Guenter über Beise: Marats Tod 1793-1993

IASLonline


Manuela Günter

Im Dickicht der Narration

  • Arnd Beise: Marats Tod 1793–1993 (Literatur im historischen Kontext; 4) St. Ingbert: Röhrig 2000. 371 S. Kart. EUR (D) 34,-.
    ISBN 3-86110-230-7.


"Wenn die fiktionalen Welten so angenehm sind, warum dann nicht versuchen, auch die reale Welt so zu lesen, als wäre sie ein Roman?" 1 Diese Frage, mit der Umberto Eco seinen Essay "Fiktive Protokolle" eröffnet, kann auf kein literarisches Genre besser bezogen werden als auf das historische. Ob Erzählung, Drama oder Lyrik – allemal geht es in deren historischer Ausprägung um die Erschaffung einer Vergangenheit, die sich mit den komplexen, widersprüchlichen und provozierenden Erscheinungsformen einer >realen Geschichte< herumplagen muß und die zugleich über die großartige Möglichkeit verfügt, diese zu >interpretieren<, d.h. mit Sinn zu versehen. Eine zentrale Aufgabe literarischer Fiktion besteht also darin, >Wirklichkeit< oder >Geschichte< (individuelle oder kollektive) durch Interpretation zugänglich zu machen. Die Fakten werden in diesem Prozeß fiktionalisiert – wie es wirklich gewesen ist, läßt sich nicht ermitteln, dafür aber, wie dieses Gewesene zu verschiedenen Zeiten konstruiert wurde.

Wesentliches Kennzeichen auch der historischen Genres ist es also, "Fiktion und Realität zu vermengen, die Realität zu lesen, als wäre sie Fiktion, und die Fiktion, als wäre sie Realität." 2 Dieses Wechselverhältnis entfaltet Arnd Beise in seiner Dissertation über "Marats Tod" auch als eine – höchst widerspruchsvolle – Rezeptionsgeschichte der Französischen Revolution. Hervorgetreten durch Publikationen nicht nur über Peter Weiss' Drama "Marat / Sade", sondern auch als Verfasser einer Studie über Charlotte Corday, kann Beise wohl als Autorität auf dem Gebiet der Marat / Corday-Literatur angesehen werden. 3

Und diese ist mehr als zahlreich: Dies zeigen allein 30 französische, 37 deutsche und 16 englische Dramen, sowie eine Vielzahl an historiographischen Darstellungen, Erzählungen und Gedichten aus zwei Jahrhunderten, die Beise recherchiert und zum überwiegenden Teil in die Studie einbezogen hat. Es ist kein geringes Verdienst dieser konsequent komparatistischen Arbeit, eine Vielzahl gänzlich unbekannter und teilweise verschollener Texte >ausgegraben< und durch ausführliche Zitation eine Vorstellung davon vermittelt zu haben.

Ausgehend von der Beobachtung der >Karriere<, die die Ermordung des Jean Paul Marat durch Charlotte Corday am 13. Juli 1793 im Laufe von 200 Jahren machte, verfolgt Beise in seinem Projekt einer "nichtfinalisierten Literaturgeschichtsschreibung" (S. 15) die Frage, worin die extreme Literarizität dieses Stoffes, seine vielfältige Anschlußfähigkeit für die verschiedensten Erzählungen besteht. Dabei geht er von einem >Ursprung< im Gerücht aus. Wie Eco in seiner überaus spannenden Detektion der Entstehung der "Protokolle der Weisen von Zion" – wo sich an die Gerüchte über geheime Bünde immer neue anlagerten, die zu Legenden und zu literarischen Erzählungen wurden, welche schließlich im 20. Jahrhundert in eine wirklich "schlimme Geschichte" mündeten 4 – zeigt auch Beise an den Gerüchten, Legenden und Geschichten um die Ermordung Marats sowie deren politischen Funktionalisierungen, daß >Fiktion< und >Wirklichkeit< doch in einem engeren Verhältnis stehen, als die Literaturwissenschaft normalerweise wahrhaben will.

Wie das Gerücht, dessen Funktion es ist, ein mehrdeutiges Ereignis allgemein befriedigend zu erklären und die dahinter vermuteten verborgenen Wahrheiten sichtbar zu machen, so nahmen es zahlreiche Autorinnen und Autoren auf sich, die Geschichten der beiden […] akzeptabel für ihre jeweilige Zeit literarisch immer neu aufzuarbeiten, das heißt: mit erklärendem Anspruch jeweils neu zu erfinden. (S. 12)

Dabei fällt die ungeheure Flexibilität der Interpreten wie des Stoffes auf – der Erfindung des Ereignisses scheinen keine Grenzen gesetzt.

Die Attraktivität des Stoffes liegt auf der Hand: die Konstellation "ein Mann und eine Frau", ein Geheimnis (wie kommt eine schöne junge Frau aus gutem Hause zu einer solchen Tat?), ein ambivalentes Opfer (für die einen der revolutionäre Held schlechthin, für die anderen der häßliche, wollüstige Bösewicht), eine überdeterminierte historische Konstellation, zu der sich Zeitgenossen und Nachgeborene in irgendeiner Weise stellen müssen, weil von ihr Impulse für ganz Europa ausgehen. Schließlich kann der über Jahrtausende in Mythos und Literatur präsente Diskurs über den Tyrannenmord hier angeschlossen werden. Darüber hinaus erzwingen die Selbstinterpretationen von Täterin und Opfer aufgrund ihrer Ambiguität geradezu die Auslegung.

So war der Mord in Marats Denken permanent präsent, er gerierte sich nicht nur als Täter, sondern imaginierte sich immer wieder auch als Opfer. Nicht nur, weil Marat realistischerweise in der ständigen Bedrohung eines Racheaktes gegen sich lebte, sondern auch aufgrund einer sakralen Logik, die sich laut Beise in Marats Rhetorik zeigt: Nur durch die Opferung einiger, die "das Angebot zum Selbstopfer einschließe, könne die Gewalt überhaupt beendet werden." (S. 21) Gebrochen wird diese Erlösungsphantasie, so Beise, wiederum durch die paranoide Struktur Marats, der überall Verrat an der Revolution sah; deren Retter konnte er jedoch schon aufgrund seiner eher subalternen Position innerhalb der Bergpartei gar nicht werden.

Marats Selbstinterpretation als Freund und Auge des Volkes, als Kassandra der Revolution, als Märtyrer und Apostel der Freiheit […] fehlte im Juli 1793 nur noch eins: die Beglaubigung durch die Tat, das heißt das Opfer. Marie-Anne-Charlotte Corday hat Marats Selbstinterpretation vollendet. (S. 24)

DIe Struktur dieser Vorgabe findet sich wieder im "Discours d'Apothéose", der besonders in Frankreich bis zur Machtübernahme Napoleons die Perspektive bestimmt und dem Schema christlicher Hagiographie folgt.

Interessanterweise funktioniert die Selbstinterpretation, die Corday in Form eines "Bekennerschreibens", in Briefen und in den Verhören nach dem Attentat der Nachwelt hinterließ, genau so. Sie begreift sich selbst als Racheengel und Tyrannenmörderin, als Märtyrerin für die Freiheit und als Stifterin nationaler Einheit. Sie rechtfertigt ihre Tat als legitimen politischen Widerstand, der sich ebenso den Gesetzen entziehe, wie sich Marats Tun jenseits der Gesetze befunden hätte. Auch sie sieht ihre Gewalttat als eine an, "die alle Gewalttaten enden sollte. […] Marats Gedankenkreis von Rache, Schlachtopfer und Selbstopfer ist auch der seiner Mörderin." (S. 27)

Diese befremdliche Koinzidenz der Interpretationen bei einer Täterin, die sich als Opfer, und einem Opfer, das sich selbst als Täter sah, produziert gleichsam aus sich heraus eine Fülle von Interpretationen. Daß diese stets interessegeleitet sind und dieses Interesse fast immer als eines an der >Wahrheit< ausgegeben wird, zeigt Beise in einer Fülle von Einzelporträts eindrucksvoll. Sie können hier nicht en detail nachvollzogen werden, es lassen sich aber bestimmte Tendenzen der Funktionalisierung extrapolieren:

  1. Während der Mordanschlag im revolutionären Frankreich in den Jahren nach dem Attentat überwiegend zu einer verklärenden Parteinahme für Marat führte, trugen deutsche Zeitgenossen bereits Sorge, sich von ihrer anfänglichen Begeisterung für die Französische Revolution zu distanzieren. So wurde die Ermordung Marats für viele "zum idealen Medium der politisch-poetischen Selbstverständigung" (S. 83), weil hier der "enttäuschte Revolutionsenthusiasmus" (S. 84) korrigiert werden konnte. Verurteilte die zeitgenössische deutsche Publizistik das Attentat eher, so entspann sich in der Literatur ein wahrer Corday-Kult (begleitet von einer Corday-Mode). Beiden Varianten – der Verklärung Marats wie auch derjenigen Cordays – liegen religiöse Muster zugrunde, ihre Vertextungen neigen zur Hagiographie.

  2. Ein weiteres Interpretationsmuster bestand in der Betonung des gemeinsamen Schicksals beider, das man auf der Basis der koinzidierenden Selbststilisierungen konstruierte; beide figurieren hier gleichermaßen als Helden der Revolution, insofern kurzerhand beiden das gemeinsame Ziel einer Rettung der Humanität unterstellt wird, und die beide das richtige Maß wie auch ihre Bestimmung verfehlt hätten. Eine besonders hübsche Variante dieses Musters bietet ein Medaillonporträt von 1798, wo Marat und Corday im Stil zeitgenössischer Ehegattenbildnisse als einträchtiges Paar abgebildet sind (S. 20).

  3. Schließlich gibt es eine Flut von Psychologisierungen, die bis in die Pathologisierung des einen oder der anderen reichen und die fast immer ein sexuelles Begehren unterstellen. Hier wechseln sich Marat als wollüstiger und perfider Vergewaltiger und Corday als blutrünstige femme fatale bzw. frustrierte Hysterika ab.

Corday

Das entscheidende Faszinosum wie auch das große Skandalon lag, wie Beises Analysen einwandfrei ergeben, im Geschlecht der Attentäterin begründet. Dabei faszinieren auch heute noch die vielfachen Funktionalisierungsmöglichkeiten, die sich hinter dem simplen Fakt "Frau ersticht Mann" verbergen können. Die Interpretationen reichen von Auslöschung und Verleugnung über das Motiv weiblicher Geltungssucht und hybrider Selbstüberschätzung bis hin zur Bewertung als politische Heldentat – Corday ist abwechselnd und manchmal auch gleichzeitig femme fatale und / oder femme forte.

Dabei werden merkwürdige Korrespondenzen bzw. Koalitionen sichtbar. So ist bemerkenswert, daß in den Bearbeitungen des revolutionären politischen Theaters in Frankreich nicht nur Marat als der uneingeschränkte Held erscheint, sondern damit einher seiner Mörderin jedes politische Motiv abgesprochen wird. Mit der Entpolitisierung der Tat, die hier durch persönliche Rache begründet wird, bestätigt man zugleich ganz unumwunden eine Geschlechterideologie, die sich doch in der Französischen Revolution zumindest kurzzeitig auf dem Prüfstand befand.

Dagegen ist den royalistischen und girondistischen Autoren, die sich traditioneller Dramenmuster bedienten, gemeinsam, "daß Corday als politisch handelnde Frau ernst genommen wird. Ihre Autoren hatten keine Probleme mit dem Geschlecht der Attentäterin." (S. 58) Sie agiert hier abwechselnd für die Gironde oder für den König. Diese politische Positionierung funktioniert freilich nur durch eine Neutralisierung der Geschlechterdifferenz: Wie Jeanne d'Arc ist auch Charlotte Corday asexuelle virgo intacta, die sich für die Wiederherstellung einer gerechten monarchischen Ordnung opfert. (Cordays >Jungfräulichkeit< war im übrigen auch den Revolutionären derart wichtig, daß sie sich dies am Rumpf der Guillotinierten per Obduktion bestätigten.) Es gab also nur die Alternative: entweder ein politisches oder ein weibliches Wesen, beides kam praktisch in keiner Interpretation zusammen.

Eine andere Strategie, den Skandal dieser unweiblichen Tat mit der allzu weiblichen Täterin zu versöhnen, bestand in der Abwertung der politischen Tat Cordays, indem diese als die bloße Folge der Unmännlichkeit, Schwäche und Feigheit ihrer männlichen Kollegen erscheint. Auch auf diese Weise läßt sich das Skandalon mit der herrschenden Ideologie der Geschlechter vermitteln und dient der Entpolitisierung, wobei die politische Funktionalisierung dabei einen Höhepunkt erreicht: in der Figur der Corday wird im 19. Jahrhundert weiblicher und bürgerlicher Opfercharakter gleichgesetzt, sie dient als Katalysator, >den Bürger< nach 1830 – nicht nur in Frankreich – mit seiner Monarchie zu versöhnen. Corday kann nun, vollständig zur Ikone stilisiert, jede beliebige politische Ansicht unterstellt werden, weil es in der Literatur – zumindest vordergründig – nicht mehr um Politik gehen darf.

In epigonaler Gefolgschaft von François Ponsards Erfolgsdrama "Charlotte Corday" (1847–49) kam es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade auch in Deutschland zu einer Flut von Corday-Dramen, die stets in die "Bestätigung des traditionellen Frauenbilds [mündeten], das im Opfer eigener Bedürfnisse die höchste Erfüllung der Weiblichkeit sieht, aber auch in der Bestätigung des jeweiligen gesellschaftlichen status quo als endgültig beste und nicht mehr zu revolutionierende Ordnung." (S. 196) 5

Auch eine >weibliche< Literaturgeschichte

In der Archäologie verschollener Texte besteht der Charme dieser Studie. Sie erlaubt es beispielsweise, eine unbekannte weibliche Literaturgeschichte zu rekonstruieren, die alle Epochen und alle Genres umfaßt und auf die ich hier näher eingehen möchte.

So recherchierte Beise ein Drama von Engel Christine Westphalen aus dem Jahr 1804 mit dem Titel "Charlotte Corday", in dem die traditionellen Geschlechtseigenschaften neu sortiert werden: Während hier Adam Lux als unentschlossener und letztlich verhinderter Marat-Attentäter figuriert und auch sein männlicher Widerpart Lagarde, der das männlich-rationale Prinzip verficht, wonach ein solches Attentat politisch und moralisch nicht zu rechtfertigen sei, passiv bleibt, beansprucht die Attentäterin Corday eine dritte Position, in der >Herz< und >Verstand< gleichermaßen zur Geltung kommen. Corday wird hier massiv stilisiert, allerdings mit dem Effekt, daß an die Stelle der Männerliebe der Patriotismus tritt, der die rettende Tat geradezu erzwingt.

Ein weiterer Text in dieser diskontinuierlichen Reihe ist Karoline de la Motte Fouqués historischer Roman "Das Heldenmädchen aus der Vendée" (1816). In dieser großangelegten Geschichte der Französischen Revolution verurteilt Fouqué Cordays Tat nicht nur moralisch als gottlose Verabsolutierung individueller Freiheit, sondern auch politisch als kontraproduktiven Akt, der letztlich nur die Bergpartei gestärkt habe. Dagegen entwirft sie die fiktive Gestalt der Elisabeth Rochefoucauld, die als Märtyrerin des Glaubens kämpft und stirbt.

Damit führt Fouqué eine ganz neue Konstellation in die literarische Geschichte der Französischen Revolution ein: Ablehnung des Republikanismus bei gleichzeitiger Anerkennung seiner historischen Notwendigkeit; Ablehnung des Individualterrorismus à la Corday bei gleichzeitiger Anerkennung des Kollektivterrorismus des Konvents wie der Vendée-Aufständischen. (S. 105)

Im Unterschied zu dieser explizit politischen Einordnung des Geschehens spielt Amalie Schoppes Roman "Marat" von 1838 die "elements of sex and crime", die das Attentat birgt, voll aus. Durch Individualisierung und Personalisierung des historischen Geschehens sowie durch die Erweiterung des erzählerischen Spielraums durch fiktive Figuren, die mit den historischen in beliebige Verhältnisse treten, wird der Anschlag zum ersehnten Fluchtpunkt der Erzählung, deren Spannung davon lebt, wie viele fromme und tapfere Menschen der Wüstling Marat noch ins Unglück stürzen darf, bevor ihn die gerechte Strafe – in Form persönlicher Rache – ereilt. Schoppes Roman zeigt, wie sehr sich dieser Stoff der Unterhaltungsliteratur geradezu anbietet. Sie konnte zum einen den "wonnigen Grusel" nutzen, den der Name Marat ihren ZeitgenossInnen versprach; andererseits ermöglichte die Einführung fiktiver Figuren, die die Corday-Figur dezentrieren, ein Happy end, das dem Grusel ein Ende setzt.

Ganz anders als diese Funktionalisierung des historischen Ereignisses für eine spannende Liebes- bzw. Abenteuergeschichte, wie sie noch stärker in Eugène Sues Roman "Ingenue" zu beobachten ist, funktioniert wiederum Marie Eugenie delle Grazies >modernes< Versepos "Robespierre" von 1894, das von der zeitgenössischen Kritik mit Shakespeares Dramen verglichen und als "großartigste deutsche Revolutionsdichtung" überhaupt gefeiert wurde. (S. 125) Delle Grazie sucht die Lösung des Rätsels, als das die Französische Revolution am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem erschien, zeitgemäß in der Psychologie sowohl der beteiligten Individuen als auch der >Volksmassen<; sie kann insofern als Pionierin gelten in dem Versuch, "einen psychologischen Erklärungsansatz zur dichterischen Darstellung historischer Phänomene zu nutzen". (S. 131) Marat wird in dieser Perspektive zum Propheten und Philosophen eines überpersonal verstandenen >Aufruhrs<, zum Nihilisten, der ohne Vorstellung von der neuen, besseren Gesellschaft die alte dennoch zu Recht negiert.

Cordays Attentat motiviert sich hier individualpsychologisch: Durch eine frühe Begegnung im Jahr 1789, in der sie als eine Art Schülerin Marats figuriert, die seine Lehren nur allzu ernst nimmt und am Ende gegen ihn wendet. "Corday war eine Somnambule, die durch Marats Worte hypnotisiert wurde" (S. 127) und Jahre später das an ihm ausführte, was er ihr (vermeintlich) auftrug! Dieser Ansatz dient im psychologischen Roman der >biographischen Mode< zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr der Erklärung der Historie, sondern ihrer Eliminierung, und setzt auf die Differenz gesund / krank: Marat präsentiert sich dann als pathologischer Wüstling, Corday erscheint bevorzugt als Hysterika.

Aber auch die politische Funktionalisierung wird nie endgültig verabschiedet: von der äußersten Rechten, wo Marat kurzerhand zum >Juden< erklärt wird, dessen sich die >Arierin< Corday entledigt, bis zu kommunistischen Autoren, die in Marat mehr denn je den Helden und Märtyrer der sozialen Revolution sehen – mit diesem Stoff scheint auch im 20. Jahrhundert alles möglich!

Als Thema, das erhebliches Pathos-Potential besitzt, eignet sich der Stoff natürlich auch für die Lyrik. Besonders hervorzuheben ist hier Beises Lektüre von Gertrud Kolmars Gedichtzyklus "Robespierre", den er als Widerstand gegen die faschistische Auslöschung der Französischen Revolution aus dem kollektiven Gedächtnis liest. Kolmars Bekenntnis zur Revolution geht dabei einher mit einer provokativen Feier ihrer (männlichen) Helden. In ihrer Hymne an Marat greift sie "alle Topoi der Marat-Schmähung" (S. 239) auf und wertet sie durch die Integration in ihr Bestiarium der Reptilien und Amphibien, nach denen stets "die Bosheit schlägt" (S. 239), vollständig um. Marat erscheint als Opfer, Flüchtling, Märtyrer, seine Stilisierung als "Apologie der Gewalt", die im Zeichen der Gerechtigkeit geschieht.

Für Kolmar wurde das in Marat und Robespierre personifizierte >Selbstopfer, das zugleich Mord ist<, in den frühen 1930er Jahren eine Möglichkeit, Ohnmacht wenigstens poetisch in Macht zu verwandeln. (S. 241)

Die Marat-Figur wird in dem Gedicht "Marats Antlitz" positiv in eine jüdische Tradition integriert, über die sich zugleich die Probleme jüdischer Assimilation thematisieren lassen. 6

Die Differenzen, die bis in die >biographische Mode< zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Marat / Corday-Literatur strukturieren, werden nun außer Kraft gesetzt: gut / böse, weiblich / männlich und gesund / krank ermöglichen keine sinnvollen Unterscheidungen mehr. Der Stoff bietet sich also nicht nur hervorragend für die Unterhaltungsliteratur an, sondern eignet sich offenbar auch für die Thematisierung der Fragestellungen, die sich aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ergeben.7

Auch eine gelungene >postmoderne< Bearbeitung mit weiblicher Signatur hat Beise gefunden: Leslie Dicks Erzählung "Der Schädel der Charlotte Corday", die als wissenschaftliche Fallstudie konzipiert ist. Doch der scheinbar so ungetrübte analytische Blick erweist sich als ganz und gar unzuverlässig. Auch Literatur- und Zitatnachweise in den Anmerkungen können nicht darüber hinwegtäuschen, "daß dieser anscheinend wissenschaftlichen Prosa die gewohnte Kohärenz mangelt ..." (S. 151). Sinngeschichte löst sich hier in ihre offenen Enden auf, das Prinzip der freien Assoziation wird zum Erzählprinzip. Die verschiedenen Stränge – die Geschichte Charlotte Cordays, die anhand dreier Fotografien ihres Schädels (scheinbar) rekonstruiert wird, sowie die Geschichte Marie Bonapartes und ihres besonderen Verhältnisses zu Sigmund Freud werden um das Thema der Erzählung, das "Unheimliche", gruppiert, ohne daß dieses im Erzählen heimisch gemacht würde. "Offenbar", so Beises Fazit, "lassen sich aus der alten Geschichte von Marats Tod immer noch neue Funken schlagen." (S. 153)

Historiographie

Beises Studie würde natürlich einen zentralen Aspekt verfehlen, wenn er nicht auch die historiographische Narration einbezöge. In dem Kapitel "Glückliche Einbildungskraft und heimliche Sinnvermittlung" (S. 154–177) widmet er sich deshalb ausführlich den Geschichtserzählungen zwischen 1796 und 1989 und ihren Parallelen bzw. ihrem Wechselspiel mit der Literatur.

Ausgehend von Hayden Whites These einer Strukturhomologie zwischen historischer und literarischer Erzählung interessiert sich auch der Verfasser für die gemeinsamen Stil- und Denkmuster. "Kennzeichen der narrativ strukturierten Historiographie" sei "die logische Ineinssetzung von Temporalprinzip und Kausalitätsprinzip" sowie die Verwendung von erläuternden Erzählungen über Dinge, die niemand wissen kann. (S. 155) Diese erzählende Geschichte wird allerdings erst in einem gewissen zeitlichen Abstand möglich, wenn das historische Material halbwegs >geordnet< scheint; daß diese Ordnung ebenso einem Erkenntnisinteresse folgt, kann Beise durch die Analyse verschiedener Geschichtserzählungen besonders des 19. Jahrhunderts überzeugend darlegen.

So galt ab den 1820er Jahren als Ergebnis der Revolution, daß sie die Unordnung des Ancien Régime durch eine Ordnung ersetzt habe, die mehr Gerechtigkeit verspreche und die Erfordernisse der Zeit erfülle. (S. 155) Dementsprechend wird die Emanzipation des liberalen Bürgertums zum Ziel und Endpunkt der Revolutionsgeschichte, z.B. bei Adolphe Thiers oder François Auguste Mignet. Der >Terreur< gilt ihnen als notwendiges Übel auf diesem >richtigen< historischen Weg. "Das heißt im konkreten Fall, daß ein Ereignis wie die Ermordung Marats erzählerisch auf die Ebene einer nichtsbedeutenden Episode sinken konnte." (S. 156)

Diese Entscheidung für einen teleologischen historischen Prozeß und gegen die Moral kontingenter Einzelereignisse revidierte die sogenannte romantische Geschichtsschreibung insofern, als sie die herausragenden Individuen in den Vordergrund rückte. So wird z.B. in Thomas Carlyles "French Revolution" von 1837 die Geschichte zum Kampfplatz heroischer Einzelner: Corday figuriert hier als Ordnungsstifterin in einer aus den Fugen geratenen Welt, als Beispiel und Beweis für ein autonomes Individuum. Stärker noch als in allen anderen historiographischen Strömungen werden hier Gerüchte und Spekulationen in die eigene Geschichtsschreibung integriert zugunsten eines Gesamtbildes, das sich von den literarischen Gestaltungen kaum noch unterscheiden läßt und selbst – wie bspw. die Darstellung Alphonse de Lamartines – "als poetische Meditation über die Revolution" eine große Wirkung auf die Literatur ausübte. (S. 160)

Jules Michelets "Histoire de la Revolution française" (1847–1853) kann als die letzte große Revolutionsgeschichte in Frankreich gelten, die auf Erzählung vertraut: Gehuldigt wird hier allerdings nicht dem großen Einzelnen, sondern dem heroischen Kollektiv: dem französischen Volk. Im Unterschied zu Carlyle oder Lamartine schlägt Michelet aus dem "Unterschied zwischen Täterin und Opfer erzählerisch kein Kapital; weder der Geschlechtsunterschied noch die abstoßende Erscheinung Marats spielen eine besondere Rolle." (S. 162) Vielmehr wird die Differenz zwischen beiden verwischt zugunsten eines androgynen Charakters der Antagonisten, damit sie ihre Rolle im historischen Verlauf einnehmen können: "Marat als Märtyrer der politischen Revolution wurde zum Heiligen der Jakobiner; Corday als Märtyrerin einer idealen Republik zur Heiligen der Girondisten ..." (S. 164)

Mit Louis Blanc zieht der Positivismus auch in die Historiographie ein. Blanc vertraut nicht mehr auf die Kraft der Erzählung, sondern auf die kritische Quellenlektüre und ihren wissenschaftlichen Nachweis. Interessant ist dabei jedoch, daß sich auch bei Blanc "Marat und Corday [gleichen]. Aber nicht als weibliche Heilige wie bei Michelet, sondern als männliche Fanatiker." (S. 166) Auch hier wird also sowohl die politische als auch die geschlechtliche Differenz aufgelöst, aber in die entgegengesetzte Richtung.

Daß die Erzählung desselben Ereignisses unterschiedliche und bisweilen absolut konträre Bilder erzeugen kann, betrifft also nicht nur die literarische, sondern in gleichem Maß auch die historiographische Narration. Das historistische Problem der >Wahrheit< – wie es denn eigentlich gewesen sei – läßt sich aber auch durch den Bezug auf Quellen und Archive nicht lösen; die Antwort, die die Geschichtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, bspw. in den Revolutionsgeschichten von Heinrich von Sybel und Hippolyte Taine, gibt, besteht in der Beschränkung auf den Bericht und im Verzicht auf die Erzählung des Tathergangs sowie auf eine Motivierung.

Eine wirkliche Wende konstatiert Beise erst für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts: Mit Arthur C. Danto, Günter Barudio und Hayden White wird die Erzählung zur spezifischen Form historischer Erkenntnis aufgewertet. (S. 170) Dementsprechend bieten sich gerade spektakuläre Ereignisse wie die Ermordung Marats als Kristallisationspunkte einer solchen Erzählung geradezu an, die dann freilich auch interpretiert und motiviert werden müssen. Dagegen behauptet Simon Schama einen "prinzipiell sinnlosen Ablauf der Geschichte. Ja, mehr noch: Nicht nur die Geschichte sei an sich sinnlos, sondern auch jeder Versuch, dem Sinnlosen nachträglich Sinn zu verleihen", sei verfehlt. (S. 173) Schama fordert "chaotische Authentizität" statt "geläuterte Form", die Französische Revolution wird bei ihm als letztlich belangloses "Theater des Absurden" denunziert (S. 174). Zu Recht sieht Beise hinter einer solchen Darstellung selbst wieder das eminent politische Interesse einer Entpolitisierung, die nur scheinbar ohne >Bedeutung< auskommt.

Das Fazit des Autors, daß "eine die Polyphonie der Stimmen wirklich respektierende narrative Gesamtdarstellung der Französischen Revolution" noch ausstehe (S. 177), weil diese offenbar noch nicht wirklich historisch geworden, ihre Darstellung immer noch zugleich ein politisches Bekenntnis sei, ist allerdings zu relativieren: Wenn man mit Polyphonie nicht >authentische< Stimmen meint, sondern die verschiedenen Re-Konstruktionen, ihr "Nachleben", dann kann Beises eigene Geschichte diesen Titel durchaus für sich beanspruchen.

Fazit

Beises unerschrockener Blick aufs Material ermöglicht – jenseits aller expliziten Bezüge auf alle derzeitigen "advanced studies" – eine fast gänzlich unbekannte weibliche Literaturgeschichte freizulegen, deren Protagonistinnen selbstverständlich politische Positionen beziehen und in allen Genres sowie quer durch alle Epochen die Französische Revolution interpretieren. Somit bietet die Studie über weite Strecken eine äußerst spannende, >andere< Literaturgeschichte abseits des Kanons.

Die große Chance des sperrigen Materials, sich den literaturwissenschaftlichen Ordnungsbegriffen wie Autor, Werk, Epoche zu entziehen, weiß der Autor allerdings nicht immer zu nutzen; eine konsequente Präsentation jenseits dieser Ordnungsschemata, die vermutlich so manche unerwartete Konstellation offenbarte, gelingt ihm nur ansatzweise. Gerade das Festhalten an den traditionellen literaturwissenschaftlichen Ordnungsbegriffen (die nun mal am Kanon gewonnen wurden) wirkt eher desorientierend, als daß es das Material sinnvoll strukturierte.

Und selbstverständlich entgeht auch Beises Dissertation dem zentralen Darstellungsproblem einer solchen >riskanten< Literaturgeschichte nicht: So suggeriert der Anfang, die Darstellung des Ereignisses aus Beises Sicht, als ob es sich dabei um die historische >Wahrheit< handeln könnte, die von allen anderen funktionalisiert werde und nicht vielmehr selbst um eine Geschichte, die ihr Erkenntnisinteresse ausweisen muß. Auch das Ende – das Gespräch mit dem Dramatiker Koerbl – erscheint in diesem Kontext problematisch. Schließlich bietet auch er nur eine mögliche Geschichte, die wiederum untrennbar mit seinem politischen Interesse verbunden ist. Sie unkommentiert ans Ende des (literarischen) Hauptteils zu stellen, könnte angesichts des exponierten Ortes und des bedeutungsschweren Hölderlin-Zitates am Schluß zumindest zu dem Mißverständnis Anlaß geben, hierbei handle es sich doch um einen wie auch immer vorläufigen, so doch sinnvollen Abschluß.

Daß dies von der Studie selbst weder intendiert noch ausgeführt ist, situiert sie aber letztlich doch in bester Gesellschaft einer kulturwissenschaftlichen Literarhistorie, deren größte Gefahr, daß die Geschichte nur in mehr oder minder zufällige, mehr oder minder interessante Geschichten zerfällt, hier reflektiert und als Problem in der Schwebe gehalten wird. Die Askese bezüglich fulminanter Großthesen, die das disparate Material zusammenspannen könnten, ist nötig, will man mit dem Ende der >großen Erzählung< ernst machen. Statt dessen kann Beise zeigen, wie Geschichte geschrieben wird und welchen sich verändernden Konstellationen sich bestimmte Konstruktionen von Geschichte verdanken.

Der Verfasser stellt hier einmal mehr die Fruchtbarkeit einer ideologiekritischen Fragestellung unter Beweis, die den Anspruch auf >Wahrheit< nicht verabschiedet und den Blick freigibt auf 200 Jahre Geschichtsschreibung der Französischen Revolution; dabei ist >Geschichte< immer in der doppelten Konnotation von Erzählung und Historie zu verstehen, und beide sind – das zeigt nicht nur die Analyse von Peter Weiss' "Marat / Sade", sondern auch das Gespräch mit dem Dramatiker Koerbl – noch immer nicht abgeschlossen.


Dr. Manuela Günter
Universität zu Köln
Institut für deutsche Sprache und Literatur
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Ins Netz gestellt am 19.10.2002
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Anmerkungen

1 Umberto Eco: Fiktive Protokolle. In: U. E.: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur. München: Hanser 1994, S. 157–193, hier: S. 157.   zurück

2 Umberto Eco (Anm. 1), S. 158.   zurück

3 Arnd Beise: Charlotte Corday. Karriere einer Attentäterin. Marburg: Hitzeroth 1992; A. B.: Ein Existentialist mit Namen Marat. Zur Entstehung des "Marat / Sade" von Peter Weiss. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 111 (1992), S. 284–308; Arnd Beise / Ingo Breuer: Vier, fünf oder mindestens zehn Fassungen? Entstehungsphasen des "Marat / Sade" von Peter Weiss. In: Peter Weiss Jahrbuch 1 (1992), S. 86–115; A. B. / I. B.: Peter Weiss. Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart: Reclam 1995.   zurück

4 Umberto Eco (Anm. 1), S. 174 ff.   zurück

5 Deren Autoren – Julius Bamme, Ernst Rommel, Carl Klausa, Otto Girndt, Oskar Welten oder Otto Weddigen – sind heute vollständig vergessen.   zurück

6 Zu diesem Thema vgl. Birgit R. Erdle: Antlitz – Mord – Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas. Wien: Passagen 1994.   zurück

7 Unverständlich bleibt, warum Beise hier für die Kolmar-Gedichte das Label >Expressionismus< braucht und sie darüber hinaus, obgleich sie eindeutig den Mittelpunkt des Kapitels darstellen, durch Bezüge auf Georg Heym, Paul Mayer und Fritz von Unruh gleichsam >rahmt<.   zurück