Heinz / Himmelseher über Jagemann: Selbstinszenierungen im klassischen Weimar: Caroline Jagemann
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Die Autobiographie der Caroline Jagemann,
Primadonna und Mätresse im klassischen Weimar

  • Caroline Jagemann: Selbstinszenierungen im klassischen Weimar: Caroline Jagemann. Hg. und untersucht von Ruth B. Emde, kommentiert in Zusammenarbeit mit Achim von Heygendorff. 2 Bde. Bd. 1: Autobiographie, Kritiken, Huldigungen. Bd. 2: Briefwechsel, Dokumente, Reflexionen. Göttingen: Wallstein 2004. 1040 S. 112 Abb. Gebunden im Schuber. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 3-89244-743-8.
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»Das schönste Zeugniß einer edlen reinen Seele« 1

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Caroline Jagemann (1777–1848), erste Sängerin und Schauspielerin des Weimarer Hoftheaters sowie Mätresse des Herzogs Carl August, ist seit jeher eine der sagenumwobenen Figuren im klassischen Weimar. Als bedeutende Künstlerin und Geliebte des sachsen-weimarischen Landesherrn wurde sie stets aus dem Spannungsfeld zwischen künstlerischer Anerkennung und moralischer Verwerfung heraus beurteilt. Vor allem in Bezug auf die Geschichte des Weimarer Hoftheaters führte dies zu zweifelhaften Interpretationen. Seit dem 19. Jahrhundert galt Caroline Jagemann in der Forschung vorzugsweise als Gegenspielerin des Theaterdirektors Goethe, als Intrigantin oder gar Despotin (vgl. S. 21). Diese Sichtweise hat bis heute Bestand, obwohl die Quellenlage dürftig ist und einige Aussagen lediglich auf früheren, wissenschaftlich nicht nachprüfbaren Behauptungen basieren. Doch Legenden sind hartnäckig, vor allem, wenn sie sinnvoll erscheinen. Die gewagte These von Ruth B. Emde lautet denn auch: »Und schließlich kann das klassische Weimar nur bestehen, solange Caroline als Biest konstitutives Element für dieses Modell bleibt.« (S. 50)

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Die vorliegende umfangreiche Neuedition wirkt in großen Teilen der Legendenbildung entgegen, indem sie das ehrgeizige Projekt verfolgt, möglichst alle Quellen, die zu Caroline Jagemann aufgefunden werden konnten, zusammenzutragen und in ausführlichen Kommentaren auszuwerten und zu interpretieren. Im Zentrum der zweibändigen Ausgabe Selbstinszenierungen im klassischen Weimar: Caroline Jagemann, herausgegeben und untersucht von Ruth B. Emde, kommentiert in Zusammenarbeit mit Achim von Heygendorff, einem Nachfahre der Weimarer Künstlerin, steht die Bemühung um eine authentische Rekonstruktion der autobiographischen Schriften Caroline Jagemanns. Um diese Aufzeichnungen gruppiert Emde weitere Materialien, die nicht nur über die Künstlerin und Autorin, sondern auch über ihr Umfeld, die Zeitumstände und das sie umgebende Netzwerk Aufschluss geben. Dadurch wird die (auto)biographische Perspektive aufgebrochen, und zeitgenössische Diskurse über Theater, Kunst, weibliche Selbstinszenierung und männliche Herrschaft werden am Beispiel des klassischen Weimar sichtbar. Die Edition enthält außerdem noch eine 200 Seiten lange wissenschaftliche Abhandlung mit dem Titel Wahlverwandtschaften im Staat des schönen Scheins. Dahinter verbirgt sich eine fundierte Arbeit zum Weimarer Hoftheater um 1800, die allein schon eine selbständige wissenschaftliche Publikation und Wahrnehmung verdient hätte. Emde, eine durch ihre langjährigen Forschungen bereits mehrfach ausgewiesene Kennerin 2 der Schauspielerinnen und Theatergeschichte des 18. Jahrhunderts, liefert damit insgesamt eine umfassende Studie, die selbst für eine so gut erforschte Epoche wie die Weimarer Klassik als beispielgebend gelten kann.

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Textgrundlage und Kommentierung

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Bislang lagen die autobiographischen Schriften der Caroline Jagemann lediglich in einer fragmentarischen und fehlerhaft redigierten Druckfassung von 1926 vor. Der Herausgeber Eduard von Bamberg war hierin, wie Emde kommentiert, »mit den Vorlagen sehr frei umgegangen« (S. 43), hatte den Text anders strukturiert, Passagen gestrichen und paraphrasiert.

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Er schafft damit eine ganz andere Erzählerin, die ihr erinnertes Ich [...] in einem trivialen Plauderton und mit Selbstvertrauen der allgemeinen Nachwelt präsentiert. Er vernichtet damit zugleich die Autorin, die historische Situation, in der sie schrieb, ihre Absichten und Aussagen, die Caroline gezielt für ihre zeitgenössischen Leser oder Adressaten entwickelte. (S. 43 f.)
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Für eine möglichst authentische Rekonstruktion der Autobiographie Caroline Jagemanns und der sich hinter dem Text verbergenden Informationen über die Autorin, ihre Zeit und Intentionen begab sich Emde auf die Suche nach der Originalhandschrift. Statt dieser fanden sich verschiedene Manuskripte im Freien Deutschen Hochstift Frankfurt und im Nachlass der Familie von Heygendorff in Essen, die sich durch einige Formulierungsvarianten unterscheiden. Eigenhändige Korrekturen Caroline Jagemanns oder beigelegte Originalbriefe ließen sich nur in einem der Schriftstücke aufweisen. Emde wählte als vorrangige Editionsgrundlage das Konvolut aus dem Heygendorffschen Familiennachlass, vermerkte jedoch penibel alle Abweichungen von anderen Überlieferungen.

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Durch Emdes textkritisches Vorgehen bei der Rekonstruktion der Autobiographie ergibt sich ein wissenschaftlich überprüfbares, lebendiges Zeugnis Caroline Jagemanns, das die Ausgabe Eduard von Bambergs vollkommen ersetzt. Auf Grund von Verlusten einiger Originaldokumente, die für die alte Ausgabe von 1926 noch vorlagen, mussten jedoch andere Texte aus dieser früheren Ausgabe übernommen werden. Dies trifft vor allem für die Jahreshefte und die unbetitelte Satire zu den Inszenierungen des Ion und Alarcos in Weimar zu. Emde lässt diese Passagen nicht unkommentiert stehen, sondern versucht durch andere Zeugnisse Aussagen zu verifizieren oder zu falsifizieren.

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In unzähligen Fußnoten informiert Emde ausführlich über Quellen, Hintergründe, weiterführende Materialien und Berichte. Für den Abdruck von Caroline Jagemanns Autobiographie wählt die Herausgeberin zwei Verweissysteme: Während am Seitenende über Abweichungen zu anderen Manuskripten informiert wird, finden sich im angehängten Kommentar für das Verständnis wichtige Erläuterungen und Ergänzungen, die z.B. über die genannten Personen oder Vorkommnisse aufklären. Behutsam verbessert Emde falsche Angaben, die Jagemann bei ihrer Rückbesinnung unterlaufen sind, und belegt alle Anmerkungen mit Hinweisen auf weiterführende Literatur bzw. Archivakten. Die kommentierenden Erläuterungen sind zugleich in das Informationssystem des gesamten Werkes eingeflochten, worauf Emde im einleitenden Teil verweist: »In den Kommentaren können übergreifende Fragestellungen nicht diskutiert werden, diese finden Platz in der Untersuchung, die wiederum Interpretationsansätze für die Lektüre der Materialien bietet.« (S. 53) Auf diese Weise wird dem Leser eine Fülle an Informationen geboten, die z.B. einen Einblick in das weitreichende Netzwerk eröffnen, das sich um die Person Caroline Jagemann spinnt.

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Caroline Jagemann und das Weimarer Hoftheater

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Die bisherige Forschung zu Caroline Jagemann beschränkte sich vornehmlich auf einen bestimmten Punkt, nämlich auf ihr Verhältnis zu Herzog Carl August und zum Theaterleiter Goethe (vgl. S. 474). Emde bedauert diese einseitige Betrachtung, setzt jedoch in den begleitenden Untersuchungen der vorliegenden Edition denselben Schwerpunkt. Obwohl Caroline Jagemanns Autobiographie ähnlich wie diejenige Goethes am entscheidenden Wendepunkt des Lebens abbricht (Ende 1801 mit ihrem Entschluss, Mätresse der Herzogs zu werden und in Weimar zu bleiben), interessiert sich Emde kaum für die ausführlich geschilderte Jugend, das mehrjährige Engagement in Mannheim oder die Liebes- und Entscheidungsqualen, die Caroline Jagemann – hin und her gerissen zwischen ihrer Liebe zum Herzog und ihren Moralvorstellungen sowie ihrem Wunsch nach einem bürgerlichen Familienglück – nachdrücklich schildert. Stattdessen analysiert sie ausführlich das Beziehungsgeflecht zwischen Caroline Jagemann, Carl August und Goethe, wobei das Weimarer Hoftheater als Kulminationspunkt unterschiedlicher Interessen im Mittelpunkt steht.

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Über allem schwebt die Frage nach Caroline Jagemanns Anteil an Goethes Rücktritt von der Theaterdirektion im Jahre 1817. War sie tatsächlich die Schuldige, die ihre Meinungen durch den Einfluss auf Carl August über den Kopf des Dichters hinweg durchgesetzt hatte? War sie oder ein Hund, den sie gegen Goethes Willen auf der Bühne sehen wollte, der Grund dafür, dass er seine Stellung aufgab? Tatsache ist: Der Hund erschien, und Goethe ging. Aber handelte es sich hierbei um Ursache und Wirkung?

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[D]ie Forschung hatte ein offenkundiges Interesse daran, die Legende von der Intrigantin aufrecht zu erhalten. Wenn Goethe nicht an ihr gescheitert war, hätte man sich der Frage stellen müssen, an was oder wem er sonst gescheitert sein könnte; und die Antwort hätte womöglich gelautet: an sich selbst. (S. 26)
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Auf eben diese Antwort zielt also Emdes Interpretation, die sich bewusst gegen frühere Forschungsmeinungen stellt, in denen Goethes Theaterleitung als »eine Erfolgsgeschichte« gesehen wurde, der man ein »jähes, peinsames Ende« (S. 477) anhängte. Emde will sich mit der Geschichte des Hundeauftritts als Grund für Goethes Rücktritt verständlicherweise nicht zufrieden geben und strebt deshalb eine »Reflexion darüber [an], auf welche Weise Goethe und mit ihm Caroline und Carl August gescheitert sein könnten.« (Ebd.)

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Hierfür unterteilt Emde die Dreiecksverbindung zwischen Herzog, Primadonna und Theaterdirektor in einzelne Sachverhalte, die sie unabhängig voneinander untersucht. Dieses methodische Vorgehen erweist sich in der dargebotenen Form jedoch als schwierig, da die thematische Trennung nicht zuletzt auf Grund der Quellenlage, die dem Theater eine zentrale Stellung gewährt, keine getrennten Argumentationsgänge erlaubt. Bei einer so umfangreichen und ausführlichen Darstellung ist es daher nicht erstaunlich, dass sich hierdurch in die grundsätzlich überzeugende Interpretation teilweise widersprüchliche Schlussfolgerungen einschleichen.

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Bei der Analyse des Verhältnisses zwischen Goethe und Caroline Jagemann betont Emde anfangs vor allem den liebenswürdigen Umgang (vgl. S. 482) sowie den gegenseitigen Respekt, den sie der Qualifikation des anderen entgegen brachten. Während Emde aus Jagemanns Briefen an Goethe »ihr[en] Ehrgeiz, seinen Ansprüchen zu genügen, ihr[en] tiefe[n] Respekt vor seiner künstlerischen Autorität« (S. 488) heraus liest, sieht sie bei Goethe eine zustimmende Haltung zu Jagemanns Ansicht, unabkömmlich zu sein (vgl. S. 537). Im Prinzip trafen also zwei gleichgesinnte Menschen aufeinander:

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[Ü]ber ihre künstlerischen Ziele waren und blieben sich Caroline und Goethe einig, der Dissenz [sic] bestand nur darin, wie sie gemeinsam zu erreichen waren. Und daraus ergaben sich gemessen an einer zwanzigjährigen Zusammenarbeit zwar wenige, doch signifikante Konflikte. (S. 564)
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Was aber waren ihre gemeinsamen Ziele? – Über Goethes künstlerische Ansichten wird der Leser an späterer Stelle nur kurz und wenig aussagekräftig informiert: »Goethes Feststellung, ›der Hauptzweck‹ des Weimarer Hoftheater[s] sei, ›dreymal die Woche bedeutende, gefällige Vorstellungen zu geben‹, beinhaltet, so banal sie klingt, sein ästhetisches Programm.« (S. 586)

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Es fällt schwer zu glauben, dass dies die einzigen künstlerischen Ziele gewesen sein sollen. Dass Emde zumindest in Goethes Fall diese Meinung vertritt, bestätigt sie in einem anderen Kontext, in dem sie sich Goethes Ansichten zur Schauspielkunst widmet. Als Ausgangspunkt ihrer Argumentation stellt Emde fest, dass Goethe die Weimarer Ensemblemitglieder »die Schauspielkunst nicht wissenschaftlich studieren« ließ. Den Grund sieht sie im Wesen des Theaterdirektors, den sie als despotisch und machtbesessen beschreibt. Er wollte die Schauspieler nicht als »Mitschöpfer« akzeptieren, denn, so behauptet Emde, sein »Mangel an Erfahrung, seine dilettierenden Versuche wären nicht zu rechtfertigen gewesen, seine Anachronismen nicht zu verbergen. Und: Seine Theaterarbeit hätte eine Dynamik bekommen, die nicht nach Maximen zu steuern war.« (S. 575)

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Bei solch drastischen Ansichten ist es überraschend, dass Emde an anderer Stelle die Vermutung aufstellt, dass sich Goethe an Jagemanns Rollenkunst »emporstudierte« (vgl. S. 559), um daraus seine Ansichten zur Schauspielkunst zu entwickeln. Später heißt es allerdings, dass er bestrebt war, die »Schauspielkunst auf das Handwerk zu reduzieren« (S. 575), während Caroline Jagemann gerade in Schillers Bemühungen (Emde verweist hier hauptsächlich auf Schillers Text Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie) »den entscheidenden Gewinn der Schauspielkunst der letzten Jahrzehnte [sah], mit dem sich diese vom Handwerk emanzipiert hatte – und den wollte sie sich von Goethe nicht nehmen lassen.« (S. 579)

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Sehr viel Einheitlichkeit spricht hier nicht aus den von Emde aufgezeigten künstlerischen Bestrebungen Goethes und Caroline Jagemanns. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, dass die Herausgeberin – zum Teil von einer offensichtlichen Sympathie für die Schauspielerin und Opernsängerin geleitet – ihre eigenen früheren Behauptungen widerlegt. Letztlich überträgt sie die in der Forschung vorherrschenden Urteile über Caroline Jagemann auf Goethe: Nun ist er der Despot, eigentlich ein Kunstbanause, dem es nur um seine Macht ging. Wäre nicht eine differenziertere Darstellung glaubhafter gewesen?

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Fazit

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Dennoch soll Emde das Verdienst um die Forschung zum Weimarer Hoftheater nicht abgesprochen werden. Sie ist nicht, wie viele vor ihr, der Versuchung erlegen, altbekannte Meinungen wiederzugeben und lediglich neu zusammenzustellen. Anhand neuer Quellen und einer kritischen Reflexion erlangt sie Erkenntnisse, die einen veränderten Blick auf das Verhältnis zwischen dem Theaterdirektor, der ersten Sängerin und dem Landesherrn eröffnen. Zusätzlich liefert Emde durch ihre Darstellung neue Interpretationsansätze für die Deutung des künstlerischen Lebens im klassischen Weimar und die Zeitepoche an sich.

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Es kann also schließlich nur nochmals betont werden: Bei der zweibändigen Ausgabe Selbstinszenierungen im klassischen Weimar: Caroline Jagemann handelt es sich um eine umfangreiche und aufschlussreiche Studie über das Leben und die künstlerischen Karriere Caroline Jagemanns, die auch die Schwierigkeiten einer am Theater tätigen, begabten und ehrgeizigen Frau sowie den Theateralltag im 18. Jahrhundert, die Mannheimer und Weimarer Verhältnisse und die Schwierigkeiten der Mätresse eines Landesherrn aufzeigt. Mit der von Emde herausgegebenen Edition liegt ein Werk vor, das gut und leicht zu lesen ist und sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch für interessierte Laien zu empfehlen ist.



Anmerkungen

1 
Karl August Varnhagen von Ense an Caroline von Heygendorff (geb. Jagemann) über deren Autobiographie, Brief vom 25.2.1847: »Ihre Denkwürdigkeiten geben indeß noch mehr, als das frische Bild eines für ganz Deutschland wichtigen Lebenskreises, sie geben das schönste Zeugniß einer edlen reinen Seele, denn die Schreiberin selbst schwebt hoch über allen Begegnissen.« (S. 870)   zurück
2 
Bereits in ihrer Dissertation beschäftigte sie sich mit diesem Themenbereich – Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben, ihre Schriften und ihr Publikum. Amsterdam, Atlanta 1997. Vgl. hierzu auch die Rezension von Ute Daniel bei IASLonline vom 28.4.2000 unter der URL http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/daniel.htm (letzter Zugriff: 26.06.2006).   zurück