Holl über Fleischer: Kulturtheorie

IASLonline


Mirjam-Kerstin Holl

Das Ende der "Zwei Kulturen"?
Michael Fleischers Kulturtheorie als
interdisziplinäres Projekt zwischen
biologisch-thermodynamischer Evolutions-
und sozio-kultureller Systemtheorie

  • Michael Fleischer: Kulturtheorie. Systemtheoretische und evolutionäre Grundlagen (Beträge zur Kulturwissenschaft; 5) Oberhausen: Athena 2001. 560 S., 5 Abb. Kart. € 50,-.
    ISBN 3-932740-75-0.


"Kultur" als Herausforderung
für neue interdisziplinäre Zugriffe

Die Tatsache, daß "Kultur" seit geraumer Zeit zu einem viel strapazierten Modewort in den Massenmedien, der Politik und vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen geworden ist, zeigt deutlich, daß das große Interesse an "Kultur" keineswegs dazu geführt hat, die Probleme der Definition und Analyse von "Kultur" zufriedenstellend auszudiskutieren. Folgerichtig stellt Michael Fleischer bereits in seiner Einleitung fest: Ein nimmer enden wollender Kreistanz um "Kultur" als sinnstiftende Patentlösung aller Probleme angesichts Globalisierung und Modernisierung hat die Zahl unterschiedlicher Kulturbegriffe in verwirrender Weise ansteigen lassen.

Kritische Beobachter der kulturtheoretischen Debatten werden feststellen, daß "Kultur" zwar ein wichtiger, nahezu unvermeidlicher Faktor ist, um soziale Prozesse zu beschreiben, daß sich aber auch in den Kulturwissenschaften die Geister an der Definition von "Kultur" scheiden – von den Kontroversen um die Methoden ganz zu schweigen. Das entsprechende Methodendilemma läßt sich nur dann lösen, wenn alle beteiligten Disziplinen von der Methode der Abgrenzung auf das Prinzip des fruchtbaren Dialogs und der selbstkritischen Methodenreflexion umstellen. Es verwundert daher nicht, daß sich die Aufrufe zu mehr sinnvoller interdisziplinärer Zusammenarbeit und methodischer Selbstreflexivität häufen – auch wenn sie selten genug erhört werden. Um so wichtiger sind deshalb Methoden, die es erlauben, Dialoge und vielleicht auch Synthesen zwischen verschiedenen Disziplinen herzustellen.

Unter diesem Vorzeichen gesehen ist Michael Fleischers Kulturtheorie nicht einfach ein weiterer Theorievorschlag in der Flut der Kulturtheorien, sondern bereits eine Reaktion auf die Forderungen, daß man für das Thema "Kultur" Methodentransfers und Verknüpfungen zwischen verschiedenen Disziplinen anstreben sollte.

Michael Fleischers Kulturtheorie
als Plädoyer für Interdisziplinärität?

Da lange Zeit die Untersuchung der "Kultur" Domäne der – vorzugsweise hermeneutischen – Geisteswissenschaften war, wird Kulturtheorie häufig immer noch unter dem Vorzeichen der "Zwei Kulturen" und der dadurch begründeten exklusiven Trennung zwischen erklärenden Naturwissenschaften und verstehenden Geistes- und Kulturwissenschaften gesehen. Das hat dazu geführt, daß einige Naturwissenschaftler mit dem Verweis auf die Objektivität ihrer Methoden Phänomene wie "Kultur" und "Weltbilder" für irrelevant halten und auch Geisteswissenschaftler auf der unterschiedlichen Wesensart der Gegenstandsbereiche und der daraus resultierenden Differenz der Methoden beharren.

Einige neuere Kulturtheorien nutzen jedoch die vermittelnde Rolle sozialwissenschaftlicher Ansätze, so daß sich Austauschprozesse zwischen geisteswissenschaftlichen und soziologischen Methoden ergeben. Mit der Entwicklung der Systemtheorien, die in ihren wesentlichen Zügen aus Disziplinen wie Biologie und Kybernetik stammen, ergeben sich zusätzlich Möglichkeiten, naturwissenschaftliche Methoden und Ergebnisse in den Wissensaustausch einzubinden und dem Mythos der "Zwei Kulturen" den Todesstoß zu versetzen.

Betrachtet man in diesem Kontext die Kulturtheorie von Michael Fleischer, so fällt auf, daß er die verschiedenen systemtheoretischen Ansätze aus Thermodynamik, Biologie, Soziologie und Kulturwissenschaft nicht nur vergleicht, sondern vor allem nach Ähnlichkeiten sucht, die für die Konstruktion einer neue Kulturtheorie nutzbar gemacht werden können. Daraus läßt sich erklären, daß Fleischer allein ein ganzes Kapitel mit 113 Seiten bestimmten Ansätzen aus Anthropologie, Kultursemiotik, Soziologie und anderen Disziplinen widmet, um auf diese Weise die Aspekte zu diskutieren, die für den Entwurf seiner eigenen Kulturtheorie relevant sind. Diese Übersicht über verwandte theoretische Ansätze zentriert sich auf die Konstruktionseinsicht und den Bezug der Weltkonstruktion auf semiotische Systeme, die in Fleischers neu entworfener Kulturtheorie ebenfalls eine zentrale Rolle spielen.

Dementsprechend ist die Auswahl der im ersten Kapitel vorgestellten Ansätze nicht als historischer Überblick zu verstehen, der zeigen soll, was der Autor an wissenschaftlichen Ansätzen kennt und was es alles an Überlegungen über Kultur gibt. Bereits in seiner Einleitung grenzt sich Fleischer von dem Usus ab, die Entwicklung des Kulturbegriffs seit der Antike zu skizzieren – ihm geht es um die wissenschaftliche Beschäftigung mit "Kultur", die erst Ende des 19. Jahrhunderts beginnt und vor allem im 20. Jahrhundert zur Entwicklung von Theorien führte, die für Fleischers Erkenntnisinteresse und methodische Ausrichtung wichtig sind (S. 9).

Sein Überblick ist jedoch auch in methodologischer Hinsicht selektiv, denn Fleischer motiviert seine Vorgehensweise damit, daß er alle "[s]ogenannte[n] teilnehmende[n] Ansätze (wie z.B. hermeneutische, darunter dekonstruktivistische Ansätze)" außer acht läßt, weil sie nicht die methodologische Ausrichtung der Arbeit betreffen, ohne diese jedoch kritisieren oder in ihrer Legitimität angreifen zu wollen (S. 9). Seine Abgrenzung von den herkömmlichen hermeneutischen Ansätzen hat also damit zu tun, daß in ihnen Beobachterstandpunkt und Gegenstand vermischt werden und das Problem der Intention (des Senders beziehungsweise Autors) behandelt wird, das für seinen Ansatz irrelevant ist (siehe z.B. Kapitel 8). Auf diese Weise markiert Fleischer die Abkehr von der klassischen geisteswissenschaftlichen Tradition, weswegen es auch nicht verwunderlich ist, daß im Kapitel "Weltbild" einschlägig bekannte wissenssoziologische Ansätze mit hermeneutischer Ausrichtung (z.B. Dilthey und Jaspers 1 ) nicht ausdrücklich diskutiert werden.

Die Interdisziplinärität von Fleischers Kulturtheorie ist somit weniger auf den Dialog mit den klassischen Geisteswissenschaften ausgerichtet, sondern konzentriert sich eher auf den Theorietransfer zwischen naturwissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Systemtheorien sowie auf die Verknüpfung zwischen Diskursanalyse und empirischer Forschung (z.B. in Anknüpfung an die Empirische Literaturwissenschaft – vor allem in Form des Ansatzes von S. J. Schmidt 2 ).

Die eigentliche interdisziplinäre Qualität von Fleischers Theorieentwurf zeigt sich darin, daß er die Grenzen zu den mathematisierten naturwissenschaftlichen Systemtheorien aufbricht, indem er möglichst schlüssig die biologische Systemtheorie der Evolution von Rupert Riedl, die selbst wieder Bezüge zu Annahmen der Thermodynamik hat, in eine Sozial- und Kulturtheorie umsetzt. Das Ziel Fleischers ist, eine der Komplexität des Gegenstandes angemessene und griffige Kulturtheorie auf der Basis allgemeiner Systemgesetze zu formulieren, die für alle Systemarten – biologisches, sowie soziales und kulturelles System – gelten.

Auf diese Weise wird allerdings auch ein Problem innerhalb der Systemtheorie sichtbar, das von manchen Anwendern übersehen wird, das jedoch bei Insidern heftige Diskussionen ausgelöst hat: Die Systemtheorie ist keineswegs in sich so einheitlich, wie manche Anwender unterstellen, zumal sich die soziologischen Systemtheorien oft deutlich von den naturwissenschaftlichen Systemtheorien unterscheiden, nicht zuletzt weil sie von geschlossenen, statt von offenen Systemen ausgehen (siehe Kapitel 2). Man muß also allein aufgrund dieser Differenzen korrekterweise von Systemtheorien reden.

Durch diese internen Unterschiede ergeben sich auch einige Kritikpunkte für bisherige Methodentransfers – etwa bei der Übernahme der naturwissenschaftlichen Konzeptionen von Varela und Maturana 3 durch die soziologische Systemtheorie Luhmanns, die damit zu tun haben, daß beim Methodentransfer naturwissenschaftliche Begriffe nicht zureichend und korrekt auf die neuen soziologischen Zusammenhänge übertragen wurden. 4

Fleischer reagiert auf diese Kritik insofern, als er die Riedelsche Systemtheorie in die Entwicklung der Systemtheorien einordnet und ihre Grundlagen und ursprünglichen Begriffsdefinitionen detailliert vorstellt (Kapitel 2 und 3), um sie dann sorgfältig – Begriff für Begriff – und mit entsprechenden selbstkritischen Abwägungen in eine Kulturtheorie zu übertragen (Kapitel 4 bis 7):

Das, was ich […] vorhabe, nämlich die Konzipierung der >Kultur< als ein im Sinne der Thermodynamik offenes System und ein dem Evolutionsmechanismus – im Sinne der Systemtheorie der Evolution – unterliegendes System, ist – vorsichtig ausgedrückt – nicht unproblematisch. Dabei soll zunächst einmal versucht werden die Frage zu beantworten, ob es sich beim Vergleich der naturwissenschaftlichen und der kulturwissenschaftlichen Phänomene um eine Analogie oder um eine bloße Ähnlichkeit (im oben definierten Sinne) handelt. Mit anderen Worten: Liegen hier unterschiedliche Wege der Anwendung ein und desselben Mechanismus zur Erfüllung der gleichen Funktion, nämlich der Systemerhaltung, vor, oder zwei gänzlich verschiedene Mechanismen? Biologische und kulturelle oder soziale Systeme weisen zwar eine unterschiedliche Beschaffenheit auf, bilden aber generell eine einheitliche Gegebenheit, das System des Lebendigen. […] Eine andere Möglichkeit wäre, anzunehmen, die Kultur (und das Soziale) sei etwas den biologischen Systemen grundverschiedenes und beruhe auf eigenen, für das Kulturelle spezifischen Gesetzen, auf jeden Fall nicht auf solchen, wie sie in den Naturwissenschaften definiert sind. Dabei sollte man bedenken, daß beide und nicht nur eine der beiden Sichtweisen zum einen Hypothesen sind und zum anderen einer Begründung bedürfen. Die Annahme, es handle sich bei >Kultur< um ein selbständiges nicht gesetzmäßiges Phänomen, muß ebenfalls bewiesen oder zumindest belegt werden. (S. 241, Hervorhebung im Original)

Die zitierte Begründung seiner Vorgehensweise zeigt, daß Fleischer den Methodentransfer auf der Basis eines hypothetisch-kritischen Realismus absichert und von einer prinzipiellen Gleichartigkeit der biologischen und sozialen beziehungsweise kulturellen Systeme ausgeht. Hinzu kommt die Annahme, daß die verschiedenen Systemarten durch vernetzte funktionelle Kausalität miteinander verbunden sind, was eine methodische Trennung im Sinne der "Zwei Kulturen" folgerichtig aufhebt:

Nun leite ich daraus eine Plausibilitätsthese ab, und sage, es ist wahrscheinlicher, daß ein Produkt von etwas – die Kultur als Produkt des biologischen Systems – die Gesetze dieses Etwas (des biologischen Systems) ebenfalls aufweist, als daß das Produkt vollkommen neue, unabhängige Gesetze entwickelt hätte, nach denen es auch noch selbst generiert sein müßte, wobei notgedrungen anzunehmen wäre, es handle sich um nicht-naturwissenschaftliche Gesetze, womit wiederum ein Erklärungsbedarf, um nicht zu sagen, -notstand entstünde. Die These – Kultur basiert als Produkt der Natur auf gleichen Gesetzen, auch wenn diese andere, eben kulturspezifische Auswirkungen und Ausprägungen haben (mögen) als die Natur selbst – beansprucht hier nur Plausibilität und soll als Annahme gelten. (S. 242)

Positionierung gegenüber den
soziologischen Systemtheorien
von Parsons und Luhmann

Da die soziologischen Systemtheorien von Talcott Parsons und Niklas Luhmann 5 schon seit Jahrzehnten zu den etablierten Ansätzen gehören, haben sie bisher die einschlägigen Diskussionen in den Geistes- und Sozialwissenschaften bestimmt. Namentlich die Systemtheorie Luhmanns hat in den letzten zwanzig Jahren einen Boom erlebt, der jedoch auch von regen Debatten um die Konstruktions- und Anwendungsprobleme bestimmt war und ist. Mit seinem Plädoyer für eine Theorie der offenen Systeme schert Fleischer bewußt aus der bisherigen Tradition der soziologischen Systemtheorien aus und formuliert eine Alternative, welche sich eher an der Allgemeinen Systemtheorie orientiert, die offene Systeme untersucht und außerdem sorgfältig zwischen dem allgemeinen System und den Systemausprägungen unterscheidet (siehe z.B. S. 113).

Diese Annahmen implizieren, daß Systeme für ihre Selbsterhaltung ihre jeweilige Umwelt benötigen, aus der sie beispielsweise Material aufnehmen und auch wieder abgeben, so daß ein dynamisches Fließgleichgewicht entsteht. Dadurch können sie nicht völlig geschlossen und nur partiell selbstreferentiell sein. Die Unterscheidung zwischen allgemeinem System und den Systemausprägungen läuft darauf hinaus, daß alle Systemarten dieselben Mechanismen haben – nach Riedel und nach Fleischer sind dies "Norm", "Hierarchie", "Interdependenz" und "Tradierung" –, aber in der konkreten Umsetzung unterschiedliche Formationen zustande kommen.

Von den soziologischen Systemtheorien übernimmt Fleischer zumindest die Annahme, daß die menschlichen Individuen zwar wichtige Vorbedingungen für die sozialen (und kulturellen) Systeme, interaktive Elemente aber deren eigentliche Bausteine sind. Dieses Konzept wird von Fleischer mit entsprechenden Annahmen zur Kultursemiotik verbunden und baut damit einen wichtigen Aspekt ein, dessen Fehlen in der Systemtheorie Luhmanns oft als Defizit gebrandmarkt wurde.

Mit der Entscheidung gegen eine individualistisch ausgerichtete handlungstheoretische Modellierung reiht sich Fleischer in die einschlägige Tradition des methodologischen Kollektivismus ein, der Individuen und deren innere, psychische Vorgänge als theoretische Bezugsgrößen weitestgehend ausspart. Eine weitere Verbindung zur soziologischen Systemtheorie ergibt sich durch den Bezug zum systemtheoretisch abgeleiteten Konstruktivismus von Siegfried J. Schmidt, 6 aus dem einige Anregungen aufgenommen werden – z.B. die Trennung zwischen dem Text als Kommunikatbase und dem Kommunikat als Teil eines Rezeptionsprozesses (siehe dazu auch S. 480 – 488). Die Position des Radikalen Konstruktivismus wird jedoch von Fleischer im Sinne eines moderaten Konstruktivismus abgewandelt (z.B. S. 444).

Gegenüber Parsons und seiner statischen Systemkonzeption ergibt sich die Möglichkeit, soziale und kulturelle Systeme dynamischer erfassen zu können, weil nun auch die Austauschprozesse mit der Umwelt und die Techniken zur Herstellung von Fließgleichgewicht und jeweils neuen Ordnungszuständen in eine genauere Analyse einbezogen werden.

Gegenüber Luhmanns Systemtheorie besticht Fleischers Konzeption zum einen durch sehr viel präzisere Begrifflichkeiten. Fleischer kritisiert in diesem Zusammenhang mehrfach Luhmanns Begriff der Komplexität als unsinnigen, weil nicht korrekt definierten Begriff, der wohl im Sinne der Allgemeinen Systemtheorie eher Kompliziertheit meine: Er selbst geht davon aus, daß die Kompliziertheit der Umwelt nicht reduziert werde kann, weil sie gegeben ist, und daß sie die Operationen des Systems nicht tangiert – diese könnten auch durchaus höhere Komplexität und höhere Ordnung aufweisen als die Umwelt (siehe S. 153).

Zum anderen vermeidet Fleischer das Problem, die operative Schließung funktional ausdifferenzierter sozialer Systeme und die Sinnhaftigkeit der jeweils spezialisierten binären Mediencodes verteidigen zu müssen. Gerade die Frage nach den exklusiven binären Codes der Funktionssysteme hat sich in der neueren Luhmannforschung zum Problem entwickelt – besonders im Falle des Kunstsystems, dessen von Luhmann vorgeschlagener binärer Code in die Kritik geriet und dessen Status als autonomes System angesichts der Vermarktungsstrategien von Verlagen sowie der Mixtur von Kunst und "Infotainment" in den Massenmedien von manchen Forschern angezweifelt wird. Fleischers Konzept der offenen Systeme hingegen vermeidet konsequent Vorstellungen von völliger operativer Schließung und Autonomie, die für ihn folgerichtig mit Homöostase einhergehen – das heißt, die betreffenden Systeme sind nicht wirklich dynamisch und flexibel, wie Luhmann meint, sondern auf einen eingestellten Sollwert fixiert (S. 201).

Gleichzeitig ermöglicht Fleischers Zugriff mit den Konzepten von Interdiskursen, Interkulturellen Diskursen, Weltbild und Stereotypen eine variablere Untersuchungsperspektive, die Austauschprozesse zwischen sozialen Gruppen und deren Kulturkonzepten zu analysieren erlaubt, die Luhmann allenfalls durch den vagen Begriff der Begleit- oder Sondersemantik abzudecken vermag. Mit den letztgenannten Begriffen aus Fleischers Kulturtheorie könnte sich also ein fruchtbarer Dialog zu bestimmten Ansätzen der vergleichenden und der postkolonialen Literaturwissenschaft ergeben (z.B. Homi Bhabhas Konzept des "Dritten Raumes" 7 , bei dem es ebenfalls um interdiskursive und interkulturelle Aushandlungsprozesse geht oder zur Theorie des sozialen Gedächtnisses 8).

Die methodologische Basis der Kulturtheorie Fleischers

Aus der Zuordnung zur Allgemeinen Systemtheorie und der Genese aus der biologisch-thermodynamischen Systemtheorie resultieren bestimmte methodologische Annahmen, die zeigen, daß Fleischer sehr reflektiert mit seiner Theorie und deren erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Implikationen umgeht.

In seiner intensiven Auseinandersetzung mit den verschiedenen Versionen des Wirklichkeitsbegriffs (Kap 1.13.1) sowie der Analyse des Funktionsbegriffs in Sozial- und Naturwissenschaften (Kap. 2.4.) entscheidet sich Fleischer für eine moderate Variante des Konstruktivismus – einer Kombination von kritischem und hypothetischem Realismus –, die manches Argument mit der auf biologisch-naturwissenschaftlichen Fundamenten beruhenden evolutionären Erkenntnistheorie Gerhard Vollmers 9 teilt (das wird zwar nicht explizit benannt, läßt sich jedoch an der Art der Argumentation und durch einen Blick in das Literaturverzeichnis nachvollziehen).

Diese methodologische Position unterscheidet sich vom Radikalen Konstruktivismus eines Siegfried J. Schmidt 10 darin, daß der Systembegriff nicht instrumentell, sondern ontologisch definiert wird (siehe dazu S. 95 – 96 und S. 444). Mit anderen Worten heißt das: Fleischer geht davon aus, daß Systeme real existent sind, und nimmt demzufolge an, daß sie auch nach den postulierten Mechanismen funktionieren. Damit verbunden ist die Annahme, daß die Realität niemandem direkt und unverfälscht zugänglich ist – daher hat Kultur als "Zweite Wirklichkeit" eine konstruktive Filterwirkung –, daß man aber begründeterweise von bestimmten real existierenden Entitäten wie den Systemen ausgehen kann.

Mit der Entscheidung für einen hypothetischen Realismus ergeben sich wesentlich unproblematischere Verbindungen zur empirischen Forschung im Sinne des empirisch-analytischen Ansatzes: Das zeigt sich daran, daß Fleischer für den Übergang zwischen Theorie und Praxis auf der Basis der Überlegungen Mario Bunges 11 ein Forschungsprogramm formuliert, welches selbst wieder eine selbstreflexive Weiterentwicklung der Diskussionen zwischen dem Kritischen Rationalismus Karl R. Poppers 12 und den Erkenntnissen des Wissenschaftstheoretikers Imre Lakatos 13 ist (der Bezug zu Lakatos zeigt sich darin, daß es Fleischer auch um einen Theorievergleich im Sinne der Problemlösungskapazität geht).

Mit dieser Form der selbstreflexiven Methodik ist einerseits eine gewisse Offenheit gegenüber der Variabilität der untersuchten Daten, andererseits eine kritische Selbstkontrolle gewährleistet. In den genannten methodologischen Rahmen sind nun konkrete Verfahren wie Umfragen, Erhebungen und Experimente sowie – als Hauptmethode – die Diskursanalyse integriert. Letztere erhebt den Anspruch, von hermeneutisch-philologischen Implikationen weitestgehend bereinigt zu sein und Bezüge zur Kultursemiotik zu garantieren. Sie hat zum Ziel, von individuellen Zügen der Äußerungen zu abstrahieren, um "die allgemeinen Züge, das Typische, die generellen Verfahren der Äußerungsorganisation" herauszuarbeiten (S. 448 – 449).

Diese Vorgehensweise klingt plausibel, dürfte jedoch in der Praxis zu Problemen führen, die mit Operationalisierungen und Relevanzkriterien zu tun haben: Der immer noch schillernde Diskursbegriff wird sicherlich zu Forschungskontroversen führen, da er nicht nur von empirischen Kriterien zur eindeutigen Abgrenzung der diskurstragenden sozialen Gruppe tangiert wird, sondern auch davon abhängt, welche Diskurse beziehungsweise welche Aspekte des jeweiligen Diskurses relevant sind, und wie man diese Relevanz triftig und intersubjektiv nachvollziehbar begründen kann.

Insgesamt zeichnet sich jedoch Fleischers Theoriekonzeption durch eine vorbildliche selbstkritische Reflexion der Methoden aus, was sich daran erkennen läßt, daß ein komplettes Kapitel (Kapitel 8) überwiegend methodischen Problemen wie der Repräsentativität der Daten und Textkorpora gewidmet ist.

Wesentliche Züge der Kultur als offenes System

Das bisher Gesagte zeigt, daß Fleischers Kulturtheorie eine empirisch-analytisch geprägte Systemtheorie ist, deren momentaner Status eher dem eines Modells, denn einer mit Daten gefüllten, überprüften und bestätigten Theorie im eigentlichen Sinne entspricht (bisherige Anwendungen durch Fleischer und andere scheinen immer nur bestimmte Teilaspekte mit empirischem Material konfrontiert zu haben).

Wie bereits erwähnt, bezieht sich Fleischer in seinen Modellierungen auf Annahmen und entsprechende analytisch formulierte Regeln der thermodynamisch-biologischen Systemtheorie. Gemäß seiner These, daß sich thermodynamische, biologische und kulturelle Prozesse prinzipiell ähnlich sind, beschäftigt sich Fleischer intensiv mit den aus der Thermodynamik stammenden Begriffen der Entropie als Motor für Entwicklung und Maß für Ordnung (Negentropie) sowie dem Gleichgewichtszustand beziehungsweise dem Fließgleichgewicht.

Diese Begriffe beschreiben recht präzise die wechselseitigen Einflüsse zwischen einem offenen System und seiner mannigfaltigen Umwelt im Spannungsfeld zwischen Anpassung und Eigendynamik, Stabilisierung und Evolution. Im Anschluß an die ausführlichen Schilderungen der thermodymanischen und biologischen Leittheorien in Kapitel 3 – das zusammen mit den beiden vorangehenden Kapiteln noch zum Vorlauf der eigentlichen Theorie gehört – stellt sich jedoch die Frage, inwiefern man diese sehr präzisen und mathematisierten Theorien äquivalent übertragen kann, ohne daß die Begriffe zu Metaphern werden. Fleischer, der sich dieses Problems bewußt ist, versucht mit plausiblen Argumenten Bedenken gegen den Methodentransfer auszuräumen, indem er darauf hinweist, daß sich gleichartige Systemmechanismen ergeben, weil soziale und kulturelle Systeme sich aus den biologischen Systemen ableiten lassen (besonders S. 241 – 244). Die Frage, ob das auch die Übertragbarkeit der einschlägigen mathematischen Formeln impliziert, bleibt jedoch unbeantwortet.

Dank des Methodentransfers ergibt sich allerdings ein recht präziser Kulturbegriff (siehe S. 307 – 311): "Kultur" ist ein zeichenhaftes Phänomen, und somit nicht ohne Semiotik und Kommunikation denkbar. Als Bündel von Mechanismen und Prinzipien ist sie außerdem ein "relationales und funktionelles Gebilde" (S. 307, Hervorhebungen im Original), das Diskurse hervorbringt. Demzufolge hat sie selbst Systemcharakter und geht als emergentes Phänomen über die einzelnen Individuen hinaus, indem sie Eigenschaften offener, evoluierender und selbstorganisierender Systeme aufweist.

In der sehr detailreichen Übertragung der Systemtheorie Riedels benennt Fleischer die Kernmechanismen des offenen Systems "Kultur" mit den Ordnungsmechanismen "Norm", "Hierarchie", "Interdependenz" und "Tradition", die wiederum die Evolutionsphänomene "Hierarchische Differenzierung", "Reproduktion und Gedächtnis" sowie "Kreativität" hervorbringen (S. 304 – 307: Thesen zum Phänomen Kultur). Mit diesen Aspekten ist gemeint, daß Kultur wie jedes offene System mit Hilfe der Ordnungsmechanismen ein stabiles Fließgleichgewicht gegenüber der Umwelt aufrechterhält und Schwankungen auszugleichen versucht, indem es neue geordnete und stabile (stationäre) Zustände passend zur jeweiligen Umwelt erzeugt. Daraus ergeben sich die Evolutionsphänomene als gleichberechtigte Muster des Fließgleichgewichts.

Nachdem sich die bisherigen Aussagen zur Kultur folgerichtig aus der Übertragung von Riedels Systemtheorie ergeben, stellt sich beim Vergleich mit den soziologischen Systemtheorien die Frage, wie man sich das Verhältnis zwischen den verschiedenen Systemarten – vor allem zwischen sozialen und kulturellen Systemen – vorzustellen hat. Fleischer gibt darauf die innerhalb seines Ansatzes plausible Antwort, daß sich die sozialen Systeme als sekundäre Systeme aus den biologischen Systemen entwickelt haben, während die Kultur als tertiäres System gilt, das auf der Basis der sozialen Systeme entsteht. Kultur ist in bezug auf die sozialen Systeme ein komplexes und in sich differenziertes System, dessen Funktionen (ähnlich der Semantiken Luhmanns) im Bereich der Steuerung von Kommunikationen liegen.

Die interne Stratifikation des Kultursystems und der entsprechenden Diskursebenen folgt der Differenzierung der sozialen Systeme in verschiedene Ebenen von Handlungsystemen (siehe S. 318 – 322): Die kleinste und instabilste Systemebene sind die Interaktionssysteme, die wiederum Teile stabiler, von Regel- und Wertekatalogen bestimmten Subkulturen werden. Die Subkulturen grenzen sich untereinander im Sinne der sozialen Distinktion durch entsprechende Diskurse und Kollektivsymbole ab. Mehrere Subkulturen finden sich zu einer Einzelkultur zusammen, die entweder über das Kriterium Staat oder über Aspekte wie Sprache und Ethnie definiert werden kann. Die Einzelkultur kann sogar nationale Minderheiten außerhalb von geopolitischen Grenzen sowie befreundete Minderheiten (z.B. die Frankophilen) mit umfassen (S. 315).

Diese Art der Definition, die den empirischen Varianten Rechnung zu tragen scheint, wirft die Frage auf, welche Kriterien man überhaupt zur Definition von Einzelkulturen zuläßt – ein Problem, auf das Fleischer in seinem Buch nicht detailliert eingeht, das aber bei der empirischen Umsetzung Schwierigkeiten bereiten dürfte: Wenn auch Minoritäten auf anderem Staatsgebiet dazu gehören, konkurrieren mehrere Einzelkulturen um eine Subkultur. Auf theoretischer Ebene führt das zur Konkurrenz der Merkmale von Einzelkultur, was die Frage nach der Kriterienhierarchie nach sich zieht und außerdem zu einer Ontologisierung von problematischen Konstrukten wie Ethnie führt. Da eine Einzelkultur mehrere Subkulturen umfaßt, finden innerhalb der Einzelkultur Interdiskurse zwischen den Subkulturen statt. Mehrere Einzelkulturen bilden eine meist instabile und großen Fluktuationen unterworfene Interkultur mittels Interkultureller Diskurse. Die sozialen Bereiche, die in der Systemtheorie Luhmanns Funktionssysteme und in der Feldtheorie Bourdieus 14 soziale Felder heißen, spielen bei Fleischer keine theorietragende Rolle, werden jedoch immer wieder als weitere Subsysteme der kulturellen Sinnproduktion erwähnt.

Man kann sicherlich mit Fleischer einen Konsens darüber erzielen, daß Bereiche wie die Wissenschaften für Kultur sehr bedeutsam sind, die methodische Problematik jedoch, die für die Kulturtheorie Fleischers entsteht, resultiert aus der Frage, wie man diese Art von Systemen gegenüber den von ihm genannten Systemen einordnen kann (etwa als Variante der Subkulturen? Oder sind sie bereits interkulturell?), und durch welche Mechanismen sie sich abgrenzen (womit wir im Zweifelsfalle wieder beim Luhmannschen Problem der funktionalen Ausdifferenzierung sind).

Kultur als "Zweite Wirklichkeit"
und die Rolle von Weltbildern und Normativik

Indem das Kultursystem mittels verschiedener Diskurstypen sinnhaft deutende Hypothesen über Realität konstruiert und kommuniziert, entsteht das, was Fleischer die "Zweite Wirklichkeit" nennt.

In den Diskursen regulieren Semantisierungsstrategien die Zusammenhänge der Realitätsdeutung. Neben den Kollektiv- und Diskurssymbolen, die besonders stabile, regulative Deutungsinstanzen sind und kommunikative Verständigung erleichtern (z.B. Freiheit, Nation), gibt es mit den Weltbildern komplette Deutungssysteme. Fleischer definiert sie "als Regulativ, als Steuerungsmechanismus des Kultursystems, das die Organisationsregeln für die übrigen Objekte liefert" und dementsprechend Filterfunktion für Sinnzusammenhänge hat (Kapitel 6, besonders S. 352). Die Organisationsregeln der Weltbilder betreffen Raum- und Zeitverhältnisse sowie Normen und Werte innerhalb von Diskursen (S. 357 f.; Ideologien gelten hier als Sonderfall eines polarisierenden Weltbilds).

Fleischer differenziert das Weltbild in zwei Typen: Das sprachliche Weltbild, das weitestgehend fixiert und wenig manipulierbar ist, und das darauf aufbauende kulturelle Weltbild, das durch die Zusammenhänge zwischen den sozialen Diskursen variabel verändert werden kann (eine Sonderrolle spielt dabei das wissenschaftliche Weltbild, das die moderne Differenz zwischen Aufklärung und Aberglauben markiert).

Da Fleischer an Diskursformationen interessiert ist, wächst dem kulturellen Weltbild eine besonders bedeutsame Rolle innerhalb der Theoriekonstruktion zu. Neben den Weltbildern als Sinnfilter benötigt die Kultur auch noch Mechanismen, die Normales (das nicht reflektierte, weil selbstverständliche Reifizierbare) gegenüber dem Exotischen als Abweichung von der Norm markieren. Dieser Mechanismus der Normativik kommt unter anderem in Form von Stereotypen zum tragen – also von Diskursen, die mit Eigenschaften und Werten aufgeladene soziale Distinktionen thematisieren.

Abschließend formuliert Fleischer eine Systematik der Kulturtypen, die er anhand der Kriterien "paradigmatisch" und "relational" klassifiziert. Paradigmatische Kulturen zeichnen sich durch eine einzige bipolar organisierte Hierarchie von Normen und Werten aus, die allen kulturellen Erscheinungen ihr polarisierendes Weltbild als Raster aufzwingt, und zwar mit der Leitdifferenz vom "Kultur" und "Nicht-Kultur" (S. 436 – 438). Zu diesem Typus gehören vor allem (aber nicht ausschließlich) totalitäre Systeme.

Relationale Kulturen sind demgegenüber komplexer, weil multipolar ausgerichtet. Sie haben demzufolge keine allgemeingültigen, für alle Subkulturen verbindlichen Werte- und Normenhierachien. Zu diesem Typus gehören alle pluralisierten Gesellschaften. Fleischer deutet an, daß der paradigmatische Kulturtyp wahrscheinlich der ältere ist (S. 434), was die Vermutung nahelegt, daß die Umstellung von paradigmatischer zu relationaler Kultur als Modernisierungsprozeß zu beschreiben ist und möglicherweise Zwischenstufen im Sinne von Transformationsgesellschaften anzusetzen sind.

Zusammen mit Phänomenen wie den Interdiskursen und den Interkulturellen Diskursen (z.B. getragen durch ähnlich ausgerichtete Subkulturen) ergibt sich mit diesem Theorieentwurf ein differenzierteres Muster als mit dem Modell der Kulturkreise, wie sie etwa von Samuel P. Huntington 15 formuliert wurden.

Mögliche Anwendungsbereiche

Anwendungsmöglichkeiten für Fleischers Kulturtheorie bieten vor allem die literaturwissenschaftliche und sozialpsychologischen Stereotypenforschung sowie die Mentalitätengeschichte und die Theorie des sozialen beziehungsweise kollektiven Gedächtnisses.

Der Vorteil von Fleischers Methode der Diskursanalyse ist hierbei, daß über die Textsorten hinweg Mechanismen aufgedeckt werden, die beispielsweise den Gebrauch von Stereotypen regulieren. Allerdings sollte eine solche Vorgehensweise durch Überlegungen zu unterschiedlichen Textsorten und deren Darstellungsstrategien ergänzt werden, zumal bereits abgeschlossene Projekte zur Stereotypenforschung wie das VW-Projekt "Fremdwahrnehmung und Nationalstereotype in deutscher und französischer Literatur vom 17. bis 19. Jahrhundert" von Horst Thomé und Ruth Florack 16 gezeigt haben, daß sich die Art der Stereotypisierungen und ihrer Funktion auch an den spezifischen Regeln der Textsorte orientiert (eine Komödie inszeniert Nationalstereotype anders als etwa ein philosophischer Text).

Direkte methodische Anschlüsse an aktuelle literaturwissenschaftliche Forschungsrichtungen ergeben sich außerdem gegenüber der empirischen Rezeptionsforschung (siehe S. 480 – 488), zumal diese durch Fleischers Kulturtheorie systematisch zur inner- und interkulturell vergleichenden Forschung ausgebaut werden könnte. Weitere Anwendungsfelder eröffnet die Erforschung von Wertungsbildungsprozessen in und über Literatur (S. 439 – 442), zumal durch die Vorarbeiten von Simone Winko methodische Verbindungen zu den Forschungsprojekten über Kanon und Wertungen bereits vorhanden sind. 17

Zielpublikum und allgemeiner Nutzen der Theorie

Wie der vorwiegend theoretische Inhalt auf insgesamt 512 Textseiten ausweist, ist Fleischers Kulturtheorie eindeutig für ein Fachpublikum geschrieben, das vorzugsweise aus den Bereichen der Literatur- und Sozialwissenschaften stammt und an der Kombination von textanalytischen Verfahren und empirischen Methoden interessiert ist. Im Gegensatz zu früheren Veröffentlichungen Fleischers (siehe das Literaturverzeichnis im Anhang) wird nun eine systematische Zusammenfassung unternommen, die einem breiten Fachpublikum die Ergebnisse eines spezialisierten Expertenzirkels zugänglich macht.

Dementsprechend baut Fleischer logisch – sozusagen Schritt für Schritt – die Argumentation auf und liefert für alle, die keine einschlägigen Vorkenntnisse in Systemtheorie, Thermodynamik und Biologie haben, entsprechend erläuterte und systematisch hergeleitete Details. Auch die methodologischen Überlegungen und Vorgehensweisen sind ausführlich genug und fundiert formuliert, um selbst für Wissenschaftler, die bisher mehr in konkreten, objektwissenschaftlichen Anwendungsbereichen arbeiteten, nachvollziehbar zu sein.

Auch wenn sich immer wieder konkrete Beispiele zur Illustration finden, ist das Hauptziel des Buches auf die Systematik der neuen Theorie ausgerichtet. Diejenigen Leser, die an einer Umsetzung der Theorie interessiert sind, sind deswegen auf die Veröffentlichungen Fleischers angewiesen, in denen Teile der Theorie anhand konkreter Untersuchungsobjekte erprobt wurden. Da sich die Anwendungen vorzugsweise auf Deutschland, Polen und Rußland beziehen, stellt sich die Frage, inwieweit ein konkret anwendbares Forschungsdesign und entsprechende Operationalisierungen auf andere Länder übertragbar sind.

Im Vergleich zu Methoden wie der Kultursoziologie Bourdieus, deren Terminologie am Anwendungsfall Frankreich entwickelt wurde, dürften geringere Übertragungsprobleme zu erwarten sein, was einen großen methodischen Vorteil für alle interkulturellen Forschungsvorhaben darstellt. (Allerdings ergibt sich aus den Verweisen auch ein Problem für so machen Leser: Einige der – wegen der darin enthaltenen Forschungsüberblicke interessanten – Literaturangaben beziehen sich auf in Polnisch abgefaßte Texte.)

Positiv zu vermerken sind die klaren Instruktionen des Lesers in der Einleitung, die zur Orientierung hervorgehobenen Definitionen, die zuweilen eingestreuten, sehr anschaulichen Beispiele sowie die klare Struktur des Buches und der einzelnen Kapitel. Diese Eigenschaften helfen, die Entwicklung der Theorie nachzuvollziehen, erlauben es jedoch auch, das Buch als Nachschlagewerk zu nutzen.

Insgesamt gilt: Auch wenn die Lektüre des Buches einen langen Atem und aufgrund der abstrakten Materie einige Konzentration erfordert, ist sie auf jeden Fall lohnend. Denn das Werk eröffnet mit Hilfe eines präzisen Instrumentariums neue Möglichkeiten einer systematischen Anwendung von Kulturtheorie in den Literaturwissenschaften.


Dr. phil. des. Mirjam-Kerstin Holl
Universität Stuttgart
Institut für Neuere Deutsche Literatur II
Keplerstr. 17
D-70174 Stuttgart
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Ins Netz gestellt am 06.09.2002
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Anmerkungen

1 Vgl. Wilhelm Dilthey: Weltanschauung. Philosophie und Religion. Berlin: Reichl 1911; Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen. 6. Aufl. Berlin: Springer 1971.   zurück

2 Vgl. Siegfried J. Schmidt: Empirische Literatur- und Medienforschung. Siegen: LUMIS-Publ., Siegen Univ., 1995; S.J.S.: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktive Bemerkungen im Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1996.   zurück

3 Vgl. Humberto R. Maturana; Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. 7. Aufl. München: Goldmann 1997.    zurück

4 Zu der Problematik stellvertretend Ulrich Druwe: Politische Theorie. Neuried: Ars Una 1995.   zurück

5 Vgl. Talcott Parsons: Das System moderner Gesellschaften. 5. Aufl. Weinheim; München: Juventa-Verl. 1996; Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Bde., Frankfurt / M.: Suhrkamp 1998.   zurück

6 Siehe Anmerkung 2.   zurück

7 Vgl. Homi Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenberg 2000.   zurück

8 Vgl. die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann, z.B. Aleida Assmann (Hg.): Medien des Gedächtnisses. Stuttgart u.a.: Metzler 1998.    zurück

9 Vgl. Gerhard Vollmer: Evolutionäre Erkenntnistheorie. 6. durchgesehene Aufl. Stuttgart: Hirzel, 1994; G.H.: Wissenschaftstheorie im Einsatz. Stuttgart: Hirzel 1993.   zurück

10 Vgl. dazu Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktive Bemerkungen im Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.   zurück

11 Vgl. Mario Bunge: Epistemologie. Mannheim: Bibliogr. Inst. 1983; M.B.: Finding Philosophy in Social Sciences. New Haven (Conn.): Yale Univ. Press 1996.    zurück

12 Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung. 10., verbesserte und vermehrte Aufl. Tübingen. Mohr 1994.   zurück

13 Vgl. Imre Lakatos: Die Methodologie der wissenschaftlichen Forschungsprogramme. Hg.v. J. Worrall. Braunschweig: Vieweg 1982.   zurück

14 Vgl. Niklas Luhmann (Anm.5); Pierre Bourdieu: Streifzüge durch das literarische Feld. Hg.v. Louis Pinto. Konstanz: UVK 1997.   zurück

15 Vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. 4. Aufl. München: Siedler 1998.   zurück

16 Vgl. Ruth Florack: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Stuttgart u.a.: Metzler 2001; R.F.(Hg.): Nation als Stereotyp. Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück

17 Vgl. Renate von Heydebrand / Simone Winko: Einführung in die Wertung von Literatur. Systematik, Geschichte, Legitimation. Paderborn; München: Schöningh 1996.   zurück