Hohmann über Widdig: Culture and Inflation in Weimar Germany

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Sandra Hohmann

Das kulturelle Leben in Zeiten der Inflation

  • Bernd Widdig: Culture and Inflation in Weimar Germany (Weimar and now; 26) London u.a.: University of California Press 2001. 277 S. Geb. ca. € 53,68.
    ISBN 0-520-22290-3.


Mit der Arbeit "Culture and Inflation in Weimar Germany" hat Bernd Widdig eine Studie vorgelegt, die den Einfluss der Inflation auf verschiedene kulturelle Bereiche der Weimarer Republik untersuchen will. Die breit angelegte Analyse misslingt jedoch weitgehend; die Gründe hierfür sollen im Folgenden dargelegt werden.

Der Stand der Forschung

Die Inflation in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik war zwar bis in die 1970er Jahre ein von der Forschung vernachlässigtes Gebiet, jedoch hat sich dies zwischenzeitlich insbesondere durch die Arbeiten des amerikanischen Historikers Gerald D. Feldman geändert. In der Reihe "Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin" beispielsweise liegen bis heute mehrere von Feldman herausgegebene Bände vor, die sich auf verschiedene Art und Weise mit den Ursachen und Auswirkungen der Inflation befassen, wobei die sozialhistorischen und ökonomischen Aspekte die Schwerpunkte bilden.

Die Auswirkungen der Inflation auf die Kultur der Weimarer Republik wurden zwar in diesem Rahmen ebenfalls untersucht, bislang allerdings nur in Aufsätzen, die einen speziellen Gesichtspunkt beleuchteten. Genannt seien stellvertretend die Aufsätze von Frank Trommler oder Eva Maria Welskop-Deffaa in dem Band "Konsequenzen der Inflation". 1 Was bislang jedoch fehlt, ist eine Gesamtdarstellung, in der der Einfluss der Inflation auf die Kultur, d.h. insbesondere auf die zeitgenössischen Texte und Filme, untersucht wird.

Genau diesem Manko will Widdigs Studie abhelfen:

I argue in this book that inflation is an integral and essential part of modern culture and that it intensifies and condenses the experience of modernity in an frightening, often traumatic way. (S.23)

Dabei sollen Aspekte offen gelegt werden, die mit dem Geldverkehr verbunden sind und die durch die Inflation in den Vordergrund gerückt werden:

the aspects of circulation, massification, and devaluation will also help us to uncover traumatic and hidden manifestations of the inflationary experience in different cultural and artistic expressions. (S.69)

Überall Inflation? Arbeitsfelder und Vorgehensweise

Widdig analysiert unter anderem autobiografische Berichte (Elias Cannettis "Fackel im Ohr"), fiktionale Texte (Canettis Roman "Die Blendung", Heinrich Manns Novelle "Kobes"), Filme ("Dr. Mabuse, der Spieler", "Metropolis") und zeitgenössische Karikaturen. Bereits diese Zusammenstellung deutet darauf hin, dass Widdig das Thema kulturwissenschaftlich untersuchen und sich dabei weder auf eine bestimmtes Medium noch auf fiktionale Texte beschränken möchte. Seine Auswahl leuchtet allerdings nur bedingt ein: Viele Dokumente stammen aus der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg (also quasi am Anfang der Inflation), jedoch finden sich in Widdigs Auswahl kaum Dokumente, die nach 1923 entstanden sind, die also die Inflationszeit insgesamt hätten verarbeiten können.

Auch die Anordnung der untersuchten Dokumente ist nicht immer plausibel. So beginnt z.B. das letzte große Kapitel ("Accounts") mit einer Analyse von Alfred Webers "Die Not der geistigen Arbeiter" und ist somit den Analysen von "Metropolis" und "Kobes" nachgeordnet. Dabei war "Die Not der geistigen Arbeiter" – wie Widdig selbst schreibt – ein Zeitdokument, das stark diskutiert wurde und Auswirkungen auf das öffentliche und damit kulturelle Leben hatte. Die Analyse von Webers Rede hätte daher auch die Interpretation von "Metropolis" und "Kobes" bereichern können, da beide erst nach Webers Rede entstanden sind.

Auch die Wahl der Methoden, auf deren Basis Widdig die verschiedenen Texte, Filme und Karikaturen interpretiert, überzeugt nicht immer: während in einem Fall psychoanalytisch oder sozialpsychologisch argumentiert wird, werden in einem anderen Fall vorwiegend historische oder ökonomische Argumente herangezogen, ohne dass ein solcher Wechsel des Zugriffs immer zwingend notwendig gewesen wäre.

Ähnlich problematisch ist die Übernahme theoretischer Kategorien. Beispielsweise werden in dem Kapitel über Elias Cannetti auf wenig mehr als einer Seite Positionen von Karl Marx und Friedrich Engels, Margaret Mead, Ruth Benedict und Walter Benjamin zum Thema "Scham" herangezogen, ohne dass diese einerseits diskutiert oder andererseits zu einer überzeugenden Interpretation von Cannettis Text führen würden (vgl. S.62f.).

Schließlich ist in Widdigs Studie auch keine klare Entscheidung im Hinblick darauf zu erkennen, ob Einzelanalysen aneinander gereiht oder aber Zusammenhänge zwischen verschiedenen Bereichen wie Literatur, Film und theoretischen Annahmen aufgezeigt werden sollen. Insbesondere bei der Interpretation von Eugen Ortners "Gott Stinnes" (vgl. S.152ff.) führt die eher assoziative Reihung zudem immer weiter vom eigentlichen Gegenstand – dem Einfluss der Inflation – weg und lässt den Leser einen durchgehenden roten Faden vermissen.

Widdigs Stärken liegen demgegenüber vor allem in manchen Einzelanalysen und -beobachtungen. Hier arbeitet er mitunter sehr eng am Dokument, wie zum Beispiel in der scharfsinnigen Interpretation einer Karikatur aus dem Simplicissimus zur Analogie von Inflation und Hexensabbat (vgl. S.203f.). Oftmals jedoch werden solche wertvollen Einzelanalysen dadurch wieder aufgegeben, dass Widdig geradezu um jeden Preis Zusammenhänge zwischen zum Beispiel einer Theorie, einem Text und einem Film aufzeigen will, die einfach nicht vorhanden sind. Gerade an solchen Stellen gerät Widdigs Interpretation häufig besonders assoziativ, so dass Verbindungen zwischen beliebigen Gegenständen oder Bereichen möglich zu sein scheinen. Auf diese Weise entstehen manchmal zweifelhafte, teilweise sogar haarsträubende Interpretationen, die die Studie insgesamt misslingen lassen. Auf einige Beispiele möchte ich im Folgenden näher eingehen.

Thesen (1): Subjektive (Zeit-)Erfahrungen

Im Mittelpunkt des ersten großen Abschnitts stehen die individuellen und kollektiven Erfahrungen zur Zeit der Inflation sowie deren Verarbeitung. Zunächst versucht Widdig, eine Analogie zwischen Inflation und Karneval herzustellen. Er stützt sich dabei auf die Feststellung, dass sowohl die Inflationszeit als auch die Karnevalszeit vom Einzelnen als Perioden erfahren worden seien, in denen die bürgerlichen Regeln aufgehoben sind (vgl. S.8f.). Dieses Argument allein vermag jedoch nicht zu überzeugen und auch Widdig selbst widerspricht sich im Laufe seiner Studie, wenn er anmerkt, dass die einzelnen Menschen während der Inflation – verständlicherweise – weniger freudetrunken (wie es im Karneval aber doch der Fall ist) als vielmehr niedergeschlagen und verzweifelt gewesen seien (S.198f.).

Im Anschluss hieran möchte Widdig eine weitere Analogie aufzeigen: Die subjektiven Erfahrungen während der Inflation seien vergleichbar mit den Erfahrungen zu Zeiten des Krieges (vgl. S.25). Sein wichtigstes Argument für diese Analogie besteht darin, dass es bei beiden Phänomenen zu einem Verlust des Zeithorizonts bzw. -gefühls käme. Während der Inflation sei die Möglichkeit zur Planung über das Jetzt hinaus völlig abhanden gekommen; analog dazu hätten Soldaten zur Zeit des Krieges davon gesprochen, dass sie das Zeitgefühl verloren hätten und die Zeit quasi sprunghaft von einem Zustand des langsamen Vergehens zu einer unglaublichen Beschleunigung gewechselt hätte.

Zweifelsohne handelt es sich bei den beiden geschilderten Erfahrungen um Ereignisse, die die herkömmliche Zeiteinteilung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Frage stellen bzw. auflösen. Im Fall der Inflation findet eine Verschiebung >zugunsten< der Gegenwart statt, da keine Planung in die Zukunft mehr möglich ist (und daher auch kein wirkliches Transportieren aus der Vergangenheit). Die Schilderungen der Soldaten, die Widdig referiert, zeigen nun aber eine völlig andere Erfahrung im Umgang mit der Zeit auf, nämlich einen sprunghaften Wechsel von einem Extrem (z.B. der sich >in die Länge ziehenden< Zeit während der Gefechtspausen) in ein anderes Extrem (z.B. der sehr schnell verrinnenden Zeit während einer Kampfsituation). Zumindest in den Augenblicken, in denen die Zeit sich >in die Länge zieht<, ist nun aber sehr wohl Zukunftsplanung möglich, wenn natürlich auch keineswegs sicher ist, dass diese Pläne sich erfüllen werden. Allein die Möglichkeit, dass Pläne sich vielleicht nicht erfüllen, ist aber kein Kriterium dafür, dass der Zeithorizont generell auf die Gegenwart beschränkt wäre und eine Zukunftsperspektive ausgeklammert bliebe.

Es könnte also ohnehin nur ein Teil der subjektiven Zeiterfahrungen, die von den Soldaten geschildert wurde, in Analogie zum Zeitempfinden während der Inflation gesetzt werden, nämlich die Momente extrem beschleunigter Zeit. Hier stellt sich jedoch die Frage, inwiefern dieser Aspekt eine Analogie zwischen Krieg und Inflation rechtfertigt und trägt. Im Zweifelsfall könnte dann nämlich eine Analogie zwischen der Inflation und allen Erfahrungen hergestellt werden, in denen die Zeit als extrem beschleunigt empfunden, d.h. die Zukunft zugunsten der Gegenwart aufgelöst wird. Der französische Soziologe Georges Gurvitch beispielsweise hat dies die >Zeit des Fortschritts< genannt und sie u.a. der Revolte zugeordnet. 2 Die Analogie von Inflation und Revolte wäre dann mindestens ebenso plausibel wie diejenige zwischen Inflation und Krieg.

Thesen (2): Das Spiel mit der Null

Widdig gerät auch in dem folgenden Kapitel ("Under the sign of zero") leicht ins Spekulieren, insbesondere bei der Interpretation von Fotos. Auf einem Bild sind beispielsweise Kinder zu sehen, die mit Inflationsgeld spielen –, ein Motiv, das laut Widdig häufig abgelichtet wurde. Die Beliebtheit dieses Motivs läge darin begründet, so führt Widdig fort, dass mit dem Inflationsgeld auf den Fotos Spielgeld assoziiert würde. >Spielen< wiederum habe die doppelte Bedeutung von (kindlichem) Spielen und dem Spielen im Kasino, wobei durch die gedankliche Verbindung zum Glücksspiel gleichzeitig der spekulative Charakter des Geldes hervorgehoben sei (vgl. S.96f.).

Eben dieser spekulative Charakter des Geldes ist für Widdig ein zentraler Aspekt, der insbesondere bei der Analyse des Films "Dr. Mabuse" wieder aufgegriffen wird. Mit der Interpretation des Fotos möchte Widdig schon an dieser Stelle Anhaltspunkte dafür liefern, dass sich der spekulative Charakter des Geldes auf das kulturelle Leben der Weimarer Republik ausgewirkt hat. Die Brücke, die Widdig dabei vom kindlichen Spielen zum Glücksspiel schlägt, scheint vor allem deshalb sehr assoziativ zu sein, weil neben diesem Foto keine weiteren Dokumente konkret auf die doppelte Bedeutung des Wortes >Spielen< hin untersucht werden. Dadurch entsteht der Eindruck, dass diese Interpretation in erster Linie der Vorbereitung der weiteren Kapitel dient.

In der zweiten Hälfte des Kapitels "Money" stellt Widdig die besondere Bedeutung der Zahl Null für die Inflation und deren Wahrnehmung und Verarbeitung heraus. Dieser Abschnitt ist insbesondere deshalb von großer Bedeutung, als Widdig sich im Verlaufe seiner Studie immer wieder auf diese Passage stützt. Widdigs Argumentation bei der Interpretation der Zahl Null folgt offenbar in erster Linie Brian Rotmans, dessen Ansichten er ungeprüft übernimmt. So ist unmittelbar nicht nachzuvollziehen, weshalb die Null die Abwesenheit anderer Zeichen anzeigen soll oder weshalb sich die Null in der Ambivalenz zwischen >Nichts< und >Unendlichkeit< befinde. Was mathematisch falsch ist, versucht Widdig kulturell zu begründen: im Hinblick auf die Zahl Null als Symbol für "Nichts" gelingt dies natürlich problemlos, denn nicht umsonst hat man sich lange Zeit gegen die Einführung der Null in das Rechensystem gesträubt. Zurecht weist Widdig auf den Protest der christlichen Kirchen hin, die mit der Null "the ultimate evil" (S.99) verbanden.

Weniger überzeugend fällt nun jedoch die Argumentation dafür aus, dass die Null auch den Gegensatz, nämlich die Unendlichkeit, symbolisiere, d.h. "at the beginning of a potentially infinite numerical progress" (S.99) stünde. Dies scheint mir nicht zutreffend zu sein: am Anfang des Zählens steht, wenn überhaupt, die >Eins<; die >Null< ist quasi schon da, wenn wir noch nicht angefangen haben zu zählen bzw. wenn es nichts gibt, was wir zählen könnten. Zur Zeit der Inflation, so Widdig weiter, sei diese Ambivalenz der Zahl Null besonders deutlich dadurch zutage getreten, dass auf den Banknoten zunehmend Nullen abgedruckt waren. Abgesehen davon, dass prinzipiell natürlich jede beliebige Ziffer eine beliebig große Zahl verzehnfachen würde, wenn sie ihr hinten angestellt würde, ist z.B. bei der Zahl 1.000.000 keine der Nullen dafür >verantwortlich<, dass eine riesige Zahl entstanden ist, sondern einzig und allein die vorangestellte Eins. Ohne diese Eins würde aus der Million nämlich ganz schnell wieder – Null.

Aber selbst wenn man von diesem Aspekt absehen, die >Million< im Sinne Cannettis als >große Zahl< betrachten und im Hinblick auf ihre Bedeutung während der Inflation untersuchen würde, gelänge man zu der Schlussfolgerung, dass zwar die ganze Zahl (auch) einen symbolischen Wert besitze, dass jedoch nicht die einzelne Null als Bestandteil einer großen Zahl denselben symbolischen Gehalt aufweise. Vielmehr ist, wie es beispielsweise Cannetti 3 dargelegt hat, die ganze Zahl das Symbol, dessen Bedeutung es zu analysieren gilt.

Anstatt auf die Null zu rekurrieren, wäre es plausibler gewesen, einfach den absoluten Wert der Zahlen einerseits vom Geldwert im ökonomischen Sinne andererseits zu unterscheiden und die Entwicklung dieser beiden Faktoren genau zu betrachten. Die Verunsicherung zur Zeit der Inflation, so würde man dann vermutlich feststellen, resultierte nicht aus einer mehr oder weniger bestimmten Anzahl von Nullen, sondern aus der Divergenz von Zahlenwert und Geldwert. Dieser Unterschied wurde nicht nur immer größer, sondern (und an dieser Stelle ließe sich plausibel auf den Aspekt der >Zeit< verweisen) der Anstieg fand auch in immer kleiner werdenden Zeitabständen statt, so dass dies letztendlich auch aus sozialpsychologischer Sicht das entscheidende Problem für den Einzelnen gewesen sein dürfte.

Widdigs Analyse der Zahl Null und ihrer Bedeutung zur Zeit der Inflation findet ihren erschreckenden Tiefpunkt allerdings erst im Epilog, wo kurz der Einfluss der Inflation auf den Nationalsozialismus diskutiert werden soll. Widdig kommt nun abermals auf die Null zu sprechen:

Hitler's fascination with the number zero is […] related to its dialectical quality signifying both multiplying growth and void. […] His vision of Germany's destiny was one of either unlimited power and glory or total annihilation. In his boundless anti-Semitism, Hitler's declared goal was not to just decimate the Jewish people, but to eradicate them to "zero". (S.228)

Diese höchst spekulative These scheint vor allem einer Untermauerung der vorgegangenen Ausführungen zur Zahl Null zu dienen. Zwar wäre es sicher lohnenswert, die Ambivalenz zwischen der >unbegrenzten Macht< einerseits und der >Auslöschung< andererseits beispielsweise in Hitlers Reden zu untersuchen, jedoch scheint es mir äußerst fragwürdig, hierin – auf der Basis der ebenfalls spekulativen Ausführungen zur Zahl Null – ein Anzeichen für die Auswirkungen der Inflation erkennen zu wollen.

An dieser Stelle sind etwa Cannettis Ausführungen zur "Wollust der springenden Zahl" 4 plausibler; es lässt sich zweifelsfrei nachprüfen, dass Hitler eine Vorliebe für den Gebrauch des Wortes >Million< hatte, das, so Cannetti, wie kein anderes Zahlwort "mit einem Masseninhalt" 5 gefüllt worden sei, dass also als Symbol für die Masse schlechthin fungierte. Auch das lässt sich anhand der Kontexte beispielsweise für Hitlers Reden überprüfen und nachvollziehen, ein wichtiges Kriterium, dem Widdigs Hypothese nicht standhält.

Thesen (3): Blut und Geld bei Oswald Spengler

Im Anschluss an den Abschnitt über die Zahl Null folgt eine kurze Analyse von Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" im Kontext der Inflation. Zwar ist der erste Teil dieses Werks bereits 1918 erschienen, jedoch wurde es rasch zu einem der populärsten Bücher der Weimarer Republik und erfüllte, so Widdig, für die Leser zur Zeit der (Hyper)Inflation eine wichtige Funktion: "The decline of the West gave its readers an ideological framework to integrate the destructive power of money into the larger scope of things" (S.106).

Das Hauptmotiv bei Spengler sei die Zirkulation und gerade zur Zeit der Inflation seien die Leser empfänglich gewesen für die laut Widdig zentralen Modelle der Zirkulation im "Untergang des Abendlandes": Spengler "develops two models of circulation with two opposite >fluids< – blood and money" (S.108). Eine genaue Analyse, die hieran anknüpfen müsste, vermisst man im Folgenden allerdings. Zwar konstatiert Widdig gegen Ende des Abschnitts, dass Spenglers Buch im Kontext der Inflation so wichtig sei, weil es eine Utopie für eine Gesellschaft ohne Geld aufbaue, die an den irrationalen Begriff >Blut< geknüpft sei (vgl. S.110), jedoch hatte bereits Spengler selbst dies explizit formuliert. Hier wäre eine genauere Analyse erforderlich gewesen, um die Implikationen von Spenglers Dichotomie >Geld / Blut< im Kontext der Inflation deutlicher herauszuarbeiten. Widdig liefert so nur wenige und nicht immer ganz nachvollziehbare Argumente für eine Verbindung zwischen "Untergang des Abendlandes" und Inflation in der Weimarer Republik.

Beispielsweise hat Spenglers Ausspruch "Denken in Geld erzeugt Geld" 6 keineswegs etwas mit einer inflationären Vermehrung des Geldes zu tun, wie Widdig mutmaßt (vgl. S.109), denn Spengler geht es nicht darum, dass das Geld durch Vervielfältigung entwertet wird, sondern er fasst mit dieser griffigen Formel einen Aspekt der von ihm aufgestellten Dichotomie von abstraktem Denken, das z.B. Zahlen und imaginäres Geld >erdenkt<, einerseits und dem natur- und erdverbundenen Leben, das Organisches produziert, andererseits zusammen. Spengler sieht das grundsätzliche Problem des Geldes in der mangelnden Anbindung an konkrete organische Produkte, woraus wiederum die abstrakte Fähigkeit der >Geldvermehrung< resultiere. Keineswegs aber impliziert diese Vermehrung eine Entwertung.

Ebenfalls fragwürdig ist Widdigs Feststellung, dass es sich bei >Geld< und >Blut< in Spenglers Werk um zwei Modelle von Zirkulation handle. Knüpft man daran an, dass Spengler das abstrakte Denken in Zahlen und (Geld-)Werten für äußerst problematisch hält, so finden sich im "Untergang des Abendlandes" durchaus Hinweise darauf, dass nicht das Geld als zirkulierendes Tauschmittel zu missbilligen sei, sondern das >Anhäufen< von (imaginärem) Geld. Dadurch, so Spengler weiter, werde es unmöglich, "rein politisch zu denken". 7 Eben dieses Anhäufen von Geld, das ja die Stagnation des Geldflusses bedeutet, dieses "Denken in Geld" 8 ist es jedoch, was Spengler durch >das Blut<, durch den "Cäsarismus" 9 in der Zukunft besiegt sehen will –, und nicht die Zirkulation des Geldes als Tauschmittel für unterschiedliche Produkte, wie Widdig es für seine Ausführungen voraussetzt.

Thesen (4): "Dr. Mabuse" und Peter Sloterdijk

Im nächsten Teil seiner Studie untersucht Widdig anhand ausgewählter Beispiele, inwiefern in bestimmten Figuren Erfahrungen der Inflation widergespiegelt werden, beginnend mit dem Film "Dr. Mabuse, der Spieler". Seine Analyse der Mabusefigur basiert zunächst auf Freuds Kategorie des >Unheimlichen< und ist durchaus plausibel. Im Anschluss daran versucht Widdig allerdings den Bogen zu Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" zu spannen und meint in Dr. Mabuse genau den Zwiespalt zwischen dem ausmachen zu können, was Sloterdijk als "Zyniker" einerseits und "Kyniker" andererseits bezeichnet hat. 10

Anhand dieser Passage lässt sich gut veranschaulichen, was ich oben mit dem Stichwort "Beliebigkeit" bei der Interpretation bezeichnet habe. Bei der "Kritik der zynischen Vernunft" handelt es sich um ein umfangreiches Werk, das kontrovers diskutiert wurde. Widdig entnimmt daraus insgesamt sechs Zitate, die er keineswegs kritisch diskutiert, sondern lediglich zur Bestätigung seiner These heranzieht.

Diese Vorgehensweise bringt eine Reihe von Problemen mit sich. Zunächst einmal stellt sich die Frage, aus welchen Gründen Widdig überhaupt mit Sloterdijks Kategorien operiert. Dass Mabuse sich zynisch verhält, wenn er über diejenigen lacht, deren Geld er >gewonnen< hat, bedarf keiner umfangreichen Analyse. Also, so müsste man vermuten, möchte Widdig die Ambivalenz aufzeigen, die der Figur des Dr. Mabuse innewohnt. Es geht demnach mehr um den Kyniker Mabuse als um den (allzu offensichtlichen) Zyniker. Dann allerdings ist es problematisch, Sloterdijk auf gerade einmal gut drei Seiten abzuhandeln und diejenigen Textstellen wegfallen zu lassen, die den aufgestellten Thesen widersprochen hätten. So ist es laut Sloterdijk eine seit der Antike feststehende Eigenschaft des Kynikers, dass er mittellos ist und außer den Kleidern am Leib nichts besitzt. 11 Eine Eigenschaft, die auf Dr. Mabuse offenkundig nicht zutrifft.

Doch auch abgesehen von diesen Feinheiten kann Widdig darin nicht zugestimmt werden, dass Dr. Mabuse insofern ein Kyniker sei, als dass er sich über die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse mokiere: "He reacts with laughter to a society that, in the face of a lost war and inflation, can only barely maintain values such as order, honesty, and justice" (S.126). Denn natürlich kann Mabuse nur deshalb über die anderen lachen, weil er (finanziell) besser dasteht als jene und zudem die Gedanken der anderen beeinflussen kann, sich also in einer Machtposition befindet. Mabuse lacht also quasi, um in Sloterdijks Begriffen zu Reden, ">von oben<" 12 und entspräche somit vielmehr dem "Herrenzynismus" 13 als dem Kynismus.

Thesen (5): Hugo Stinnes

Hugo Stinnes ist die nächste Figur, die Widdig untersucht. Ein Doppelgänger des Industriellen, der als der Gewinner der Inflation galt, tummelt sich etwa in Heinrich Manns Novelle Kobes. Die Analyse der Novelle wird dem Leser jedoch leider schon zu Beginn durch eine haarsträubende Pseudo-Interpretation vergällt:

>Stinnes< – these two syllables, hard, precise, with undertones of aggression and a certain boorishness, provoked as many associations in the minds of Germans as were conjured up by legendary names such as Rockefeller and Vanderbilt in the imagination of the American public. (S.134f.)

Letzteres ist, trotz des spekulativen Gehalts, nachvollziehbar und wird vermutlich aufgrund der Analogien zwischen Stinnes und etwa Rockefeller sofort einleuchten. Der erste Teil des Satzes erinnert jedoch an unhaltbare und insbesondere unwissenschaftliche Interpretationen von individuellen physiognomischen Merkmalen, die sich der Einzelne keineswegs absichtlich >ausgewählt< hat.

Thesen (6): Die falsche Maria

Ebenso wenig vermag Widdigs Analyse der beiden Maria-Figuren aus dem Film "Metropolis" zu überzeugen: "The two Marias are in essence the difference between hard currency and inflanationary money" (S.162). Widdig nennt als Indizien dafür, dass mit Hilfe der Maschinen-Maria Inflationsgeld symbolisiert würde, dass die Maschinen-Maria sich ebenso wie Geld durch alle Schichten der Gesellschaft bewegen könne, und die Menschen ihr vertrauen würden wie >hartem< Geld.

Später erweitert Widdig die symbolische Bedeutung der Maschinen-Maria noch, indem er sie als Symbol der "uncontrolled duplication" (S.208) und somit als Symbol für das Wesen der Inflation deutet. Am Ende des Films wird die Maschinen-Maria (und mit ihr quasi das Wesen der Inflation) gleich einer Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt, um, so Widdig, die (patriarchalische) Ordnung wieder herzustellen (vgl. ebd.).

Diese Deutung scheint auf den ersten Blick plausibel, erweist sich jedoch bei genauerem Hinschauen als inkonsistent. Zum einen wurde die Entwertung des ehemals >harten< Geldes fortlaufend zur Kenntnis genommen, und es erfolgte eben nicht (wie in "Metropolis") gewissermaßen über Nacht das böse Erwachen, als schon alles zu spät war. Darüber hinaus kann in Fritz Langs Film auch nicht die Rede davon sein, dass die Maschinen-Maria sich >unkontrolliert verdoppeln< würde; vielmehr wurde sie ja zu einem bestimmten Zweck geschaffen, der darin bestand, die Arbeiter gegen den Unternehmer Fredersen aufzubringen. Dieser absichtliche Vertrauensmissbrauch ist wiederum etwas anderes als der Verlust des Vertrauens in eine harte Währung, wie die Inflation sie ausgelöst hat.

Fazit

Die Inflation in der Weimarer Republik als übergreifend-kulturelles Ereignis zu untersuchen, hat die Forschung bisher vernachlässigt. Ziel der Arbeit von Bernd Widdig ist genau eine solche analytische Zusammenführung der verschiedenen kulturellen Teilbereiche des Gesamtgegenstands >Inflation<, ein Anspruch, mit dem jedoch auch die Probleme seiner Studie verknüpft sind. Wo allzu viele Aspekte auf manchmal nur zwei oder drei Seiten ins Spiel gebracht werden, muss die Detailgenauigkeit zwangsläufig auf der Strecke bleiben. Hinzu kommen mitunter allzu gewagte Interpretationen, die die überzeugenderen Passagen überlagern.


Sandra Hohmann
Gerhard-Mercator-Universität Duisburg
Institut für Germanistik
Lotharstraße 65
D-47057 Duisburg

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Anmerkungen

1 Gerald D. Feldman u.a. (Hg.): Konsequenzen der Inflation. (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin; 67: Beiträge zu Inflation und Wiederaufbau in Deutschland und Europa 1914–1924) Berlin: Colloquium Verlag 1989; darin besonders die Beiträge von Frank Trommler: Inflation, Expressionismus und die Krise der literarischen Intelligenz (S.287–305) und Eva Maria Welskop-Deffaa: Die "Inflationsnovelle" aus dem "Triptychon des Teufels". Ein wirtschaftsgeschichtlicher Essay zur Nachwirkung der Inflation im Frühwerk Elisabeth Langgässers (S.351–371).   zurück

2 Vgl. Georges Gurvitch: La multiplicité des temps sociaux. In: G.G.: La vocation actuelle de la sociologie, Band 2: Antecedents et perspectives. (Bibliothèque de sociologie contemporaine) Paris: Presses Universitaires de France 1969,3. Auflage, S.325–430, hier S.343.   zurück

3 Vgl. Elias Cannetti: Masse und Macht. Frankfurt / M.: 1980, S. 214f. Cannetti hält zunächst fest, dass die Million "allen Menschen vor[schwebt], deren Ehrgeiz auf Geld gerichtet ist" (S. 214), um dann die Bedeutung der Million während der Inflation zu untersuchen und zu dem Ergebnis zu gelangen: "Die Million, die man so gern gehabt hätte, hält man plötzlich in der Hand, aber es sind keine mehr, sie heißen nur so" (S.215).   zurück

4 Ebd., S.214.   zurück

5 Ebd., S.215.   zurück

6 Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: dtv 1997, 14. Auflage, S.1177.   zurück

7 Vgl. ebd., S.1145.   zurück

8 Ebd., S.1992.   zurück

9 Ebd., S.1193.   zurück

10 Vgl. Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. 2 Bände. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1983, Band 2, S.400f. Hier gelangt Sloterdijk zu einer zusammenfassenden Darstellung der beiden Begriffe.   zurück

11 Vgl. ebd., Band 1, S.297f.   zurück

12 Ebd., Band 2, S.401.   zurück

13 Ebd., Band 1, S.222.   zurück