Kunst und Körper
Annette Graczyk über
Birgit Jooss: Lebende Bilder. Körperliche Nachahmung von Kunstwerken
in der Goethezeit. Berlin: Reimer 1999. 448 S. Kart. DM 118,-.
Birgit Jooss führt ihren Gegenstand mit der Definition aus einem Conservations-
Lexicon von 1818 ein: "Tableaux" - im heutigen Sinne genauer: Tableaux
vivants oder auch Lebende Bilder - "nennt man die plastischen Darstellungen von
Gemählden durch lebende Personen, welche jetzt theils als künstlerische
Uebungen, theils als sinnreiche und reizende Festspiele beliebt sind" (Jooss, S. 13). Die
Definition stammt bereits aus der Blütezeit des Lebenden Bildes im deutschsprachigen
Raum.
Die Verfasserin erweitert diese Definition auch auf das Nachstellen von Skulpturen und
grenzt das Lebende Bild von der "Attitüde" ab. Während das Tableau
sich in der Regel als ein stillgestelltes Gruppenbild verwirklicht, stellt die Attitüde, die
ursprünglich aus der Nachstellung antiker Plastiken hervorgegangen ist, mehrere
Einzelposen dar, die sie zu einer dynamischen Folge von Ausdrucksgesten verbinden kann.
Seltener sind nachgestellte Einfigurenbilder, die als eingefrorener Zustand ebenfalls dem
Lebenden Bild zuzurechnen sind.
Frankreich der 1760er Jahre: die Geburt der Lebenden Bilder
Lebende Bilder finden wir, wie Jooss im einzelnen zeigt, seit den 1760er Jahre in
Frankreich, als Binnenelemente von Theaterstücken auf der Pariser Bühne, als
Balletteinlage unter der Mitwirkung adliger Dilettanten am Versailler Königshof und als
Gesellschaftsspiel in adligen Zirkeln auf dem Land. Die Erzieherin Mme de Genlis setzte sie
wahrscheinlich in den 1780er Jahren als spielerisches Mittel in ihrem Unterricht ein. Um die
Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sind Lebende Bilder dann als spielerische
Unterhaltungsform in gehobenen Zirkeln des Adels und nunmehr auch des Bürgertums
mehrfach in Europas dokumentiert. Im 19. Jahrhundert sind sie beispielsweise ein Bestandteil
der Feste, die Goethe am Weimarer Hof arrangiert. Wir finden sie ferner im opulenten
Unterhaltungsprogramm des Wiener Kongresses vertreten, wo Metternich persönlich die
Oberleitung der Tableaux übernimmt. Jooss spricht dem Wiener Kongreß eine
prominente Funktion in der Verbreitung dieser Mode zu. Zur gleichen Zeit
verselbständigt sich das Lebende Bild und wird als Darbietungskunst professioneller
Schauspieler seit 1811/12 auf öffentlichen Bühnen in Berlin und Wien
aufgeführt. Ende der 1820 Jahre sind Aufführungen in den verschiedensten
Städten, wie Dresden, Bremen, Mainz, Leipzig, aber auch Breslau und Florenz belegt.
Seit den 1830er Jahren werden Lebende Bilder dann auch in Nordamerika
aufgeführt.
Viele der Befunde hatten bereits 1967 und 1968 Kirsten Gram
Holmström und August Langen in ihren Pionierarbeiten zusammengetragen, wobei sie
sich gleichfalls um eine Abgrenzung des Tableau vivant von den verwandten Erscheinungen
wie der Attitüde und des Monodrama bemühten.1 Von
dieser Forschung geht auch Jooss aus. Zusätzlich kann sie die historischen Weiterungen
und theoretischen Differenzierungen aufgreifen, die die kunstgeschichtliche, theaterwissen-
schaftliche und germanistische Forschung zwischenzeitlich zu dieser gleichzeitig mehrere
Disziplinen betreffenden Zwischenform von Bildender Kunst, Theater und Fest erarbeitet hat.
Jooss hat den Anspruch, eine erste "umfassende" Arbeit zum Thema vorzulegen
(S. 18).
Gründliches Quellenstudium
Beachtlich ist ihre Studie vor allem in dem zeitlichen Kernbereich, den sie auch in ihrem
Titel ausweist. Hier liegt ein gründliches eigenes Quellenstudium vor, das zu diesem
Sujet besonders schwierig ist. Weil die Lebenden Bilder und ihre verwandten Erscheinungen
einer ephemeren Kultur- und Kunstform angehören, wissen wir von ihnen vielfach nur
aus Memoiren und - insoweit sie über gesellschaftliche und kulturelle Ereignisse im In-
und Ausland berichtet - aus der Presse. Eine weitere, aber in ihrem
Status problematische Quelle ist die fiktionale Literatur.2 Nur
ausnahmsweise gibt es bildliche und/oder schriftliche Quellen aus dem
Aufführungszusammenhang.
Jooss hat insgesamt ein umfangreiches Material ausgewertet. Als Ergebnis ist ein
chronologisch geordneter "Katalog" aller von ihr erschlossenen Tableau-
Aufführungen hervorgegangen, der im Anhang der Arbeit abgedruckt ist. Ort,
Anlaß, Veranstalter, Rahmenprogramm, Darsteller, die nachgestellten Bilder und die
Belegstellen der Forschungsliteratur werden, soweit vorhanden, nach einem durchgehenden
Schema zusammen mit den dazugehörigen Schriftquellen präsentiert. Insgesamt
kann Jooss für die Zeit zwischen 1760 und 1819 knapp 70 Tableaux vivants belegen. Die
meisten Aufführungen konzentrieren sich in Wien (über 20), gefolgt von Berlin,
Paris und Weimar (auf die um und unter 10 entfallen).
Als weiteren Anhang dokumentiert Jooss zwei farbig und knapp 70 schwarz-weiß
wiedergegebene Bildquellen zum Lebenden Bild vom 15. Jh. bis zum 20. Jahrhundert.
Besonders aufschlußreich sind die Gegenüberstellungen von
Originalgemälden mit den wenigen vorhandenen Skizzen zu Weimarer Tableau-
Aufführungen (Abb. 33 u. 43ff.) sowie die zeichnerische Wiedergabe von
Attitüden von Emma Hamilton und Henriette Hendel-Schütz (Abb. 14-16).
Lebende Bilder als Geselligkeits-, Bildungs- und Kunstphänomen
Im Hauptteil wertet die Verfasserin das von ihr erschlossene Quellenmaterial unter
verschiedenen Gesichtspunkten gründlich aus, so daß die Lebenden Bilder - soweit
möglich - umfassend als Geselligkeits-, Bildungs- und Kunstphänomen sichtbar
werden und die medialen Anteile von bildender Kunst, theatralischer Darbietung und Spiel von
verschiedenen inhaltlichen und technischen Seiten erschlossen werden. Dabei zeichnet die
Verfasserin ein behutsamer Umgang mit den Quellen aus, indem sie da Fragen
offenläßt, wo das Material nicht genügend aussagekräftig ist oder sich
gegen eine Verallgemeinerung sperrt. Im Kernbereich gliedert sich ihre Arbeit in einen
historischen Überblick, eine vertiefende Charakteristik, die vom
"außerbildlichen Bezugsfeld" über gesellschaftlich-geschichtliche
Funktionen und mediale Besonderheiten zu den "Bildrealitären innerhalb der
Tableaux" fortschreitet, und einen "Deutungsversuch", der sich allerdings
nicht genügend von der Charakteristik absetzt.
Im einzelnen werden auch die Funktionsverschiebungen angesprochen, denen das Tableau
vivant im Wechsel vom Binnenelement in einem Drama zum Geselligkeitsspiel und zur
verselbständigten Bühnenkunst unterliegt. Dabei wird auch der Zwischenstatus
des Lebenden Bildes zwischen Stillstellung und Verlebendigung bedacht. Die Stärke der
Untersuchung liegt insgesamt aber nicht auf der theoretischen Ebene - dazu werden die
Besonderheiten des medialen Wechsels mit ihren Raum und Zeitverhältnissen nicht
genügend vertieft. Die Leistung liegt eher auf der Ebene einer möglichst
umfassenden Beschreibung der Phänomene.
Schwächen der Untersuchung
Frau Jooss ist sich bewußt, daß sie nicht gleichzeitig eine Übersicht und
eine vertiefende Einzeldarstellung samt ihrer kulturgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen
Analyse geben kann. Dennoch entsteht zum Teil der Eindruck einer inkonsequenten
Gewichtung und Konturierung des Themas. Es liegt teilweise am Gegenstand, teilweise an der
unklaren Repräsentativität des ausgewerteten Materials, teilweise am Zugriff,
daß die Arbeit von Jooss nicht zu einer in sich schlüssigen Begrenzung und
Perspektivierung findet.
Die Unklarheit beginnt bereits mit der Titelgebung. Einerseits verortet Jooss den Ursprung
der Lebenden Bilder in Frankreich und erklärt ihre punktuelle Verbreitung in ganz
Europa durch die adligen Revolutionsemigranten, die diese Praxis an die verschiedenen
Höfe und Salons ihrer Gastgeber gebracht haben. Andererseits schließt sie mit dem
Begriff der "Goethezeit" an eine germanistische Forschungstradition an, die das
Phänomen als eine typische Erscheinung der deutschen Kultur gedeutet hat. Jooss
übernimmt den Begriff und suggeriert mit dem beherrschenden Goethe einen
einheitlichen Stilwillen in nationalen Grenzen. Das Lebende Bild ist aber auch zu Lebzeiten von
Goethe weder eine nationale noch einheitliche Erscheinung, wie das von Jooss ausgebreitete
Material belegt. Die Lebenden Bilder passen sich sowohl dem klassizistischen als auch dem
romantischen Kunstgeschmack an. Einerseits läßt sich ein verwissenschaftlichtes
inventarisierendes Interesse beobachten, das im Lebenden Bild die Künstler, Stile und
Schulen vorführen will. Andererseits wirken äußere Anlässe, etwa der
Geburtstag einer hochgestellten Person, zu deren Ehren ein Fest mit Lebenden Bildern
veranstaltet wird, auf die Auswahl der Themen für ein Lebendes Bild ein. Ein weiterer
Kontext ist die kirchlich-religiöse Praxis, in die das Lebende Bild eingebunden wird.
Die Lebenden Bilder halten sich nur wenig an die nationalen und stilistischen
Grenzziehungen. Frau Jooss wählt daher ein weiteres Kriterium der Eingrenzung, das
ihrer Ausrichtung als Kunsthistorikerin besonders entgegenkommt: die Lebenden Bilder als
Nachstellungen von vorhandenen Kunstwerken. So sehr auch diese, von der Forschung
vorbereitete Profilierung auf den ersten Blick überzeugen mag; sie reduziert die reizvolle
Zwischenstellung des Lebenden Bildes auf ein bipolares Schema. Die Etablierung der
Lebenden Bilder als Kunstform des Nachstellens von Kunstwerken isoliert das Phänomen
wieder aus dem weiteren Kulturzusammenhang, in dem es bereits August Langen verortet
hatte. Die kunstwissenschaftliche Sicht auf Lebende Bilder als Verlebendigung von
Bildinhalten reduziert das Lebende Bild zudem auf ein sekundäres Medium der
Verbreitung von Kunstwerken, auf die Wirkung von Künstlern und auf die Verbreitung
von Stilen und von Kunstgeschmack. Die übergeordnete Fragestellung, die das Lebende
Bild als Ordnungsmuster ästhetisch wie anthropologisch und soziologisch zu
untersuchen hätte, muß Jooss entgehen.
Wie repräsentativ sind die Ergebnisse der Studie?
Weil sie den Gegenstand trotz der im Titel ausgewiesenen "Goethezeit" auch
im europäischen Zusammenhang sieht, aber hierzu aus Gründen der
Arbeitsökonomie keine differenzierte Quellenforschung betreiben kann, entsteht auch die
Frage, wie repräsentativ die Ergebnisse ihrer Studie sind. Nach ihrer Darstellung
muß es so scheinen, daß die Tradition in Frankreich nach 1800 abbricht,
während sie sich in den kulturellen Zentren Berlin, Wien und Weimar konzentriert und
dann in die Provinzstädte sowie andere Städte Europas ausstrahlt, bevor sie
Nordamerika erreicht. Aber wandert das Tableau vivant wirklich mit den Adligen aus
Frankreich aus, wo gleichzeitig die Festkultur der Revolution, wie Jooss selbst an anderer
Stelle zeigt, das Tableau vivant integriert? Vielmehr scheint es so zu sein, daß je nach
dem gesellschaftlichen Zusammenhang jeweils spezifische Traditionszusammenhänge des
Lebenden Bildes aufgegriffen werden, wobei es durchaus gleichzeitig verschiedene Formen
nebeneinander geben kann.
Im Verzeichnis von Jooss erscheinen beispielsweise London und Rom nicht als Orte, an
denen das Lebende Bild gepflegt worden ist. Aus Goethes Beschreibung des Römischen
Karnevals wissen wir aber, daß die gehobene adlige Gesellschaft gern in der Maske
antiker Standbilder auftrat. Möglicherweise ist noch zu wenig von den jeweiligen
nationalen Kulturen bekannt, in denen Lebende Bilder lebendig waren oder wiederbelebt
wurden. Vermutlich liegt es an der Beschränkung auf deutsche Periodika, daß in
der Arbeit nur ein eingeschränktes Bild von dem Phänomen in anderen
Ländern entsteht.
Auseinandersetzung mit sozial- und politikgeschichtlichen
Hintergründen fehlt
Eine weitere Unschärfe der Arbeit besteht darin, daß Jooss sich im ganzen
nicht auf die Kernzone der ohnehin schon problematischen "Goethezeit"
beschränken mag. Ihr ist bewußt, daß das Lebende Bild ein weitergespanntes
Phänomen ist, das bis in die Antike zurückreicht und auch noch in unserer
Gegenwart lebendig ist. In einem einleitenden, kursorischen historischen Überblick weist
sie darauf hin, daß die vielen historischen Spielarten der Lebenden Bilder mit jeweils ganz
anderen Aufführungszusammenhängen, Öffentlichkeiten,
Verwendungszwecken und Bildstrategien verbunden waren. In einem kursorischen Ausblick
streift sie schließlich, daß das Lebende Bild in der Gegenwart in einem ganz neuen
Umfeld der technischen Medien steht. Einleitung und Ausblick können jedoch nur
kontrastive Folien zur Praxis des Lebenden Bildes im späten 18. und frühen 19.
Jahrhundert abgeben. Eine intensivere Auseinandersetzung mit den Lebenden Bildern etwa in
der Vereinskultur des 19. Jahrhunderts hätte der Verfasserin einen profilierteren
sozialgeschichtlichen und politikgeschichtlichen Zugriff abgenötigt.
In diesem weitgespannten Rahmen sind noch viele Einzelforschungen nötig, damit
eine erste "umfassende" Arbeit verfaßt werden kann. Die Studie von Frau
Jooss konnte das noch nicht sein; doch ist sie als ein wesentlicher und materialreicher Beitrag
zum Thema zu verstehen.
Dr. Annette Graczyk
Giesebrechtstr. 6
D-10629 Berlin
Ins Netz gestellt am 03.08.2000.
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