Gnam über Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus

IASLonline


Andrea Gnam

Stahlskelett und Aphorismus.
Der Eisenbau als Vorbild für
Benjamins Montagekunst?

Kurzrezension zu
  • Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins (suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 1428) Frankfurt / M.: Suhrkamp 1999. 343 S. Kart. € 12,50.
    ISBN 3-518-29028-2.


Zwei große Linien versucht Schöttkers Studie in Benjamins Werk nachzuzeichnen und miteinander zu vereinen: das glänzende und Bruchstück gebliebene Aperçu, das in Essays wie Rezensionen, literarischem Text wie philosophischem Traktat Benjamins aufscheint, und den strengen, konstruktiven Geist, der, wenn schon kein System, so doch ein haltbares Gerüst für die fragilen Einzelteile aufzubieten weiß.

Die große These, die hinter dem Vorhaben steht, geht davon aus, dass Benjamins zu Lebzeiten verstreut und oft aufgrund unterschiedlicher Rücksichtnahmen entstellt publiziertes Werk in der Rezeption deshalb seine erstaunliche Wirkmächtigkeit erfahren hat, weil es, wie Benjamin selbst ab den dreißiger Jahren schreibt, >Trümmerstätte< geblieben ist. Den Reiz dieser >Trümmer< mit der Strahlkraft zu begründen, die der tradierten Form des Aphorismus zu eigen ist, bildet zunächst einen interessanten Denkansatz. Auch wenn dies nicht in Schöttkers Absicht liegen mag, lässt er doch ein Stück weit die gängige Zitierpraxis in einem günstigeren Licht erscheinen, die sich aus Benjamins Werk fröhlich bedient, ohne auf die Stringenz des argumentativen Zusammenhangs in seinen Texten zu achten. Benjamin verwendet pointierte Formulierungen und Bilder selbst oft mehrfach in unterschiedlichen Kontexten — nicht unbedingt zur Freude des Lesers. Auch hier würde die Lesart als Aphorismus milder stimmen. (S.40) Allerdings wäre näher zu fragen, wann dann ein Aphorismus vorliegen soll und wann nicht, will man nicht das ganze Werk als eine Aneinanderreihung von Aphorismen verstehen, oder als Entscheidungskriterium das Verhalten des Lesers wählen, der den "intellektuellen Reiz" selbst in "literarische Produktivität" umwandelt. (S.51)

Anregung oder verdeckte Aneignung?

Schöttker rekonstruiert oft sehr erhellend die Produktionsbedingungen der Texte Benjamins, wobei die äußerst problematischen Eingriffe in die Werkkonzeption von Horkheimer und Adorno zum Gegenstand minutiöser Darlegungen werden. Allerdings wird bei aller berechtigten Kritik an Adornos Verhalten die immer schwierig zu entscheidende Frage von Anregung oder "verdeckter Aneignung der Schriften" Benjamins durch Adorno in dessen eigenen Publikationen recht parteiisch behandelt. (S.85) Handelt es sich doch um die Übernahme von Ideen, wie diejenige der Verbindung von Kultur und Barbarei in der Dialektik der Aufklärung, die eben auch zeitspezifischen Charakter haben. Benjamin selbst habe, wie Schöttker bemerkt, ohne ihn deshalb der "verschwiegenen Aneignung" zu zeihen, einen Gedanken Ernst Bertrams für die Konzeption des dialektischen Bildes in Über den Begriff der Geschichte seinem Denken anverwandelt. (S.273) Der zuvor stark gemachte Begriff des wirkmächtigen Aphorismus, aus dem die Leser, wie Schöttker Lichtenberg zitiert, en passant ganze Bücher machen könnten, (S.51) oder auch unschärfer der Begriff des Fragments werden in dieser mit doppeltem Maßstab arbeitenden Argumentation sozusagen von innen aufgebrochen.

Hilfreich für die weitere Arbeit mit Benjamins Texten ist die Rekonstruktion der Zugangswege, die Benjamin zu den künstlerischen Strömungen seiner Zeit unterhielt: Erste Berührungen mit Gedanken des Surrealismus, Dadaismus, Konstruktivismus, Futurismus werden getrennt verfolgt und sorgfältig dargelegt. Einleuchtend ist der Hinweis auf den Aktualitätsanspruch der Einbahnstraße, die Schöttker auch aus Titel und Zwischentiteln herleitet. Einbahnstraße, aber auch "Tankstelle" (so die Überschrift des ersten Texts) sind in den zwanziger Jahren beides neue Einrichtungen im Verkehrswesen. Bedenkenswert ist auch der Hinweis auf ein Buch von Henri Guilac und Pierre MacOrlan (Prochainement ouverture ... de 62 boutiques littéraires. Paris 1925). Benjamin hatte den Bildband rezensiert. Ähnlich wie die Einbahnstraße, die als visuelles Gerüst die Ladengeschäfte und Schilder einer Straße verwendet — stellen die Zeichnungen des Buches Dichter als Besitzer imaginärer Kaufläden vor. Diese sind mit Gegenständen bestückt, welche einen Bezug zu ihrem literarischen Werk aufweisen. (S.187)

Skelettkonstruktion als konstruktives Prinzip

Das zweite Standbein der Arbeit, das Aufzeigen des konstruktiven Prinzips benötigt einige Zeit um seine Stringenz zu entfalten, gibt dann aber einige weiterführende Impulse.

Schöttker zeigt Benjamins konstruktivistisches Interesse im Zusammenhang mit dem Topos des Künstlers als Ingenieur, den — vor allem — die künstlerische Avantgarde gepflegt hat. So wird aus dem Passagen-Werk eine "Skelettkonstruktion", für die der Eisenbau das Vorbild abgibt.

Denn dem Eisenskelett entsprechen die aphoristischen Fragmente, in denen Benjamin seine Theorie skizziert hat. Die Zitate aus Werken des 19. Jahrhunderts sind diesen theoretischen Überlegungen zugeordnet, so daß die Dokumente lebendig werden und einen Blick auf die Vergangenheit freigeben. Damit steht das Passagen-Werk auch formal in der Nachfolge der Einbahnstraße. Während hier eine Straße, wie oben gezeigt wurde, das Strukturmodell für die Anordnung der Texte bildete, sollte im Passagen-Werk die Montage-Technik des Eisenbaus das Vorbild sein, um den Ursprung der Moderne im 19. Jahrhundert anschaulich werden zu lassen. (S.215f.)

Anders als in der Einbahnstraße, in der Benjamin in der typographisch konzipierten Aufarbeitung der Schilder und Aufschriften Anregungen aus dem architektonischen Raum zitiert, ist es allerdings problematisch, das technische Verfahren einer Eisenkonstruktion tatsächlich als Vorbild für die Anlage des Passagen-Werkes geltend zu machen. Inwieweit können die Materialkenntnis, aber auch das Selbstbewusstsein der Ingenieure, welche die mechanischen Eigenschaften von Stahlkonstruktionen berechnen, als pure Montagetechnik soweit abstrahiert werden, dass sie zur Beschreibung eines narrativen Verfahrens auf einen Text übertragbar sind? Benjamin ist zudem mit seinem >Material<, den Zitaten, nicht eben philologisch sorgsam umgegangen. Der Bezug auf die literarische Zitattechnik zeitgenössischer literarischer Montagetexte, die von Benjamin auf ein soziologisch-historisches Werk übertragen wird, wäre vielleicht weniger plakativ, aber doch einleuchtender gewesen. Schöttker hat Benjamins Rezeption dieser Texte ja auch ein aufschlussreiches eigenes Kapitel gewidmet.

Textingenieur und Stratege der postumen Rezeption

Deutlich allerdings wird — und hier liegt eine Stärke des Ansatzes — die Verbindung von konstruktivistischem Impuls und dem intensiven Interesse für architektonische Gestaltung von Räumen, das Benjamins Schriften auszeichnet. Auch die tragende Rolle der Erinnerung in Benjamins Werk erhält vor dem Paradigma des konstruktiven Prinzips eine neue Tönung. >Erfahrungsarmut< und die daraus resultierende Einfachheit, in der die Konturen eines Gegenstandes deutlicher sichtbar werden als in einem Konglomerat von Eindrücken, führen nach Benjamins Lesart des Konstruktivismus zu gesellschaftlicher Erkenntnis. Ebenso verhält es sich mit der Erinnerung: Sie verfährt konstruktiv, indem sie nur einige vormals für unwesentlich, im Moment der Aktualisierung aber für charakteristisch befundene Begebenheiten vor Augen führt. Sie muss aber auch, um zu dieser Einfachheit zu gelangen, destruktiv sein: Sie lässt weg, was nichts zur Sache tut.

Vollkommen unberücksichtigt bleibt eine andere Seite Benjamins: seine >esoterischen< Interessen und der Drogenkonsum. Der Rauschgoldengel, der sozusagen die gerne vergessene Seite von Benjamin verkörpert, verschwindet so völlig hinter dem kalkulierenden Textingenieur. Dass Benjamin aus seiner verzweifelten persönlichen Lage "Strategien für die Überlieferung seiner Arbeiten" entwickelt habe, die so "wirkungsvoll waren, dass sie ihn und sein Werk berühmt gemacht haben" und "nicht Zufall, sondern Kalkül [...] also Grundlage der postumen Rezeption Benjamins" seien, (S.93) überhöht allerdings Benjamins Arbeitsweise unnötig.

Die Studie ist dank einer Gliederung, die themenorientiert arbeitet und gegebenenfalls auch einzelne Problemfelder wiederholt aufgreift, als Arbeitsmittel und Auskunftsgeber für die Klärung von Detailfragen sehr hilfreich. Angenehm ist die >benjaminferne<, eigenständige Schreibweise, problematisch zuweilen die Parteilichkeit für die Person Benjamin und die nicht immer präzise geleistete Begriffsarbeit.


PD Dr. Andrea Gnam
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für deutsche Literatur
Unter den Linden 6
D-10099 Berlin

Ins Netz gestellt am 05.03.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Uwe Steiner. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]