- Etienne François / Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. 3 Bde.
München: C.H. Beck 2000 / 2001. 2250 S. Geb. € 104,30.
ISBN 3-406-47225-7.
"Deutsche Erinnerungsorte? Das wäre sicherlich ein
Mißerfolg." So urteilte 1993 ein deutscher
Neuzeithistoriker hinsichtlich der Übertragbarkeit des zehn Jahre zuvor von
Pierre Nora in Frankreich geprägten Begriffs der lieux de mémoire auf
deutsche Verhältnisse. 1 Daß sich diese
Vorhersage indes nicht bewahrheitet hat, belegen allein schon die
Verkaufszahlen des vorliegenden dreibändigen Werkes über Deutsche
Erinnerungsorte, das rechtzeitig zum Weihnachtsgeschäft im vergangenen
Jahr abgeschlossen wurde und dessen erster Band mittlerweile bereits in
dritter, durchgesehener Auflage vorliegt. Auch Gerd Krumeich, von dem die
oben zitierte skeptische Einschätzung stammt, scheint sich eines Besseren
belehrt haben zu lassen, hat er doch für das opulente Werk einen äußerst
lesenswerten Beitrag über den "Mythos" der Schlacht bei Langemarck
verfaßt, demzufolge am 11. November 1914, wie es im Bericht der Obersten
Heeresleitung hieß, "junge Regimenter unter dem Gesange >Deutschland,
Deutschland über alles<" an der Westfront "die erste Linie der
feindlichen Stellungen" einnahmen (Bd. III, S. 292–309).
Vom Ereignis zum Gedächtnis
Aber ist "Langemarck", so fragt Krumeich zu Beginn
seines Essays zu Recht, überhaupt ein "deutscher Erinnerungsort"?
Die Herausgeber umschreiben den Begriff in Anlehnung an Pierre Nora mit
folgenden Worten:
[...] Erinnerungsorte können ebenso
materieller wie immaterieller Natur sein, zu ihnen gehören etwa reale wie
mythische Gestalten und Ereignisse, Gebäude und Denkmäler, Institutionen und
Begriffe, Bücher und Kunstwerke – im heutigen Sprachgebrauch ließe sich
von "Ikonen" sprechen. Erinnerungsorte sind sie nicht dank ihrer
materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion. Es
handelt sich um langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte
kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle
und politische Üblichkeiten eingebunden sind und die sich in dem Maße
verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und
Übertragung verändert. (Bd. 1, S. 17f.)
"Erinnerungsorte" sind somit die Topoi des
kollektiven Gedächtnisses, die Gemeinplätze des Geschichtsbewußtseins, die
jeder schon irgendwann einmal gehört hat und mit einem mehr oder weniger
diffusen Sinn verbindet: "Neuschwanstein",
"Auslandsdeutsche", "Türken vor Wien". In der
historisch-politischen Sprache werden solche "Erinnerungsorte"
immer dann gern aufgerufen, wenn es darum geht, auf dem Weg historischer
Vergewisserung Identität, Abgrenzung und Gemeinschaft zu erzeugen: "Der
deutsche Wald", "Karl Marx", "der Schrebergarten",
um nur drei weitere Beispiele aus dem Inhaltsverzeichnis zu nennen.
Der eigentliche "Erinnerungsort" umfaßt dabei
gewissermaßen den semantischen Raum, der zwischen dem historischen Ereignis
und seiner heutigen Erinnerung liegt und in den sich die Geschichte seiner
Deutung eingeschrieben hat. Auch die Schlacht bei Langemarck ist in diesem
Sinn ein deutscher "Erinnerungsort" par excellence, selbst wenn der
Topoi von den >jungen Regimentern< mittlerweile seine suggestive Kraft
verloren hat: "Viel lebendiger als das Ereignis von 1914 selber ist
heute das Bewußtsein, daß hier ein >falscher Mythos< aufgebaut worden
war, eine problematische Erinnerung gepflegt wurde – eine monströse und
irgendwie gefährlich-verführerische Ideologie geformt wurde" (Bd. III,
S. 292).
Die "geteilte" Erinnerung
Daß solche "Erinnerungsorte" eine Geschichte haben,
in der sie oftmals ihre Bedeutung ändern, zwischenzeitlich vergessen und
eines Tages wieder aktiviert werden, stellen die einhunderteinundzwanzig
Essays, die in den drei Bänden gesammelt sind, eindrucksvoll unter Beweis.
Bei der thematischen Auswahl haben sich die Herausgeber im wesentlichen von
drei Gesichtspunkten leiten lassen: So wurde erstens der Schwerpunkt auf das
19. und 20. Jahrhundert gelegt, da sich erst im Zuge des deutschen "
nation-building", so die Begründung der beiden Herausgeber, ein
deutsches "memory-building" vollzogen habe (Bd. I, S. 19).
Gleichwohl wollen François und Schulze ihr Projekt nicht als
Versuch einer Kanonisierung deutscher Geschichtskultur verstanden wissen.
Deshalb legen sie zweitens – und in deutlicher Abgrenzung von der stark
nationalgeschichtlich geprägten Perspektive Noras – besonderes Gewicht
auf europäisch "geteilte Erinnerungsorte" – "solche
also, die für Deutschland wie für benachbarte Nationen gleichermaßen
bedeutsam sind: das Straßburger Münster, Versailles, Tannenberg / Grunwald,
Rom, Karl der Große" (ebd.). Wie sehr das Projekt der Deutschen
Erinnerungsorte den im Titel anklingenden nationalen Horizont bereits
hinter sich gelassen hat, zeigt neben den beruflichen Karrieren der beiden
Herausgeber, von denen einer zur Zeit das Deutsche Historische Institut in
London leitet, der andere hingegen das Frankreich-Zentrum an der Technischen
Universität Berlin, die bewußte Einbindung von Wissenschaftlern aus Polen,
Frankreich, Tschechien, Israel, Großbritannien und den USA: Jeder fünfte
Autor ist nicht-deutscher Nationalität.
Als dritten Gesichtspunkt ihrer Auswahl nennen die
Herausgeber die Absicht, ein möglichst vielfältiges, plurales Bild der
deutschen Erinnerungskultur zu zeichnen, ohne diese auf ein vorgefertigtes
Konzept zu reduzieren:
Bewußt haben wir daher jede Form der
Hierarchie zwischen "bedeutenden" und "trivialen" Themen
vermieden – tatsächlich kann die kulturelle oder politische Wirksamkeit
eines "trivialen" Erinnerungsortes (etwa die Bundesliga, der
Schrebergarten oder der Schlager) die eines "bedeutenden"
(beispielsweise Idealismus, Goethe, Beethovens Neunte) übertreffen oder
überdauern. Es gibt die lebendigen Orte, die sofort eine Fülle präziser und
affektvoller Assoziationen hervorrufen – etwa die Berliner Mauer, der
Sozialstaat, die Staatssymbole, der Karneval –, neben den
verschütteten, die früheren Generationen präsent waren, mit denen aber
heutzutage kaum noch jemand etwas verbindet – Canossa, Königin Luise,
Tannenberg ... Es gibt erwartete Erinnerungsorte, die gewissermaßen auf der
Hand liegen, wie das Brandenburger Tor, die D-Mark oder der Duden, aber auch
unerwartete, wie Vornamen, Wyhl oder den Feierabend. (Bd. 1, S. 19f.)
Genau einhunderteinundzwanzig solcher
"Erinnerungsorte" finden in den drei Bänden ihre Bearbeitung. Die
thematische Breite reicht von "Faust" bis zum
"Feierabend", vom "Bolschewik" bis zur
"Bundesliga" und vom "Westfälischen Frieden" bis zum
"Weißwurstäquator". Selbst an den "Struwwelpeter", den
"Volkswagen" und den deutschen "Schlager" haben die
Herausgeber gedacht. Warum allerdings ein Buch wie Felix Dahns "Ein
Kampf um Rom" oder die "Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft" (die
heutige Max-Planck-Gesellschaft) Aufnahme gefunden haben, bleibt unklar. Zum
anderen hätte sich der Leser gewünscht, nicht nur etwas über den
"Bamberger Reiter und Uta von Naumburg" zu erfahren, sondern auch
über den >Gastarbeiter< oder die >Trümmerfrau<, über den
>deutschen Herbst< oder das >deutsche Reinheitsgebot<. Die beiden
Herausgeber sind sich der Grenzen ihrer Sammlung dabei selbst bewußt und
räumen bereitwillig ein, daß ihre Auswahl die "weitgehend
bildungsbürgerliche, westliche und auch berlinische Prägung des
Unternehmens" und seiner Initiatoren widerspiegle (Bd. I, S. 22).
Dennoch bleibt festzuhalten, daß François und Schulze mit
ihren drei Bänden ein umfassendes Panorama der deutschen
Erinnerungslandschaft vorgelegt haben, das in der Breite der Perspektive
einen überzeugenden Querschnitt der deutschen Geschichtskultur bietet.
Zwischen Ironie und Respekt
An jedem einzelnen dieser zahlreichen
"Erinnerungsorte" nehmen die über hundert Mitarbeiter nun ihre
historischen Tiefbohrungen vor. Je nach Vorliebe und Handhabung des
Instrumentariums fallen ihre Ergebnisse aus: Der Großteil der Essays zeigt,
wie mit dem Begriff "Erinnerungsort" heuristisch sinnvoll
umgegangen und zugleich ein Stück deutscher Erinnerungskultur auf gut
fünfzehn bis zwanzig Seiten leserfreundlich präsentiert werden kann. Nur
wenige Artikel verzichten hingegen vollständig auf den Begriff und den in ihm
angelegten gedächtnisgeschichtlichen Ansatz. Doch auch diese Beiträge halten
manche Überraschungen bereit: So erfährt der Leser, um nur ein Beispiel zu
nennen, im ersten Band so manche Kuriosa über das
"Weißwurst-Syndrom" der Bajuwaren (Bd. I, S. 471), ohne daß klar
wird, wie der Autor am Ende seines amüsanten Beitrags selbst eingestehen muß,
weshalb die eigentlich "kämpferisch gemeinte Idee der Mainlinie peu à
peu zum gemütlicheren >Weißwurstäquator< mutierte" (Bd. I, S.
482).
Daß auch das "Bürgerliche Gesetzbuch" in seiner
langen Geschichte so mancher Mutation unterlag, kann hingegen im zweiten Band
nachgelesen werden. Der Autor schreibt an dieser Stelle allerdings weniger
über die Gedächtnisgeschichte des BGB – etwa über die Generationen von
Jura-Studentinnen und -Studenten, die sich durch die Paragraphen des
Bürgerlichen Gesetzbuches quälen mußten. Vielmehr begnügt er sich damit,
gegen Ende seines Beitrags den geschichtspolitischen Zeigefinger zu erheben,
fehlt seiner Meinung nach dem deutschen Gesetzgeber gegenwärtig doch
"jeglicher Respekt vor dem über 100 Jahre alten BGB", wie der Autor
es namentlich den Äußerungen der amtierenden Bundesjustizministerin meint
entnehmen zu können (Bd. II, S. 534).
Auch andere Autoren beklagen, wenn auch mit weniger Vehemenz,
das Verschwinden ihres "Erinnerungsortes", handelt es sich nun um
"Goethe", der mittlerweile "weitgehend in die Philologie
abgewandert" sei und dessen "Sonne" heute nur mehr wenigen
leuchte (Bd. I, S. 206), oder um "Charlemagne – Karl den
Großen", der angesichts der bevorstehenden Ost-Erweiterung der EU
möglicherweise schon bald in Vergessenheit gerate: "Es könnte sein, daß
ein über den alten lateinischen Raum hinaus unmäßig [sic !] erweitertes
Europa mit seiner Gründerfigur nichts mehr anzufangen weiß" (Bd. I, S.
55).
Pars pro toto
Unterschwellige kulturpessimistische Töne dieser Art finden
sich in den drei Bänden insgesamt jedoch nur selten. Bei den meisten Autoren
herrscht eine reflektierte, analytische Herangehensweise an ihren Gegenstand
vor, die jenseits von sentimentaler Nostalgie und bloßer Amüsiertheit die
gedächtnishistorische Anekdote als pars pro toto deutscher Erinnerungskultur
auszuweisen versucht: So zeigt beispielsweise Erhard Schütz am Beispiel des
"Volkswagens", wie ein Überbleibsel nationalsozialistischer
Konsumplanung zur Ikone des Wirtschaftswunderlandes wurde und schließlich
sogar bei einer Jugend als >Kultmobil< Verehrung fand, "die
ansonsten alles ablehnte, was von den Eltern kam" (Bd. I, S. 369). Der
"Käfer" – ein deutscher Exportschlager sondergleichen –
wurde dabei zum "Inbegriff aller erdenklichen >deutschen<
Tugenden: Ausdauer, Bescheidenheit, Einfallsreichtum, Ehrlichkeit,
Leistungsfähigkeit, Sparsamkeit und Zuverlässigkeit. Ja, schließlich sogar
– wahrlich nicht im deutschen Kanon voran – Humor, Witz und
Selbstironie" (Bd. I, S. 353).
Zivilcourage und Mut zum Widerstand wird man demgegenüber
kaum zu den spezifisch >deutschen< Tugenden rechnen können. Doch auch
sie haben ihren Platz in den Deutschen Erinnerungsorten gefunden,
angefangen vom "Bauernkrieg" bis hin zu "Achtundsechzig"
und dem Leipziger Ruf "Wir sind das Volk". Daß auch
Protestbewegungen durchaus ihre eigene Geschichtspolitik verfolgen, zeigt das
Beispiel der Atomkraftgegner von "Wyhl", die das "Bild des
vermeintlichen Bauernkriegers mit >Fryheit<-Flagge" wieder
hervorkramten und sich damit in die symbolische longue durée deutscher
Widerstandsgeschichte einzureihen versuchten (Bd. II, S. 661). Auch die
"Besinnung auf die alemannische Stammesidentität" spielte im Wyhler
Wald ihre Rolle: "Deutsche und französische Kernkraft- und
Bleichemiegegner dichteten Gesänge in derselben alemannischen Mundart. Die
grenzüberschreitende Alemannen-Identität wurde in der Wyhler
Nuklearkontroverse für das Konzept eines >Europa von unten<
mobilisiert" (Bd. II, S. 660).
So scheint es geradezu ein inneres Konstruktionsgesetz von
"Erinnerungsorten" zu sein, daß sie spezifische Identitätsbereiche
und die dazugehörigen Traditionen zu konservieren und gegen andere
Gedächtnislinien abzugrenzen versuchen. Im kleinen entspricht diese Praxis,
wie Hermann Rudolph am Beispiel des "Schrebergartens" zeigt,
gewissermaßen der "Suche" des Kleingärtners nach
"territorialer Identität":
Garten und Gärtner gehen sozusagen
spielerisch mit den Vorstellungen um, die diese Identität konstituieren
– der vertraute Raum, der in der eigenen Parzelle erfahrbar wird, die
Grenzen, die die eigene kleine Welt gegenüber dem Nachbargrundstück
abgrenzen, dem Geflecht der sozialen Beziehungen, das im
Schrebergarten-Verein praktiziert wird. Das alles kann die emotionale
Zuflucht ausmachen, in der Heimat entsteht. (Bd. III, S. 368)
Der Konflikt der Traditionen
Doch "Erinnerungsorte" sind keine Parzellen der
Gemütlichkeit. Wie sehr sie selbst, gleichsam wider Willen, in den Streit
unterschiedlicher Deutungen geraten können, zeigt Gilbert Badia in einem
meisterhaften Essay über "Rosa Luxemburg", in dem der Leser nicht
nur vom >Briefmarkenstreit< 1973 erfährt, als der damalige Postminister
Horst Ehmke ein Postwertzeichen mit dem Portrait der KPD-Gründerin schmücken
wollte, dies jedoch von einer breiten Allianz aus konservativen Abgeordneten
und Leserbriefschreibern, die das "linksextremistische Flintenweib"
nicht als postalische Wertträgerin geehrt sehen wollten, verhindert wurde.
Wichtiger als diese Posse war freilich der Kampf um das Erbe in der DDR,
hatte deren Führung doch für sich in Anspruch genommen, die Verwirklichung
all dessen zu sein, wofür Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ihr Leben
gelassen hatten. Dieser selbstgesetzte Anspruch hinderte die Machthaber
jedoch nicht, die Spruchbänder mit dem berühmten Luxemburg-Zitat von der
Freiheit als Freiheit der Andersdenkenden überall in Stücke zu reißen, wo sie
ihrer habhaft werden konnten. Übrigens machte sich auch Bundeskanzler Kohl im
Wahlkampf 1994 das Luxemburg-Zitat, um das sich die ostdeutsche
Bürgerrechtsbewegung in den späten achtziger Jahren geschart hatte, zu eigen,
fügte jedoch sofort hinzu, daß dies das einzig Gute sei, was >diese
Frau< jemals geschrieben habe (Bd. II, S. 105–121).
Daß die deutsche Teilung zugleich eine Teilung der nationalen
Erinnerungslandschaft war, stellen auch andere Beiträge überzeugend unter
Beweis, und dies keineswegs nur im Hinblick auf typische DDR-"Orte"
wie "Stasi" und "Mauer" oder "Jugendweihe" und
"Palast der Republik". Auch an anderen Orten, etwa
"Rapallo", "Wartburg" oder dem "20. Juli" wird
deutlich, daß die "gespaltene Nation", wie Jürgen Danyel am
Beispiel des unterschiedlichen Umgangs mit dem Widerstand gegen den
Nationalsozialismus in beiden deutschen Staaten schreibt, auch ein
"gespaltenes Verhältnis zur eigenen Geschichte" hatte (Bd. II, S.
235). Denn auch die Erinnerungsgeschichte, so scheint es, kennt Sieger und
Verlierer: So habe die alte Bundesrepublik nicht zuletzt auch "auf dem
Gebiet der Erinnerung die kulturelle Hegemonie über den
Vereinigungsprozeß" ausgeübt: "Jene Traditionen und Symbole, über
die sich die DDR definiert hatte, darunter auch der ostdeutsche
Antifaschismus, wurden von einem Tag auf den anderen entwertet" (Bd. II,
S. 236f.).
Plurale Identität
Die Deutschen Erinnerungsorte zeigen jedoch, wie
durchlässig und porös die gegenwärtige Geschichtskultur in Deutschland
verfaßt ist. So wird das Streben nach >kultureller Hegemonie< im Kampf
um die Begriffe und Deutungen der Vergangenheit gerade durch die plurale
Anlage der drei Bände unterlaufen, die, wie die Herausgeber schreiben,
"kein sinnstiftendes oder staatstragendes Projekt" abgeben wollen
(Bd. I, S. 23). Bereits 1989, noch bevor die Mauer fiel, stellte Hagen
Schulze die berechtigte Frage, ob es überhaupt so etwas wie eine
deutsche Geschichte geben könne: "Was sind die Bewohner der
Bundesrepublik Deutschland: Deutsche, Westdeutsche, Bundesrepublikaner,
Europäer?" 2 Schon
damals war sich Schulze im klaren darüber, daß die Antwort auf diese Frage
nicht mehr im "Entwurf eines einheitlichen, stromlinienförmigen Bildes
der deutschen Nationalgeschichte" liegen könne. "Die Frage kann
heute nicht mehr lauten: Was ist die deutsche Geschichte? Sie muß vielmehr
lauten: Wie weit ist der Spielraum, innerhalb dessen wir über deutsche
Geschichte reden können?" 3
Genau diesen "Spielraum" versuchen die Deutschen
Erinnerungsorte auf ihren 2250 Seiten auszuloten: "Niemand besitzt
nur eine Identität. [...] Deshalb die Vielzahl von Erinnerungsorten, deren
scheinbar objektive Existenz im Wettstreit der Identitäten Halt und
Selbstbewußtsein vermittelt" (Bd. III, S. 567). Die Deutschen
Erinnerungsorte setzen damit an die Stelle einer einheitlichen nationalen
Großerzählung das Bekenntnis zu den kleinen Sinnregionen unseres Herkommens,
die – häufig zwar einander widerstreitend und nur von partieller
Bedeutung – Reste an Identität und Wir-Gefühl ermöglichen. Die drei Bände präsentieren die nationale Identität der
Deutschen somit in einem kaleidoskopartigen Bild einer Allemagne plurielle
, 4 in der soziale, konfessionelle und
regionale Minderheiten in ihren jeweils partiellen Identitätsansprüchen
Berücksichtigung finden können.
Das ist begrüßenswert und schafft Perspektiven für ein
plurales Geschichtsbild. Gleichwohl droht der Kollektivsingular >deutsche
Geschichte< damit wieder in seinen vormodernen Plural aufgelöst zu werden.
An die Stelle der >Geschichte< schlechthin tritt dann die unendliche
Vielzahl von Geschichten im Plural, von lokalen Erinnerungsangeboten, die
sich im vor- wie postmodernen Zugriff immer wieder neu arrangieren lassen,
deren Bedeutung für das Ganze sich jedoch leicht im Relativen verliert.
Topoi ohne Topographie
So fühlt sich der Leser im Getümmel der vielen
"Erinnerungsorte" von den Herausgebern schließlich ein wenig allein
gelassen. Kaum eine Leseempfehlung, geschweige denn eine anleitende
Orientierung wird ihm bei seiner Reise durch die deutsche
Erinnerungslandschaft mit auf den Weg geben.
Auch die Gliederung der drei Bände hilft da kaum weiter. Denn
die einzelnen Einträge folgen weder einer chronologischen noch einer
geographischen Ordnung. Auch die thematischen Bezüge lassen sich nicht immer
herstellen. Zwar haben sich die Herausgeber bemüht, die über
einhundertundzwanzig Beiträge nach insgesamt achtzehn Oberbegriffen zu
ordnen, die von "Bildung" bis "Zerrissenheit" und
"Disziplin" bis "Schuld" das >kollektive
Gedächtnis< der Nation gewissermaßen semantisch aufspannen sollen. Doch
die Ordnung überzeugt nicht wirklich, gehört es doch gerade zum Wesensmerkmal
eines "Erinnerungsortes", daß er sich aufgrund seiner
Interpretationsoffenheit nicht auf eine einzige Bedeutungslinie festlegen
läßt.
So fragt sich der Leser beispielsweise, warum "Friedrich
der Große" in die Rubrik "Identitäten" und nicht in das
Oberthema "Disziplin" fällt. Warum findet "Heinrich
Heine" seinen Ort unter "Zerrissenheit" und nicht unter
"Freiheit", wo beispielsweise "Schiller" Platz nimmt?
Denkbar wäre auch gewesen, daß sowohl "Heine" als auch
"Schiller" unter "Dichter und Denker" abgebucht worden
wären, wo jetzt der "Deutsche Idealismus" seinen Platz behauptet,
der sich ebensogut in der Nachbarschaft der "Brüder Humboldt" in
der Rubrik "Bildung" ausgenommen hätte. Diese Beispiele zeigen
bereits: Die angebotene Gliederung erzeugt keine Matrix, keine Landkarte der
Erinnerung, statt dessen entsteht ein Kaleidoskop aus vielen kleinen
Erinnerungsstückchen, die je nach Blickwinkel und Lichteinfall ein neues
Muster entwerfen. Oder, wie die beiden Herausgeber schreiben:
So entstehen Bündelungen,
vergleichbar mit einem Spiegelkabinett, die nach der Logik des Gedächtnisses
funktionieren, die eine ganz andere ist als die des rationalen Diskurses. Es
geht um freie Assoziationen und Querverweise, um Widerspiegelungen und
Brechungen. (Bd. I, S. 20)
Doch gerade die "Logik des Gedächtnisses", um die
es den beiden Herausgebern zu tun ist, gerät dabei aus dem Blick. Denn das >Gedächtnis< verfährt gerade nicht, wie wir
seit den klassischen Untersuchungen von Maurice Halbwachs wissen, nach freier
Assoziation, sondern ist eingebunden in die >sozialen Rahmen< seiner
Träger und empfängt von diesen her seine Bedeutung. 5 Solche >Rahmen<, d.h. gemeinsame generationelle
Erfahrungen, geteilte Weltbilder und Mentalitäten, strukturieren das
>kollektive Gedächtnis<, führen Unterscheidungen und Hierarchisierungen
ein: Das "evangelische Pfarrhaus" mag beispielsweise für den
Bildungsbürger und Kulturprotestanten ein "deutscher
Erinnerungsort" sein, nicht aber für den katholischen Arbeiter. Und
"Flucht und Vertreibung" mögen für den, der sie erlebt hat, vor
"Stalingrad" rangieren, während Jüngeren vermutlich weder das eine
noch das andere wirklich etwas bedeutet.
Die jeweiligen Anordnungsmuster der
"Erinnerungsorte", ihre jeweiligen >sozialen Rahmen<, bleiben
in den drei Bänden letztendlich unterbelichtet. Werden die >Wege<
– die mal krumm, mal gerade – die einzelnen >Orte<
miteinander verbinden, jedoch ausgeblendet, entsteht nur das halbe Bild der
Erinnerung. Was Hagen Schulze und Etienne François in ihren drei voluminösen
Bänden anbieten, sind somit letztlich Topoi ohne Topographie, Orte ohne
Landschaft: "Auschwitz" und der "Schrebergarten",
"Stalingrad" und "Bach", der "Bauernkrieg" und
"Walther Rathenau".
Doch ist das alles beliebig miteinander kombinierbar? Oder
gibt es nicht doch >Grenzen< und >Wege< zwischen den einzelnen
>Orten<, die diese erst zu einer sinnvollen, identitätsrelevanten
Erinnerungslandschaft zusammenfügen? Die unterschiedlichen Höhengrade der
Erinnerung, auf denen der "Führerbunker" und die
"Bundesliga", der "Kniefall" Willy Brandts und der
"Struwwelpeter" liegen, verlieren sich jedoch in der ebenerdigen
Nebenordnung einer Anthologie, die die strukturierende Interpretation des
Ganzen bewußt an die Leser delegiert: Erst diese, so schreiben François und
Schulze über das offene Ende ihres Experiments, "werden bestimmen, was
dieses Buch eigentlich ist und bedeutet" (Bd. I, S. 24).
Die Entortung der Erinnerung
Die Deutschen Erinnerungsorte leisten damit, so
paradox es erscheinen mag, gerade einer >Entortung< der Erinnerung
Vorschub. Sie präsentieren das >kollektive Gedächtnis< als eine Art
Vorratslager, aus dem sich jeder nach seinen Bedürfnissen bedienen kann.
Daniel Levy und Natan Sznaider haben
kürzlich am Beispiel des weltweiten Holocaust-Gedenkens gezeigt, wie sehr das
>kollektive< Erinnern in der globalisierten und medial gesteuerten
Geschichtskultur der Gegenwart solchen >Entortungsprozessen<
unterliegt: Die jeweiligen Erinnerungsbilder lösen sich immer mehr aus ihren
konkreten sozialen >Rahmen< – für die Holocaust-Erinnerung heißt
dies: aus den Erfahrungen der Opfer und Täter – und werden frei
verfügbar, um je nach gegenwärtiger Interessenlage benutzt und gedeutet zu
werden. 6 Eine ähnliche Diagnose findet sich
auch in Peter Reichels Beitrag über "Auschwitz" im besprochenen
Werk: "Längst ist der Name zu einem ortlosen, einem globalen
Erinnerungsort geworden" (Bd. I, S. 621), der – das zeigen Levy
und Sznaider anhand von Wortschöpfungen wie >Kosovocaust< oder
>roter Holocaust< (für die Verbrechen des Stalinismus) – aus
seinen Ursprungskontexten herausgenommen und für jeweils unterschiedliche
Zwecke erinnerungspolitisch eingesetzt werden kann.
Die Erinnerung, so schreibt Reichel, "wählt aus, ergänzt
und erfindet, sie verharmlost, verklärt, verteufelt und versachlicht, mit
einem Wort: sie verändert und vereinnahmt das Vergangene, aus welchen
politischen Motiven auch immer" (Bd. I, S. 620). Die Deutschen
Erinnerungsorte beschreiben einfühlsam und genau die einzelnen Prozesse
dieser Vereinnahmung und >Entortung<, der Wanderung der Erinnerung
durch die verschiedenen sozialen und politischen Kontexte der deutschen und
europäischen Geschichte. Zugleich ermöglichen sie dem Leser, an genau dieser
Wanderung teilzunehmen, laden sie doch ein zum Schmökern im Familienalbum der
Nation, bei dem je nach Stimmungslage die eine oder andere Seite übersprungen
oder die eine oder andere Anekdote mit ins nächste Kapitel genommen werden
kann.
So bieten die beiden Herausgeber eine Art Erinnerung à la
carte: ein faszinierend reichhaltiges Angebot, meisterhaft serviert –
die Menüfolge aber stellt der Gast ganz allein nach seinem Geschmack
zusammen, zuweilen auch >zum Mitnehmen<.
Dr. Klaus
Große Kracht
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Anmerkungen
1 "[...] des >lieux de mémoire<
allemands? Ce serait un échec assuré" (Gerd Krumeich: Le >Grand
Nora<. In: Magazine littéraire 307 (Feb. 1993), S. 51–54, hier: S.
54). Vgl.: Pierre Nora (Hg.): Les lieux de mémoire. 7 Bde. Paris: Gallimard
1984–1992; Etienne François (Hg.): Lieux de mémoire –
Erinnerungsorte. D'un modèle français à un projet allemand. Berlin: Centre
Marc Bloch 1996. zurück
2 Hagen Schulze: Gibt es überhaupt eine
deutsche Geschichte? Berlin: Siedler 1989, S. 64. zurück
3 Hagen Schulze (Anm. 2), S. 65f.
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4 Vgl. Peter Schöttler / Patrice Veit /
Michael Werner (Hg.): Plurales Deutschland – Allemagne Plurielle.
Festschrift für Etienne François. Göttingen: Wallstein 1999. zurück
5 Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine
sozialen Bedingungen. 2. Auflage. Frankfurt / M.: Fischer 1985; ders.: Das
kollektive Gedächtnis. 2. Auflage. Frankfurt / M.: Fischer 1985.
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6 Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im
globalen Zeitalter: Der Holocaust. Frankfurt / M.: Suhrkamp 2001.
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