Heinz über Wiesel: Zwischen König und Konstitution

IASLonline


Andrea Heinz

"K. u. K." – "König und Konstitution"
und das Gesetz des Theaters

  • Jörg Wiesel: Zwischen König und Konstitution. Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters (Passagen Lit.-Theorie) Wien: Passagen Verlag 2001. 396 S. Kart. € 46,-.
    ISBN 3-85165-507-9.


Repräsentation ist der mehrdeutige Schlüsselbegriff, der in dieser theaterwissenschaftlichen Dissertation die Klammer zwischen politischen, historischen und schauspieltheoretischen Diskursen bildet. Die Untersuchung widmet sich vorwiegend Texten, in denen der Schauspieler fürstliche Repräsentanten (König Lear und Kaiserin Messalina) oder einen "Dichterfürsten" (Torquato Tasso) repräsentiert. Dabei wird ein großer Bogen von den theoretischen Texten Heinrich Theodor Rötschers (1837, 1841 und 1843), über die Aufführung von Adolf Wilbrandts Drama Arria und Messalina am Burgtheater (1874) bis hin zu der Inszenierung Christoph Marthalers von Stunde Null (1995) geschlagen, der die These erhärten soll, daß "die theoretische und praktische Ausrichtung des deutschen (deutschsprachigen) Sprechtheaters seit dem Vormärz eine konstitutionell-monarchische ist" (S. 278). Erst in den Inszenierungen des Schweizer Regisseurs Marthaler sieht Jörg Wiesel ein demokratisch geprägtes Theater verwirklicht, während das bundesdeutsche Theater bis heute von dem absolutistischen Modell der Monarchie und des Hoftheaters des 19. Jahrhunderts bestimmt sei.

Methodisch orientiert sich Wiesel nach eigener Aussage an "der von Michel Foucault theoretisierten Diskursanalyse, die die diskursive (sprachliche) Verfaßtheit des historischen Materials nie aus den Augen verliert." (S. 30) Damit wendet er neuere Methoden und Fragestellungen auf traditionelle theaterhistorische Gebiete an, die in den letzten Jahrzehnten von der Forschung wenig beachtet wurden. Die Auswahl der Texte und Themen erscheint allerdings etwas willkürlich. Ebenso wird beim methodischen Vorgehen statt der Diskursanalyse im strengen Sinn eher ein Methodeneklektizismus deutlich, der jedoch an keiner Stelle reflektiert wird; so stehen philologische, psychoanalytische, linguistische, theatersemiotische Verfahren neben theaterhistorischen oder allgemein ideengeschichtlichen Aussagen, diskursanalytische neben solchen der traditionellen Einflußforschung.

Unklar bleibt dabei beispielsweise, ob Wiesel nun historisch argumentiert oder nicht – die Frage ist ja mit dem Bekenntnis zur Diskursanalyse nicht schlechterdings aus der Welt geschafft: So werden teilweise klassische ideengeschichtliche Bezugslinien gezogen, beispielsweise zwischen der Hegelschen Philosophie und Rötschers Theatergeschichtsschreibung; andererseits jedoch werden Texte aus der Shakespeare-Zeit umstandslos mit solchen der unmittelbaren Gegenwartsliteratur verglichen. Dabei wird die wissenschaftliche Argumentation anhand eindeutiger Belege gegenüber der assoziativen Verknüpfung von Ideen und dem offensichtlichen Spaß an verallgemeinernden oder provokanten Thesen häufig in den Hintergrund gedrängt.

Ich werde im folgenden versuchen, vor allem diejenigen Aspekte an Wiesels Untersuchung, die relevant für eine allgemeine Theatergeschichte sind, darzustellen und kritisch zu beleuchten. Der Wert der Arbeit als exemplarische Diskursanalyse erscheint mir darüber hinaus fraglich, vor allem wegen der sehr schmalen Quellenbasis. Es müßte wohl zuerst einmal geklärt werden, wie sich das vermeintliche diskursive Feld, das Wiesel mit Hilfe der Begriffe König, Konstitution und Repräsentation absteckt, eigentlich konstituiert und wie es sich von anderen Diskursen abgrenzen läßt. All diese Fragen mögen jedoch versierteren Diskursanalytikern zur Beantwortung überlassen werden.

Aufbau des Buches

Heinrich Theodor Rötscher

Drei Kapitel sind den theatertheoretischen Schriften Heinrich Theodor Rötschers gewidmet, den Wiesel für "den wichtigsten Theatertheoretiker im deutschsprachigen Raum des 19. Jahrhunderts" (S. 27) hält. Im ersten Kapitel wird Rötschers Interpretation von König Lear innerhalb der Abhandlungen zur Philosophie der Kunst (1837), im zweiten Kapitel Die Kunst der dramatischen Darstellung (1841) vorgestellt, und im dritten Kapitel schließlich wird anhand von Rötschers Lexikonartikel Theater und dramatische Poesie (1843) dessen Einstellung zu Ensemble und Virtuosentum diskutiert.

Rötschers Theaterästhetik ist eindeutig von Hegel beeinflußt, wie Wiesel an vielfältigen Parallelen zu Hegels Schriften aufzeigen kann. Eine tiefergehende Analyse der Beziehungen erfolgt aber selten. Meist bleibt es bei provokanten oder plakativen Aussagen wie: "In der dramatischen Darstellung kommt also die vermittelnde Tätigkeit des (Welt-)Geistes zur Darstellung" (S. 109), oder:

Der Körper des Schauspielers stellt in der dritten Phase die Dreieinigkeit der patriarchalisch strukturierten Kleinfamilie dar, die in Hegels Rechtsphilosophie den Zustand der Einheit vor der Ausdifferenzierung zur >bürgerlichen Gesellschaft< und ihrer Vermittlung zum Staat als idealem Gemeinwesen markiert. (S. 111)

Dieser Satz ist übrigens durchaus exemplarisch für die komplexe, aber häufig die Grenze zum Jargon oder gar zur Unverständlichkeit bedenklich nahe streifende Schreibweise Wiesels.

  1. König Lear:

    In diesem Kapitel steht die Dramenanalyse inhaltlich wie methodisch im Vordergrund. König Lear wird folgendermaßen interpretiert:

    Den Verzicht auf die Regentschaft aus Altersgründen und die Gewährleistung des Fortbestands der Monarchie per Genealogie an die – rhetorische – Preisfrage des Liebesbeweises und ihre (rhetorische) Beantwortung zu knüpfen, ist für Rötscher die >Urschuld< [...] Lears. (S. 47)

    Daraus ergibt sich für Wiesel die Schlußfolgerung:

    Der Wahnsinn Lears ist also der Wahnsinn des Königs, der die allein auf seine Person zentrierte Gewalt des Königreichs unterminiert und das Fortbestehen der Monarchie massiv gefährdet. (S. 53)

    Anschließend behauptet Wiesel aber:

    [D]ie End-Situation ist als eine "bessere" ein Staats-Gebilde in Gestalt der konstitutionellen Monarchie, der König wird unter die Herrschaft des Gesetzes gestellt. (S. 60)

    Diese Aussage jedoch läßt sich weder durch Shakespeares Text noch durch Rötschers Auslegung unterstützen – an keiner Stelle ist weder explizit noch implizit dort von einer konstitutionellen Monarchie die Rede – und dient offensichtlich vor allem dazu, um Wiesels Grundthese von der Propagierung der konstitutionellen Monarchie zu untermauern.

  2. Die Kunst der dramatischen Darstellung (1841)

    Rötscher gibt in diesem Text praktische Anweisungen für den Schauspieler, formuliert Regeln und Gesetze der Schauspielkunst. Damit propagiert er laut Wiesel "den Beruf eines Dramaturgen, der in vermittelten Sprechakten dem Schauspieler und Leser Organisation und Semantik der zu spielenden Text näher vermittelt." (S. 73) Eine Analogie von Staat und Theater sei durch die Sprache gegeben:

    Der neu – durch das perfekt auszusprechende Hochdeutsche – herzustellende body politic, der Staats-Körper Deutschland, vereinigt in der Geschlossenheit seines Sprach-Körpers die Summe der einzelnen Territorialstaaten zu einer Sprach-Einheit: durch Sprechakte eines neu zu gründenden deutschen Nationaltheaters. (S. 77)

    Die Forderung nach einer dialektfreien Bühnensprache ist allerdings nicht neu, Rötscher steht hier eindeutig in der Tradition Goethes und seiner Regeln für Schauspieler. Die Propagierung des Hochdeutschen als Bühnensprache ist vor dem Hintergrund der zumeist dialektfreien Dramatik der Zeit, der hohen Mobilität der Schauspieler und der allgemein gewünschten Homogenität eines Ensembles verständlich und allgemein verbreitet. Die Förderung nationaler Einheit speziell durch eine gemeinsame Hochsprache ist somit m. E. nur ein Motiv unter vielen.

  3. Der Virtuose und das Ensemble

    Rötscher ist ein Befürworter des Ensemblespiels und Gegner des im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Virtuosentums, da er den reisenden Virtuosen "Förderung persönlicher Interessen" (S. 155) unterstellt. Seinem Ideal eines – nicht nur sprachlich – einheitlichen Kunstwerks auf der Bühne entspricht dagegen der Ensemblegedanke. Der Virtuose paßt deshalb nicht zur von Rötscher herbeigesehnten "idealistischen Hermeneutik des Geistes" (S. 169). Wieso Wiesel dann aber den Virtuosen, der auch als Aristokrat unter den Schauspielern gilt, als "eigentliche[n] Repräsentant[en] eines freien Willens des Volkes beziehungsweise seiner Mehrheit" (S. 170) deutet, erscheint mir unverständlich.

Der Verfall der "K. u. K. Monarchie" zu Beginn der deutschen
Reichsgründung: Adolf Wilbrandts "Arria und Messalina"
oder Die bürgerliche Hysterisierung des Körpers der Kaiserin

Nachdem der Leser mit den drei Kapiteln zu Rötscher bereits über die Hälfte des Buches hinter sich hat, kommt er endlich zu dem Kapitel, das in Vorwort und Einleitung – in Widerspruch zum tatsächlichen Umfang – massiv in den Vordergrund gestellt wird. Denn der erste Satz der Einleitung lautete:

Ausgangspunkt dieser Untersuchung ist [...] der Diskurs um die Uraufführung von Adolf Wilbrandts Drama >Arria und Messalina< mit Charlotte Wolter als Kaiserin Messalina (1874) am Wiener >K. u. K. Hofburgtheater<. [...] sie hat in der Kaiserinnen-Darstellung ein kaiserliches Unbehagen an politischer Repräsentation vorgeführt [...]. These ist, daß Charlotte Wolter auf der wichtigsten Bühne der >K. u. K. Monarchie< einen weiblichen Körper vorgeführt hat, den sich das massiv gesellschaftlich etablierende Bürgertum zu eigen gemacht hat, indem es ihn besprochen hat. (S. 25f.)

Dieses Beispiel zeige "den Zerfall und die Auflösung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie parallel zur deutschen Reichsgründung spektakulär an." (S. 26)

Der Titel dieses Kapitels (Der Verfall der "K. u. K. Monarchie") suggeriert ebenfalls eine historisch-politische Deutung der Theateraufführung von 1874. Wiesel bezieht sich aber bei seinen Ausführungen nur kurz auf die angeblich zentrale These, daß in der Figur der Kaiserin Messalina ein Rückzug der österreichischen Kaiserin Elisabeth von ihren Repräsentationspflichten zu sehen sei. Er gibt sogar zu, daß die zeitgenössische Rezeption diese Verbindung niemals gesehen hat:

Obwohl es keine eindeutigen Hinweise auf den kaiserlichen Körper Elisabeths im Diskurs über "Arria und Messalina" gibt, wird hier die These aufgestellt, daß – vielleicht gerade deswegen – Wolter in ihrem Spiel und die Mehrheit der männlichen Rezeption immer den Körper Elisabeths vor Augen gehabt haben [...] Denn der beginnende Rückzug Elisabeths von Österreich aus der Pflicht zur Repräsentation – etwa an der Seite ihres Gatten Franz Joseph –, und die zunehmende öffentliche Kritik an ihr, sind deutlich in den siebziger Jahren zu beobachten. (S. 192)

Wiesel gibt keinen Beleg für seine Thesen an und verliert sie selbst auch bei der Dramen- und Aufführungsanalyse von Arria und Messalina völlig aus den Augen. Weder Repräsentation noch der zeitgeschichtliche Bezug auf Kaiserin Elisabeth und auf den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie spielen im folgenden eine Rolle. Statt dessen interpretiert er Charlotte Wolter als Messalina genauso wie deren Zeitgenossen: "Fast alle das Drama und die Inszenierung betreffenden Texte und Rezensionen sowie die Texte zur Schauspielkunst Charlotte Wolters betonen die in der Figur Messalina dargestellte abweichende Sexualität" (S. 177), denn "in der Figur Messalina erkannte das großbürgerliche Publikum eine permissive Sexualmoral der Aristokratie, die es faszinierte" (S. 194). Eine Verbindung zwischen Kaiserin Messalina und Kaiserin Elisabeth auf der Ebene der Sexualmoral ist aber nicht möglich, wird von Wiesel auch gar nicht angedeutet, der – wie gesagt – seine Grundthesen ad acta legt.

Statt dessen entdeckt er mit Hilfe Freuds nicht nur ein, sondern sogar "ein zweites ödipales, konstruiertes Dreieck" (S. 188) im Drama, rekurriert auf Sacher-Masoch, interpretiert Wolters Darstellung der Messalina als die einer "Hysterikerin" (S. 198), entdeckt Parallelen zwischen "Dionysischem und hysterischer Symptomatik" (S. 216), wofür er Nietzsche als Kronzeugen anführt, und geht dann abschließend auf den berühmten "Wolterschrei", den "plastische[n] Schauspielstil Wolters" (S. 235) und das Primat der "sinnliche[n] Vermittlung" (S. 239) unter Intendant Dingelstedt ein. Dieses Kapitel bietet somit zwar ein überraschendes Kaleidoskop der verschiedensten Themen und Methoden, allerdings geht der "rote Faden" oder gar die Verfolgung der Ausgangshypothese völlig verloren.

Erst am Schluß des Kapitels wird in einem Satz kurz angedeutet, in welchem Verhältnis Charlotte Wolters Messalina-Interpretation zu Rötschers Theatertheorie steht: "Charlotte Wolter hat unter Dingelstedts Regie das idealistische Konzept eines Heinrich Theodor Rötschers aufgebrochen und das deutschsprachige Theater um Dimensionen des Anderen vehement bereichert; damit verweist sie auf die bald einsetzende künstlerische Avantgarde." (S. 242) Ansonsten bleiben die einzelnen Kapitel dieser Arbeit relativ unverbunden nebeneinander stehen. Warum gerade die beiden historischen Beispiele Rötscher und Wolter (Theatertheorie der 30er / 40er Jahre und die Schauspielkunst der Wolter am Beispiel der Messalina 1874) ausgewählt und erörtert wurden, bleibt weiterhin ungeklärt.

"Führung" in Bochum – 1919

1919 wurde das Bochumer Schauspielhaus gegründet, dessen Intendanz von 1919 bis 1949 Saladin Schmitt innehatte. 1919 gibt Oskar Walzel Rötschers Kunst der dramatischen Darstellung neu heraus. Wiesel beginnt dieses Kapitel, das verschiedene Ereignisse um die Jahreszahl 1919 gruppiert, folgendermaßen:

Daß der Bonner Literaturwissenschaftler Oskar Walzel 1919, also nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Abdankung des Deutschen Kaisers, zu Beginn der Weimarer Republik Rötschers >Kunst der dramatischen Darstellung< neu herausgibt, mit einem >Geleitwort< versieht, ist Beleg für die These, daß Rötschers Konzeption von Schauspielkunst ein System für die konstitutionelle Monarchie ist. (S. 251)

Der Begründungszusammenhang ist m. E. nicht nachvollziehbar. Inwieweit kann die Tatsache, daß eine Schrift, die in Zeiten einer nicht konstitutionellen Monarchie entstanden ist, nun in Zeiten einer Republik herausgegeben wird, Beleg sein für deren Konzeption für eine konstitutionelle Monarchie? Die Wiederentdeckung Rötschers durch Walzel liegt vielmehr – wie Wiesel auch erwähnt – in einer gemeinsamen Akzeptanz der Geistesphilosophie Hegels und dem um die Jahrhundertwende im Gegenzug zur technischen und wissenschaftlichen Modernisierung allgemein und mit Macht wiedererwachten "Bedürfnis nach Durchgeistigung" (S. 252) – wie Walzel als Geistesgeschichtler es selbst formuliert.

Der Rekurs auf die 1919 beginnende Intendanz Saladin Schmitts lenkt auf einen neuen Themenstrang der Repräsentationsthematik hin. Schmitt inszenierte nicht nur mit Vorliebe Shakespeares Königsdramen, sondern auch Goethes Künstlerdrama Torquato Tasso. In der Dichterkrönung in Torquato Tasso sieht Wiesel nun "die Urszene des bundesdeutschen Regietheaters nach 1968: der >Griff nach der Krone< seiner Protagonisten" (S. 257). In diesem Sinne deutet Wiesel auch die bedeutenden Inszenierungen von Peter Stein (1969) und Claus Peymann (1980).

Ausblick und Schluß: Demokratie in der Schweiz

Wiesel zieht zum Abschluß seiner Arbeit eine durchgängige Linie von den Ideen Rötschers bis zum bundesdeutschen Regietheater bei Stein oder Peymann:

Die zentrale These dieser Arbeit ist, daß die theoretische und praktische Ausrichtung des deutschen (deutschsprachigen) Sprechtheaters seit dem Vormärz eine konstitutionell-monarchische ist, eine Theaterverfassung, die entwickelt wurde (Heinrich Theodor Rötscher, Eduard Devrient) für die konstitutionelle Monarchie in Deutschland. (S. 278)

Er sieht die deutsche Tradition des Ensembles unter der Leitung eines Intendanten oder Regisseurs als absolutistisch geprägt: "Goethes Weimarer Hof-Ensemble, zusammengehalten durch seinen polizistenhaft agierenden Prinzipal und seine Spitzel, ist das absolutistische Modell." (S. 279) Im Gegenzug propagiert Wiesel ein schweizerisches, demokratisches Modell: Als vorbildlich empfindet er die Interpretation des König Artus in Stefan Bachmanns Basler Inszenierung von Merlin (1999) und Christoph Marthalers Hamburger Inszenierung von Stunde Null (1995).

Nachdem Wiesel in seinem Buch gelegentlich das Gebiet der Theatersemiotik gestreift hat, wagt er hier zum Abschluß nun eine die Theatergeschichtsschreibung umstürzende Behauptung. Fischer-Lichtes Aussage, daß "das chronologische Primat der Gestensprache [...] bis zum Ende des 19. Jahrhunderts praktisch unbestritten" (S. 278) sei, setzt Wiesel folgenden Befund entgegen: "Bei Rötscher wird der Körper von der Sprache und ihren wissenschaftlich fundierten Gesetzen kontrolliert. Das ist der große Bruch in der Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts." (S. 278) Ausgehend von einem richtigen Einzelbefund – dem Primat der Sprache bei dem Theatertheoretiker Rötscher – wird hier gleich auf eine Umwälzung des gesamten Theaterbetriebs geschlossen, ein induktives Verfahren, das nicht gerechtfertigt ist und sich mehrfach in Wiesels Arbeit findet.

Insgesamt zeichnet sich Wiesels Arbeit durch die intensive Verwendung von Fremdwörtern und Fachtermini aus, die die Lesbarkeit und das Verständnis des Textes nicht erleichtern. Die blendende sprachliche Oberfläche kann aber nicht immer die gelegentlich mangelnde argumentative Stringenz überdecken. Zentrale Prämissen der Arbeit wie der Begriff "Repräsentation" und das an der Diskursanalyse orientierte methodische Vorgehen, bei dem das geringe behandelte Textkorpus verwundert, werden eingangs nur oberflächlich angesprochen.

Das natürlich auch schon im 18. Jahrhundert diskutierte Thema "Der Körper der Monarchie vor dem Gesetz des Theaters" wird in Wiesels Monographie auf (fast) vergessene Texte und Aufführungen des 19. Jahrhunderts und – hierin ist das innovative Moment der Arbeit zu sehen – sogar auf Inszenierungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts übertragen. Wiesel betont die Kontinuität zwischen Hoftheatern des 19. und Staatstheatern des 20. Jahrhunderts, wobei unter dem Oberbegriff "Repräsentation" sowohl Kontinuitäten auf der Ebene des Repertoires (Königsdramen, Torquato Tasso) und seiner politisch-gesellschaftlichen Interpretation, der Schauspielkunst als auch der Organistionsstrukturen der Theater gefaßt werden. Altbekannte theatergeschichtliche Ereignisse erscheinen somit in einem neuen, aktuellen Licht.

Da Wiesel die Auswahl der wenigen behandelten Texte und Aufführungen nicht begründet und auch nicht thematisiert, ob diese eventuell repräsentativ seien, reicht m. E. seine Untersuchung aber nicht aus, um die deutsche Theatergeschichte umzuschreiben.


Dr. Andrea Heinz
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Institut für Germanistische Literaturwissenschaft
Fürstengraben 18
D-07740 Jena

Ins Netz gestellt am 19.03.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]