frankfurt / M.: S. Fischer 1982 ff.   zurück

12 Es ist aus der Argumentationslogik der Studie unverständlich, daß sogar Der Process immer noch nach der dokumentarisch unzuverlässigen, orthographisch normierenden Kritischen Ausgabe zitiert wird: Das Problembewußtsein der Autorin ließe erwarten, daß sie einen Satz, den Kafka so nie geschrieben hat, einfach nicht wiederzugeben braucht: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben […]" ("Jemand musste Josef K. verläumdet haben […]") (vgl. Franz Kafka: Der Process. Hg. von Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel, Frankfurt / M.: Stroemfeld / Roter Stern 1997). Der Vorbehalt, daß eine Faksimile-Ausgabe nicht zitierbar sei (vgl. S. 292), wird angesichts neuerer Studien, die sich mit Kafkas Schriftbild beschäftigen, eines Besseren belehrt: Vgl. Jörg Döring: New Philology / Textkritik (Neuere deutsche Literatur). In: Claudia Benthien und Werner Röcke (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 196–214, oder Gerhard Neumann: Schreiben und Edieren. In: Heinrich Bosse und Ursula Renner (Hg.): Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg im Breisgau: Rombach 1999, S. 401–426.   zurück

13 Vgl. hierzu: Wolfram Groddeck: Schrift und Textkritik. Vorläufige Überlegungen zu einem Editionsproblem in Robert Walsers Mikrogrammen am Modell der "Bleistiftskizze". In: Modern Language Notes 177 / 3 (2002), S. 544–559, hier
S. 549.   zurück