Hamacher über Marx: Christusfigurationen bei Th. Mann

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Bernd Hamacher

Thomas Mann und die "Signatur der Moderne"

  • Friedhelm Marx: "Ich aber sage Ihnen ..." Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. (Thomas-Mann-Studien; 25) Frankfurt / M.: Klostermann 2002. (Zugl. Wuppertal Univ. Habilitationsschrift 2000) 364 S. Geb. € 58,-.
    ISBN 3-465-03172-5.


Bei allen Erfolgen war Thomas Mann bis an sein Lebensende ein höchst umstrittener Autor. Vom literarischen Werk im engeren Sinne abgesehen, waren es zwei Diskursfelder, auf denen er Leserschaft und Öffentlichkeit polarisierte: Politik und Religion. Auf beiden Feldern nahm in der Nachkriegszeit der Ton der Auseinandersetzung an Schärfe zu. Auf seiten der Politik ist die >Große Kontroverse< zwischen Thomas Mann und den Autoren der sogenannten >Inneren Emigration<, die vor allem im Umfeld der Goethefeiern 1949 und der Schillerfeiern 1955 die breitere Öffentlichkeit in Atem hielt, in jüngster Zeit auch durch Ausstellungen gut dokumentiert und aufgearbeitet.

Daß hingegen "in der unmittelbaren Nachkriegszeit rigoros über die Religiosität oder den Atheismus Thomas Manns gestritten wurde" (S.15), spielte in der wissenschaftlichen Diskussion allenfalls eine Nebenrolle und scheint inzwischen fast in Vergessenheit geraten zu sein. Die Thomas-Mann-Forschung drohte, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Frage nach den religiösen Kontexten im selben Maße aus dem Blick zu verlieren, wie religiöse Fragen generell Leserschaft und Öffentlichkeit am Ende des 20. Jahrhunderts kaum mehr zu polarisieren vermochten und an Interesse gegenüber der Nachkriegszeit deutlich einbüßten.

Dadurch ist in den Hintergrund gerückt, daß die Thomas-Mann-Forschung auf diesem Diskursfeld durchaus noch eine Bringschuld hat. Wer aber sollte sie jetzt noch abtragen? Wissenschaftsgeschichtlich gesehen scheint es derzeit dafür zu spät zu sein, und auch Friedhelm Marx möchte die liegengebliebenen Fragen, die ihm durchaus bewußt sind, nicht neu stellen (auch wenn er sie im Verlauf seiner Untersuchung einer tragfähigen Antwort beträchtlich näher führt). Eventuell enttäuschte Erwartungen fängt er jedoch sogleich elegant auf, indem er annonciert, bei der Archäologie vergessener Bezüge noch eine Schicht tiefer graben zu wollen: Nicht der Nachkriegsstreit um Thomas Manns Religiosität sei das Thema, sondern die von jenem Streit nun ihrerseits verstellte "Präsenz christologischer Motive in seinem Œuvre" (S.15). Dadurch gelingt ihm der thematische und methodische Anschluß an die in den neunziger Jahren sehr lebhafte Forschung zur Ambivalenz der Moderne, die bei ihrer Analyse ästhetischer Sinnstiftungsversuche die Texte Thomas Manns bislang nicht näher in den Blick genommen hat.

Modernes "Self-Fashioning" und
theoretisches Understatement

Marx skizziert einleitend die Prämissen, unter denen die "künstlerische[ ] Selbstheiligung" in der Moderne erfolgte, nämlich – im Unterschied zur Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts und im Einklang mit dem "dekadenten Lebensgefühl der Epoche" – im Bezug auf "den gekreuzigten Sohn" statt den Schöpfergott (S.11). Denn das Spektrum moderner Jesus-Deutungen – als "aristokratisch, künstlerisch, androgyn, homoerotisch, unpolitisch oder auch ironisch" – biete ein "nahezu unerschöpfliches Deutungsreservoir" (S.15): Für eine Generation, "die alles schon gesehen und gelesen zu haben glaubt", sei Jesus, der erfüllen wollte, "was bereits geschrieben steht", im Selbstverständnis von Leiden und Erwähltheit ein exemplarischer Künstler, der "sein eigenes Leben zum Kunstwerk gemacht hat" (S.12). So will Friedhelm Marx die Christusfigurationen bei Thomas Mann "als spezifisch moderne Form des Self-Fashioning" ins Licht rücken und dadurch "Thomas Manns Verhältnis zur Moderne ein neues, schärferes Profil" verleihen (S.16).

Was damit vorliegt, ist nicht weniger als ein gewichtiger Beitrag zur aktuellen Diskussion um Konzepte der Autorschaft. Mit den rezenten Theoriedebatten nicht vertrauten Leserinnen und Lesern freilich wird dies kaum auffallen, denn der Anschluß wird eher implizit vorgenommen. Der theoretische und methodische Rahmen wird auf wenigen einleitenden Seiten nur knapp umrissen – genug, um die Arbeit im fachlichen Diskurs zu verorten, zu wenig freilich für jene, die eine stärkere Vernetzung der Thomas-Mann-Forschung mit avancierten Theorieentwürfen wünschen. Daß die Untersuchung nun mit einer Art von theoretischem Understatement ganz traditionell werkzentriert daherkommt, wird ihr jedoch bei der zahlenmäßig großen Thomas-Mann-Leser- und Liebhaberschaft ganz zweifelsohne zum Vorteil gereichen, zumal Marx durchgehend elegant formuliert und nie in Jargon verfällt.

Von Understatement könnte man auch im Umgang mit der Forschungsliteratur sprechen. Die auf Schritt und Tritt begegnenden Hinweise auf relevante Vorarbeiten – insbesondere von Werner Frizen und Herbert Lehnert – könnten hier und da vergessen machen, in welch erheblichem Ausmaß der Autor Neuland erschließt. Umgekehrt hätte man sich manche Abgrenzung etwas näher erläutert und begründet gewünscht. Wer die abweichende Meinung nicht parat hat, wird etwa mit einem lakonischen "Vgl. dagegen..." (S.18, Anm.4) etwas zu knapp bedient.

Neuakzentuierungen bis zum "Zauberberg"

Das aus "Gladius Dei" stammende Titelzitat "Ich aber sage Ihnen ..." gehört in den Duktus der prophetischen Gerichtsrede, der in einigen frühen Erzählungen Thomas Manns entfaltet wird. Seit dem "Zauberberg" indes setzen die Christusfigurationen andere Akzente, und insofern würde fehlgehen, wer sie auf religiös inspirierte Gesellschaftskritik beschränken wollte. Mit einer solchen Einschätzung würde man, wie Marx betont, schon dem Frühwerk nicht gerecht. Vor dem Hintergrund von Nietzsches Moralkritik ergebe dort "die Verbindung von Leidensdruck, Sendungsbewußtsein und Herrschsucht ein genuin christliches Psychogramm, das Thomas Mann auf die künstlerische Lebensform überträgt" (S.46). Anhand der Schiller-Novelle "Schwere Stunde" kann Marx die christologischen Prädikate als Indizien eines "ästhetische[n] Paradigmenwechsel[s]" dingfest machen, "der zur Signatur der Moderne gehört" (S.60).

Wenn die – angeblich – "heilige" Kunst thematisiert wird, ergibt sich bei Thomas Mann nicht nur eine aufschlußreiche Distanzierung von Stefan George (vgl. S.70–73); auch der Name Wagner muß in diesem Zusammenhang fallen. Gerade aufgrund des Umstands, daß die Thomas-Mann-Forschung in den vergangenen Jahrzehnten häufig gleichzeitig und fast gleichrangig Wagner-Forschung war, muß um so mehr überraschen, wie Marx mit leichter Hand und ohne jedes Auftrumpfen eine bislang völlig übersehene "rituelle (Neben?)Wirkung" Wagners konstatiert: "Hebt auch Thomas Mann wie ein Priester die Monstranz, indem er sich der Wagnerschen Leitmotivtechnik bedient?" (S.69)

Moderne christologische Prätexte

Seine Neuakzentuierungen kann Marx in der Folge quellenkritisch unterfüttern, indem er auf Christus-Studien – zunächst von Kuno Fiedler und Hans Blüher – hinweist, die für Thomas Mann seit den frühen zwanziger Jahren, während der zweiten Arbeitsphase am "Zauberberg", von Bedeutung waren. Bei Fiedler (der als Vikar Thomas Manns jüngste Tochter Elisabeth getauft hatte und später aus dem Pfarrdienst entfernt wurde) figuriert Jesus von Nazareth als Homoerotiker (vgl. S.85), bei Blüher als "Hypnotiseur und Meister der schwarzen Magie" (S.95). Im Roman selbst nimmt Marx vor allem Peeperkorn in den Blick, auch hier mit Neuakzentuierung vertrauter Fragestellungen und nachdrücklicher Korrektur gewohnter Deutungsschemata, verkörpere doch Peeperkorn "jenen bewußten Vollzug mythischer Seinsformen, den man erst späteren Werken Thomas Manns zuzuschreiben gewohnt ist" (S.120).

Die Fäden seiner Re-Lektüre des "Zauberberg" nimmt Marx für die "Joseph"-Romane wieder auf. Erneut ist es eine "eigenwillige Christus-Deutung" (S.137), deren Relevanz für Thomas Mann er nachweisen kann, diesmal jene von Dimitri Mereschkowski, der Christus nach dem Vorbild des Osiris als zweigeschlechtlich deutete. So fällt auch auf diesem Felde neues Licht auf Thomas Manns Modus der Quellenaneignung: Aufgegriffen wird, was sich im Kontext ureigener Problematik als >anschlußfähig< erweist:

Daß Mereschkowski die Phänomene der Transsexualität und der Androgynie innerhalb der religiösen Welt so ausdrücklich hervorhebt, korrespondiert den Interessen der Moderne im allgemeinen und denen Thomas Manns im besonderen. (S.140)

Mereschkowski verbinde dabei "die Sphäre des Religiösen mit einer Denkfigur, die spätestens seit Otto Weiningers Buch >Geschlecht und Charakter< von 1903 zur Signatur der Moderne gehört." (Ebd.)

Antisemitische Spuren in der "Signatur der Moderne"?

Damit droht nun freilich aus dem Blick zu geraten, daß jener "Signatur der Moderne" eine deutlich antisemitische Spur eingeschrieben ist – im Hinblick gerade auf den "Joseph" zur Zeit wohl das Reizthema der Thomas-Mann-Forschung, 1 das sich auch in den Subtext von Marx' Untersuchung unversehens einschleicht: Daß die Jesus-Deutungen, auf die Thomas Mann rekurriert, alle mehr oder weniger mit – zumindest – religiösem Antijudaismus behaftet sind, bleibt für den dezidiert philosemitisch intendierten und auch meist so verstandenen Roman nicht ohne Folgen. Hinter dem Rücken seiner Intentionen hat Thomas Mann hier teil am Diskurs seiner Zeit. Insofern wäre "der Abstand zu einem aktuellen Konzept politischer Führerschaft [...], das gleichfalls Heilserwartungen zu erfüllen verspricht" (S.182), den Marx in einem schmalen Exkurs nur knapp markiert, deutlicher auszumessen.

Darin, daß Joseph die Führerschaft explizit versagt wird, könnte nämlich nicht nur "ein Moment politischer Resignation" liegen (S.191). Der "Schatten", der "auf die Segenserbschaft, die Juda zuteil wird", falle (S.190), wäre dann ein antijüdischer Schatten, der die heilsgeschichtliche Perspektive des Romans trifft, in dem Josephs >Rassenkarriere< – die Eroberung eines utopischen >dritten Orts< >jenseits< der Rassen – lediglich ein "glückliches Interregnum" darstellt (S.191).

So hat Marx zwar ohne Zweifel Recht, wenn er schreibt, daß "die romanimmanente Zurücknahme der Erlöserprädikationen einen politischen Nebensinn" berge. Daß Thomas Mann "der messianischen Idealisierung seines Protagonisten" entgegensteuere, "um ihn unmißverständlich von Hitlers politischer Führerschaft abzugrenzen" (S.195), ist jedoch nur eine, gewissermaßen die helle Seite der Medaille. Um die antijüdischen Schatten wahrzunehmen, die die >dionysischen< Konnotationen der Segensübertragung an Juda auf die tradierte Heilsgeschichte werfen, fehlt Marx der >böse< Blick. Immerhin wäre auch zu bedenken, daß der Erzähler von "feierliche[n] Irrtümer[n]" Jakobs spricht, die der "nicht unbedingte[n] Zuverlässigkeit der Sterbe-Hellsicht und Weissagung" in Rechnung zu stellen seien. 2 Um einen solchen Irrtum könnte es sich also nach der Meinung des Erzählers auch bei der Übertragung des Heilssegens an Juda handeln.

In jedem Fall freilich wird man Marx das unbestrittene Verdienst zugute halten, mit der Aufdeckung der christologischen Prätexte überhaupt erst ein zuverlässiges philologisches Fundament für eine Diskussion jener aktuellen Streitfragen der "Joseph"-Deutung gelegt zu haben.

"Goethe, Gott und Opfer"

Neue Facetten vermag Friedhelm Marx auch Thomas Manns Goethe-Aneignung abzugewinnen. Mit dem Kapitel "Goethe, Gott und Opfer" erreicht seine Darstellung zweifellos einen Höhepunkt. Wenn Goethe bei Mann "nicht als Originalgenie geschildert" werde, "sondern als mythischer Charakter, der in seiner Person vergegenwärtigt, >was bereits geschrieben steht<", so gerade "nicht als mythische Figur im Sinne der zeitgenössischen Goethe-Philologie" (S.202). Dies war durchaus bereits bekannt – nicht jedoch, "daß er ursprünglich anders gewichten wollte" (S.205), wie Marx aus Manns Goethe-Notizen von 1931 / 32 nachweisen kann. Erst für die endgültige Form der Goethe-Reden im Jubiläumsjahr 1932 nahm Thomas Mann das Pathos der mythischen Heilsfigur zurück, um sich noch rechtzeitig von der nationalistischen Goethe-Verehrung zu distanzieren.

Umgelenkt wurden die mythischen Energien jedoch ins erzählerische Werk, in den Roman "Lotte in Weimar". Hier ließ sich nach Marx "die Wahlverwandtschaft, die Thomas Mann seit Beginn der dreißiger Jahre zwischen Goethe und Jesus von Nazareth ausmacht, [...] ungleich sorgloser erproben" (S.208): "Die prekären Aspekte einer quasi-religiösen Verehrung werden nun einer Romanfigur zugeschrieben, die in sich gebrochen erscheint." (S.209) Werde so Goethe mit Jupiter verglichen, so sei es der – Thomas Mann bestens bekannte – Jupiter aus Kleists "Amphitryon". Ebenso erhellend wie dieser Vergleich wirkt Marx' Deutung Riemers im Kontext von "Spielarten der Jüngerschaft im Umkreis eines zeitgenössischen Dichters" (S.217), konkret Stefan Georges.

So kann Marx Thomas Manns zunächst befremdlich erscheinendes "Vorhaben, bei Goethe >das Christliche< nachzuweisen" (S.223), bis in Einzelheiten hinein plausibel machen. Charakteristisch für sein gelegentliches Understatement ist es dabei wiederum, daß er einen geradezu spektakulären Fund aus Manns Goethe-Notizen der frühen dreißiger Jahre in den Anmerkungen verbirgt und darauf verzichtet, interpretatorisches Kapital daraus zu schlagen. Thomas Mann zitiert darin im Hinblick auf den Schluß von "Faust I" Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium mit Worten, die lutherisch >echt< klingen, bei Luther aber in der zitierten Form nicht nachweisbar sind (vgl. S.223). Zwar kann auch Marx die Quelle nicht ermitteln, doch wird an diesem Detail erneut deutlich, daß Thomas Mann in die Theologie seiner Zeit mindestens so viel Einblick hatte wie in andere Wissenschaften – viel mehr jedenfalls, als ihm die Forschung noch in jüngster Zeit zugetraut hat. 3

Christologie ohne Erlösung im "Doktor Faustus"

War es im "Lotte"-Roman Goethe, der eine sinnbildliche Qualität gewann, so ist es im "Doktor Faustus" Nietzsche. Marx rechnet das auch anderwärts feststellbare "Bedürfnis, in einem einzelnen Menschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der eigenen Nation zu finden" (S.237), wiederum zur "Signatur der Moderne", die, je länger, je mehr, zu einer Art >Leitmotiv< der Untersuchung wird. Wie schon bei Joseph und Goethe wird nun auch bei Nietzsche "die Christus-Typologie [...] um ihre Erlöserperspektiven gekürzt" (S.244). Nicht zuletzt in dieser Verkürzung liegt denn auch die von Marx stets aufs neue geltend gemachte Modernität von Manns Christusfigurationen:

Der "Faustus" läuft, wie er zeigen kann, in eine "Umkehrung der heilsgeschichtlichen Chronologie" aus und lehnt sich damit nicht nur "fundamental gegen die christliche Heilsdynamik auf" (S.283), sondern gibt zugleich in ästhetischer Hinsicht zu erkennen, "daß die von der Genie-Ästhetik so nachhaltig konstatierte Affinität zwischen dem Künstler und dem Schöpfergott in eine fundamentale Krise geraten ist" (S.284). In der "Aufkündigung triumphalistischer Schöpfungskonzepte" liegen dann – so die >modernistische< Pointe – "neuartige schöpferische Möglichkeiten" (S.285).

Auch in anderer Hinsicht werden die Fäden des zentralen Goethe-Kapitels wieder aufgenommen: In Anknüpfung an die unterdrückten Walpurgisnacht-Szenen des "Faust" sei es Thomas Mann im "Faustus" um eine Überbietung Goethes zu tun gewesen, und zwar im Hinblick auf seine Distanzierung von der "allzu simplifiziernden", weil bloß obszönen "Darstellung des Bösen, wie sie von Goethe offenbar vorgesehen war." (S.252) In der Deutung des Exils als Martyrium ist es abermals der Blick auf Goethe, der Thomas Manns Revision seines eigenen Selbstverständnisses im Hinblick auf Deutschland strukturiert, denn schon Goethe sei eine Figur, "die Deutschland verkörpert, obwohl sie sich geistig vollkommen isoliert, im Grunde exiliert sieht" (S.256).

In bezug auf Adrian Leverkühns Imitatio Christi sieht Marx "die Versuchungsszene des Neuen Testaments gleich zweimal gegen den Strich" gebürstet, indem "zunächst der Teufel für eine künstlerische Passion wirbt, die der Leidensgeschichte Christi entspricht, sodann eine Versucherfigur Rettung in Aussicht stellt" (S.276). Da Marx sich in anderen Zusammenhängen durchaus um die Nebenfiguren der Christusfigurationen – wie etwa Riemer – kümmert, fällt um so mehr auf, daß hier die Rolle und das weitere Schicksal der – jüdischen! – Versucherfigur Saul Fitelberg nicht reflektiert wird. Wie schon beim "Joseph", so zeigt sich hier erneut eine blinde Stelle der Untersuchung, die weitere Forschungen nötig macht.

Gegen Ende des "Faustus"-Kapitels kommt Marx dann auf Manns Streit mit der >Inneren Emigration< zu sprechen und ergänzt die geläufigen Deutungen der >Großen Kontroverse< um einen erhellenden Aspekt: Die Christusfigurationen des Romans seien an die Perspektive des inneren Emigranten Zeitblom gebunden und würden dadurch erzähltechnisch relativiert. Zugleich aber werde der Roman "insofern von der Wirklichkeit eingeholt, als die Innere Emigration gleichfalls auf eine christologisch grundierte Metaphorik zurückgreift, um dem deutschen >Schicksal< eine erträgliche Deutung zukommen zu lassen" (S.297).

Fazit: "keine rettende Wahrheit"

In seinem Abschlußkapitel verfolgt Marx die Entwicklungen seiner Thematik bis in die letzten Texte und Werkpläne Manns hinein, wobei er in dieser Optik erstmals partielle strukturelle Affinitäten zwischen dem "Erwählten" und der "Betrogenen" nachweisen und damit im Vorbeigehen erneut eindrucksvoll die Geschlossenheit und den durchgehenden Problemzusammenhang des Mannschen Gesamtwerk vor Augen führen kann (vgl. S.316).

Marx setzt einen doppelten Schlußakzent: Zum einen immunisiere Thomas Mann seine literarischen Christusfigurationen auf eine – im Sinne Kierkegaards – >humoristische< Weise "gegen einsinnige religiöse Deutungsperspektiven" (S.329), zum anderen aber – und damit zusammenhängend – stelle er "bis zuletzt keine rettende Wahrheit in Aussicht" (S.331). Nun könnte man meinen, daß ein solches Fazit heute im Unterschied zu den fünfziger Jahren keinen gegen Thomas Mann gerichteten polemischen Widerspruch mehr zu mobilisieren vermöchte. Bedenkt man jedoch, wie verbreitet noch immer die Neigung ist, Thomas Mann nicht der ästhetischen Moderne im emphatischen Sinne, sondern einem künstlerisch vormodernen 19. Jahrhundert zuzurechnen, 4 wird man die Arbeit von Friedhelm Marx gar nicht hoch genug veranschlagen können. Nicht nur wird künftig jeder, der über Thomas Manns Stellung in der ästhetischen Moderne reden will, zu seinem Buch greifen müssen – auch die ideengeschichtliche Untersuchung der künstlerischen Moderne als ganzer ist im Hinblick auf ihre (pseudo-)religiösen Unterströmungen auf eine neue Grundlage gestellt.


Dr. Bernd Hamacher
Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Goethe-Wörterbuch
Arbeitsstelle Hamburg
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

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Ins Netz gestellt am 16.06.2002
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Anmerkungen

1 Die Förderung von Yahya Elsaghes Forschungsprojekt über nationalistische und antisemitische Tendenzen in Thomas Manns Erzählwerk durch den Schweizerischen Nationalfonds hat eine kurze, aber heftige Kontroverse ausgelöst; vgl.: Im Zwielicht. Antisemitische Tendenzen in Thomas Manns Werk? In: Neue Zürcher Zeitung, 7.9.2001.   zurück

2 Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt / M.: S. Fischer 1974. Bd.V: Joseph und seine Brüder 2, S.1796f.   zurück

3 Wie groß der Korrekturbedarf ist, zeigt sich noch an einer Laudatio von Manfred Dierks auf Herbert Lehnert aus dem Jahr 1998, in der er mit apodiktischem Fehlurteil konstatiert: "Nein, von der modernen Theologie verstand Thomas Mann nichts. Das war seitdem klar." (Manfred Dierks: Erkenntnis des Umbruchs in unserer Zeit. Laudatio zur Verleihung der Thomas-Mann-Medaille an Herbert Lehnert. In: Thomas Mann Jahrbuch 12 (1999), S.221-226, hier S.222) Dierks rekurriert mit "seitdem" auf Herbert Lehnert: Thomas Mann. Fiktion, Mythos, Religion. Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1965.   zurück

4 Vgl. Hartmut Lange: Der ambitionierte Roman. In: Sinn und Form 52 (2000), S.809-819.   zurück