Huck über Weber: Kunst konstruiert Kunst ?

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Christian Huck

Kunst konstruiert Kunst ?

  • Stefan Weber (Hg.): Was konstruiert Kunst? Kunst an der Schnittstelle von Konstruktivismus, Systemtheorie und Distinktionstheorie. Wien: Passagen Verlag 1999. 151 S. 96 Abb. Kart. DM 58,-.
    ISBN 3-85165-357-2.


Der vorliegende Sammelband umfaßt fünf Beiträge (vier Texte und eine Photoreihe), die auf Vorträgen basieren, welche die Verfasser 1998 in der Galerie 5020 in Salzburg gehalten haben. Diese Entstehungsbedingungen schlagen sich auf dreierlei Weise in den einzelnen Texten nieder: Zum einen konzentrieren sich alle auf eine vorgegebene Fragestellung, nämlich: >Was konstruiert Kunst?< Andererseits versuchen sie, ihre Überlegungen möglichst nicht nur an die eigene (soziologische, medien-, kommunikations- oder kunsttheorethische) Disziplin zu richten. Außerdem merkt man den Texten an, daß sie an ein (bestimmtes) Publikum gerichtet sind. Diese äußeren Umstände führen zu übergreifenden Konsequenzen, die kurz diskutiert werden sollen, bevor ich auf die einzelnen Beiträge eingehe.

Was konstruiert Kunst? vs. Was ist Kunst?

Der Klappentext macht deutlich, wovon sich die versammelten Beiträge aus den Bereichen "Konstruktivismus, Systemtheorie und Distinktionstheorie" absetzen wollen: von einem "realistische[n] Denken", das die Frage stellt, "Was ist Kunst (ihrem Wesen nach)?" Es soll "nicht mehr (realistisch-ontologisch) danach" gefragt werden, "was Kunst ist", heißt es in der Einleitung noch einmal. Vielmehr soll "(konstruktivistisch-epistemologisch) danach [gefragt werden], wer oder was Kunst als >Kunst< erzeugt" (S.11). Die Ambivalenz der Titelfrage verbindet diese Frage mit der, was durch Kunst konstruiert wird.

Die Gegenüberstellung von Realismus und Konstruktivismus suggeriert eine Entwicklung, der sich auch die einzelnen Beiträge verschreiben. So scheinen sich die hier vertretenen Theoriebeiträge eine Vergangenheit zu konstruieren, die sie dann mit einiger Leichtigkeit überwinden können – oder um mit Luhmann zu sprechen: "[E]in bereits ausprobierter Stil [muß] abgelehnt werden [...], damit etwas sichtbar Neues unternommen werden kann". Das >realistische Denken< erstreckt sich dieser Ansicht zu Folge von den Anfängen der Philosophie bis zu Adorno (Heidegger wahlweise ein- oder ausgeschlossen), da in dieser Tradition unisono nach dem >Wesen der Kunst< gefragt wurde. 1

Leicht ließe sich nun eine >funktionale< Gegengeschichte entwerfen, die zwar ebenso selektiv und generalisierend wäre, dafür aber zeigen könnte, daß die Frage nach der Kunst immer schon über das >Wesen< dieser hinausging: Ist nicht für Platon Funktion und Wirkungsweise der Kunst entscheidend, wenn er den Zusammenhang von >Künstler< und polis erläutert? Wird hier nicht (auch) von der Gemeinschaft her gedacht, was für sie Kunst ist? Ist es nicht der Zuschauer, der durch sein kathartisches Empfinden für Aristoteles die Kunst konstruiert? Oder später: Bei Hegel hängt das Ende der Kunst entscheidend von der Entwicklungsstufe der Gesellschaft ab.Und schließlich: Zwar kreisen Adornos Reflexionen um das Kunstwerk, doch wenn er die Kunst als "gesellschaftliche Antithesis zur Gesellschaft" konzipiert, die darüber hinaus "nicht unmittelbar aus dieser zu deduzieren" ist, ergibt sich ein hochkomplexes Verhältnis von determinierender Gesellschaft und Widerstand des von ihr Geschaffenen. 2

Poiesis vs. Mimesis ?

Auch die zweite Geschichte – nicht die der Theorie, sondern die der Kunst selber – erscheint mir auf unzulässige Weise vereinfacht. So meint David J. Krieger die "traditionelle Funktion von Kunst" darin zu erkennen, daß diese ">repräsentative< Darstellungen und schöne >Spiegelungen< der Wirklichkeit zu liefern" (S.50) hätte. Die "Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts" (S.47) bricht schließlich mit dieser Tradition. Auch Stefan Weber siedelt die "Befreiung der Kunst vom mimetischen Charakter", vom "(Zwang zum) Abbild der >realen< Natur" zu "Beginn unseres Jahrhunderts [des zwanzigsten, C.H.]" (S.129) an. Die "mimetische Funktion der Kunst", also "die Wirklichkeit darzustellen/abzubilden", "weicht einer poietischen" (S.130). Diese neue Funktion liegt in der "Kreation eigener >fiktiver< Wirklichkeiten" (S.129).

Ein solcher Umbruch – so tatsächlich geschehen – ist jedoch viel eher das komplizierte Ergebnis vielfältiger Überlegungen und Veränderungen zwischen der italienischen Renaissance des Cinquecento und der deutschen Frühromantik. Überhaupt die Vorstellung der mimesis als Abbildung oder Spiegelung zeigt eine Verkürzung an, die eher dem Renaissance-Gemisch aus Neuplatonismus und aristotelischer Regelpoetik entspricht denn den griechischen Quellentexten. Die platonische mimesis steht vielmehr selbst schon im Spannungsfeld zwischen Dar- und Herstellen.Eine binäre Opposition von mimesis und poiesis muß also zuallererst hergestellt werden, um eine Überwindung des einen durch das andere beobachten zu können. 3

Ein Text, an dem sich die merkwürdige Verwicklung der beiden Begriffe historisch aufzeigen ließe, ist Sir Philip Sidneys An Apology for Poetry aus dem Jahre 1583. Sidney verpflichtet den Künstler, hier im besonderen den Dichter, einerseits der aristotelischen "arte of imitation". Doch schon seine Versuche den Begriff der mimesis zu erläutern, zeigen ein Verständnis dieser, das über die Abbildung hinausgeht: "Mimesis, that is to say, a representing, counterfetting or figuring foorth". 4 Figurieren, das Bilden, nähert sich dem Begriff der poiesis. Und so weist Sidney neben der Verpflichtung zur mimesis darauf hin, daß die Griechen den Dichter einen "Poet" nannten. Er führt den Begriff etymologisch auf "Poiein" zurück und übersetzt: "which is to make". Das führt schließlich dazu, die englische Bezeichnung des Dichters als "maker" hervorzuheben. 5 Dieser maker hat sich nicht an das zu halten, "what is, hath been, or shall be", sondern an das, "what may be". 6 Spiegelung der realen Welt oder plurale, mögliche Welten?

Kunst und Literatur

Die Texte des Sammelbandes sind grundsätzlich auf ein Publikum der bildenden Kunst ausgerichtet. Wenn – was selten genug vorkommt – auf Beispiele zurückgegriffen wird, dann entstammen diese nur in Ausnahmefällen der Literatur. Rodrigo Jokisch führt Eduard Mörike an (S. 103/4), alle anderen genannten Künstler (Rauschenberg, Fischli/Weiss, Duchamp, Frank Stella, Goran Dordevic, Christoph Schlingensief, Hermann Nitsch, Otto Mühl, Cornelius Kolig, Mark Rothko etc.), Kunst-Strömungen (ready-mades, objets trouvés, >Kontext-Kunst<) sowie die Beteiligten am System Kunst (bei Siegfried J. Schmidt: "Kunstproduzenten und Akademien", "Galerien und Museen", "Kunstpublizisten", "Käufer und Rezipienten/Nutzer von Kunstwerken", "Kunstverleger und Kunstvermarkter" (S. 44)) gehören zum Bereich der freien Kunst, mit dem sich schließlich auch die zitierten Theoretiker wie Peter Weibel, Boris Groys und Brian Wallis in erster Linie beschäftigen. Auch der gesamte Komplex der Medien- und Cyberspace-Kunst zielt nicht auf genuin text- oder literaturwissenschaftliche Fragestellungen. Letztlich zeigt auch die das Buch durchziehende Bilderskizze eine solch deutliche Ausrichtung.

Das soll nicht heißen, daß die hier behandelten Fragestellungen für Literaturwissenschaftler nicht interessant wären. Vieles verlangt aber eine andere Perspektivierung. So ist die oben angedeutete Diskussion um die Kunst als >Spiegelung< in der Literatur unter ganz anderen Vorzeichen geführt worden – und wenn Stendhal (vermutlich) 1827 einem gewissen Saint-Réal die Aussage machen läßt, "Ein Roman ist wie ein Spiegel, den man den Wegrand entlangträgt", dann ist das immer auch ironisch zu verstehen. 7 Ein solch >naiver Realimus<, wie ihn die hier versammelten Texte suggerieren, entspricht nicht dem komplizierten Realismus-Konzept der Literatur des 19. Jahrhunderts. Auch eine Aussage wie die folgende von Stefan Weber befremdet einen Literaturwissenschaftler: "Kontext-Kunst als bislang avancierteste Form selbstreflexiver Kunst thematisiert ihr eigenes Werden, legt ihre eigenen Entstehungsbedingungen offen" (S.131). Läßt sich das nicht von jedem Sonett Shakespeares sagen? Vom Tristram Shandy? Novalis, Musil, Celan?

Auch die Diskussion darum, wer (welche Personen, Institutionen, Strukturen etc.) bestimmt, was als Literatur gilt, ist in post-kolonialen, gender-orientierten und marxistischen Theorien auf andere Weise geführt worden als hier. So schreibt Terry Eagleton in seiner Einführung in die Literaturtheorie schon 1981 eher rückblickend:

Wir haben bislang also nicht nur entdeckt, daß Literatur nicht in dem Sinn existiert, wie Insekten das tun, und daß die Werturteile, die sie konstituieren, historisch veränderlich sind, sondern auch, daß diese Werturteile selbst eine enge Verbindung zu den gesellschaftlichen Ideologien haben. Sie verweisen uns letzten Endes nicht auf einen privaten Geschmack, sondern auf die Grundannahmen, mit denen bestimmte soziale Gruppen Macht über andere ausüben. 8

Liest man >die Werturteile, die sie konstituieren< ähnlich doppeldeutig wie die Frage >Was konstruiert Kunst?<, dann unterscheidet sich eine solche Aussage allein dadurch von den hier versammelten Texten, daß diese von einer Selbstorganisation sprechen, wo jener machtpolitische Interessen am Werk sieht.

Theorie erzählen

Das Hauptaugenmerk der in Was konstruiert Kunst? versammelten Beiträge scheint allerdings auch nicht auf historischer Nachzeichnung oder detaillierter Phänomenanalyse zu liegen, sondern darauf, eine theoretisch konsistente Begründung für allgemeine Annahmen über die Autonomie der Kunst und ihren konstruktiven Charakter zu liefern. Man meint den Texten anzumerken, daß sie ursprünglich ein interessiertes, aber nicht unbedingt systemtheoretisch, konstruktivistisch, distinktionslogisch geschultes Publikum ansprechen sollten. So erklärt sich vielleicht der erstaunlich weite Fokus, der den Beiträgen gemein ist. Die Bilderskizze Von der Steinzeit bis zum Cyberspace von Gerhard Johann Lischka beginnt bei der Höhlenmalerei von Le Ruth und endet mit einem Blick auf die postmoderne Architektur des Hotel Marriott in New York. Schmidt beschreibt den Weg vom aufrechten Gang des Menschen (S. 24) über die Entwicklung von Kommunikation, Sprache, Schrift und Buchdruck bis zur zeitgenössischen "Medienkunst" (S. 40). Krieger beginnt bei den Grundlagen der Systemtheorie (System, Differenz, Auto-Poiesis) und entwickelt daraus eine "Kybernetik der dritten Ordnung" (S. 60). Jokisch schließlich schlägt den Brückenschlag von den >Gehirn-Oszillationen< auf neuronaler Ebene zum Wesen des Denkens, "so wie es im Westen praktiziert wird" (S. 86). Eine Ausnahme bildet Weber, der eine meta-theoretische Beobachtung von systemtheoretischen und konstruktivistischen Kunsttheorien vornimmt.

Die Tendenz der Texte, bei den Grundlagen (neuronale Prozesse, erste Unterscheidungen) zu beginnen, resultiert m.E. jedoch nicht allein aus der ehemaligen Vortragsform. Vielmehr zeigt dies ein unterschwelliges Mißtrauen gegen die (zumindest prozessuale) Stabilität der eigenen Theorie. Es scheint, als könnten die Ergebnisse, zu denen man mittels dieser Theorie gelangt, nur vor dem Hintergrund einer Darstellung der gesamten Theorie bestehen. Es ist, als würde ein Handwerker seine Kunden ständig darauf hinweisen, mit welchen Geräten und Werkzeugen er zum vorliegenden Ergebnis gekommen ist (um einmal einen typisch luhmannesken Vergleich anzuführen). Das spricht sicherlich für das hohe Maß an Selbstbeobachtung, über das die hier vertretenen Theorien verfügen: die Theorie – wie die Kunst, die sie beschreibt – "thematisiert ihr eigenes Werden, legt ihre eigenen Entstehungsbedingungen offen" (S. 131). Diese Selbstreflexivität droht jedoch zu langweilen, wenn sie zum reinen Selbstzweck wird, wenn also das Theoriedesign über die Funktionalität gestellt wird.

Dennoch führen diese theorie-internen Überlegungen zu einigen interessanten Ergebnissen. So weist Weber zurecht auf das Problem der asymmetrischen Differenzlogik bei Luhmann hin. Während Luhmann eher dahin zu tendieren scheint, daß schon mit der Entscheidung, eine Differenz zu ziehen, eine der beiden differenzierten Seiten hervorgehoben wird, führt Weber Glanville und Jokisch an, welche Distinktion und Markierung für zwei unabhängige Schritte halten (S. 127/28). 9 Allerdings müssen diese Theorien erklären können, warum es empirisch so erscheint, daß in den entscheidenden Unterscheidungen (schön/häßlich, wahr/unwahr, Mann/Frau etc.) die eine Seite der Unterscheidung als Degenerationsform der anderen konzipiert ist. Desweiteren kommt es zu einer Kritik an der Konzentration auf Kommunikationen in der Systemtheorie (Schmidt), der Entwicklung einer >Kybernetik dritter Ordnung< (Krieger), einem Weiterdenken des bei Luhmann angelegten Technikbegriffs (Jokisch), einer Konzentration auf die Medium/Form Unterscheidung statt auf die System/Umwelt Differenz im Bereich Kunst (Weber) und einer Historisierung der Systemtheorie (Weber).

S. J. Schmidt: Kunst als Konstruktion

Schmidts Hauptaugenmerk liegt darauf, die vielfältigen Beteiligungen am Sozialsystem Kunst aufzuzeigen. Seine Antwort auf die Titel-Frage lautet schlicht: "Kunst konstruiert Kunst" (S. 19). Hinsichtlich der Frage, wie Kunst zustande kommt, heißt das: "Kunst resultiert aus dem sich selbst organisierenden Interagieren und Kommunizieren der Aktanten im Sozialsystem Kunst". Stabilisert wird dieses System außerdem durch andere Sozialsysteme (Wissenschaft, Erziehung), die auf dieses Bezug nehmen. Näherhin bestimmen Kulturprogramme (S. 37ff), was zum Kunstwerk werden kann. Diese Werke können dann wiederum reziprok auf die Kultur einwirken: "Das Kulturprogramm definiert, was Kunst ist und läßt sich erst dadurch und danach durch jedes Kunstwerk in seiner Geltung bestätigen" (S. 38).

Ohne Kulturprogramm keine Kunst, ohne Kunst kein Kulturprogramm. Das alles hat zu einer relativen Systemstabilität geführt: "Alle diese Aktivitäten, die bis heute ungebrochen weiterlaufen, stabilisieren das Kunstsystem durch ihre eigenen, wie auch immer motivierten Interessen an dessen Weiterbestehen" (S. 44). Wie dieses Interagieren, Kommunizieren und Stabilisieren allerdings im einzelnen abläuft, erläutert Schmidt nicht einmal an einem Beispiel. Statt dessen lautet sein Fazit: "Wenn wir von Kunst reden, dann reden wir von Kunst, andernfalls ist von Kunst nicht die Rede" (ebd.). Solange es Kunst gibt, gibt es Kunst.

David J. Krieger: Kunst als Kommunikation

Krieger versucht die Kunst als rein selbst-bezügliches System zu entwerfen. Dafür schlägt er vor "Sinnsysteme" als "kybernetische Systeme der dritten Ordnung" zu beschreiben. Er definiert: "Sie sind Systeme, deren Outputs zu Inputs werden, um [...] der Konstruktion von Information willen, und sonst nichts. Sinnsysteme [...] erfüllen keinen anderen Zweck als die Konstruktion von Informationen, die Produktion von Sinn" (S. 65/66). Auf den Bereich Kunst übertragen "heißt Produktion von Informationen >Kreativität< oder >Innovation<" (S. 66/67). Kunst ist damit "jene Form gesellschaftlicher Kommunikation, die dafür sorgt, daß es immer anders wird, daß es immer Neues zu sagen gibt" (S. 67).

Die Funktion von Kunst liegt dann in der "Identitätstransformation, [dem] Wandel im Denken, Wahrnehmen und Handeln" (S. 68). Diesen Wandel kann Kunst nun nicht durch affirmative Realitätsabbildung erreichen. Ihre Rolle besteht vielmehr "im Aufzeigen, Sichtbarmachen und somit Transformieren der Grenzen des Systems" (S. 68/69). Dafür verweisen Kunstwerke "nicht auf ein Anderes, sondern sie zeigen das Selbst". Und indem "sie selbstreferentiell auf sich selbst zeigen, schaffen sie eine Empfindlichkeit für die jeweiligen Grenzen des Sinnsystems" (S. 69).

Theorietechnisch wird nicht ganz deutlich, was mit der Fremdreferenz geschieht, auf Kosten derer sich die Selbstreferenz ja immer nur profilieren kann. Mit Luhmann könnte man zwar sagen, daß die Fremdreferenz (also Realitätsbezug) selbst zum Mittel der Selbstreferenz wird, indem zum Beispiel Realismus zu einem Stil unter vielen gemacht wird. 10 Das ist allerdings eine systeminterne Umrechnung des eigenen Außenbezugs, also eine Form des re-entry. Das System macht sich so blind gegenüber seiner Umwelt und kann sich emphatisch eine eigene Unabhängigkeit zuschreiben.

So kann Krieger von den Kunstwerken behaupten: Sie "sind nicht mehr repräsentativ im üblichen Sinne des Wortes. Sie treten nicht mehr an die Stelle von etwas Anderem. Sie verweisen nicht auf ein Sujet, daß außerhalb des Werkes steht" (S. 68). Es gilt zu fragen, ob ein System tatsächlich Stabilität erreichen kann, wenn es die Vorstellung entwickelt rein selbstbezüglich, d.h. ohne Bezug auf ein Außen zu agieren.

Kriegers enger Avantgarde-Begriff

Krieger geht empirisch offenkundig von eingeschränkten Beobachtungen aus. Er behauptet, daß die "Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts [...] sich bekanntlich gerade durch ihr Desinteresse für die Gesellschaft" (S.47) definiere. Picasso, Schönberg, Eliot, Kafka, Wilde, Warhol, Woolf (um nur wahllos einige kanonische zu nennen) empfanden sicherlich einiges zwischen Angst und Verachtung gegenüber ihren Mitmenschen, aber kann man das als >Desinteresse für die Gesellschaft< bewerten? Und umgekehrt: Sind Künstler wie George Bataille, André Breton, James Baldwin, Ralph Ellison, Satre, Heiner Müller (wiederum wahllos ausgewählt), die offen ihr Interesse an der Gesellschaft (bzw. der Gemeinschaft) bekennen, aus der Avantgarde ausgeschlossen? Nicht auf der Höhe der Zeit? Vor-, anti-, oder post-modern? Liest (bzw. betrachtet oder hört) man deren Werke allein unter der Vorgabe, daß diese "heute aber nicht mehr daran interessiert [sind], irgendwelche Botschaften [...] zu vermitteln" (S. 69; meine Hervorhebung), dann macht man sich m.E. dessen schuldig, was Werner Hamacher als >negative Gewißheit< bezeichnet hat:

Wenn literarische Texte sich thematisch wie in ihrer rhetorischen Struktur als Formen der Desillusionierung, der Enthüllung, der Kritik und Selbstkritik entfalten, dann deshalb, weil sie in ihnen sich selbst und ihren Lesern eine größere Sicherheit versprechen können als in affirmativen Feststellungen und Versicherungen: nämlich die Sicherheit der Unverläßlichkeit der Welt und aller Aussagen, die über sie gemacht werden können. In dieser negativen Gewißheit kommuniziert denn auch die kritische Literaturwissenschaft mit ihren Gegenständen. 11

Dementsprechend teilt Krieger die zeitgenössischen Kunstwerke in drei Bereiche (>Ikone<, >Kollage<, >Environment<), die durch die Methoden der "Disfunktionalisierung, Ironisierung, Abstraktion[,] Paradoxierung" (S. 71) und >Fragmentarisierung< (S. 76) eine Lesart anbieten, die auf der Negation jeglicher Bedeutung beruht. Daraus gewinnt man schließlich die Gewissheit, daß es sich bei solcher Kunst lediglich um die "Darstellung der Darstellbarkeit" handelt, die aber ex negativo dazu in der Lage ist, als "Repräsentation des Ganzen" (S. 79) zu fungieren.

Rodrigo Jokisch: Technik und Kunst

Jokisch versucht die Kunst dadurch in den Blick zu bekommen, daß er sie von der Technik differenziert. Technik ist hier eine Weise des Zugangs zur >realen Realität<, während Kunst den Bereich der >fiktionalen Realität< markiert. Zunächst wird die Technik in Auseinandersetzung mit der Technik-Soziologie und der Systemtheorie als >Technik der Gesellschaft< etabliert. Technisches Handeln zeichnet sich schließlich dadurch aus, daß "auf der Basis einer Kausalerfahrung" ein bestimmtes "Mittel" gewählt wird, um "einen Zweck beziehungsweise ein Ziel zu verwirklichen" (S.103). Künstlerisches Handeln wird nun dazu entgegengesetzt als "eine Form des Handelns beobachtbar, die sich durch die Setzung eines intrinsischen Zweckes, also durch Selbstzweck auszeichnet" (S.105). Kunst, die ohne extrinsisches Ziel ist, wird so vom Kausalzwang des rationalen Verhältnisses von Ursache und Wirkung befreit. So kommen schließlich >fiktive Realitäten< zustande. Die Erfahrung von Kunst hat so letztlich nur den Zweck, das Verständnis der >realen Realität< zu konturieren. So anders sie auch sein mag, letztlich kommt ihr durch eben diese Differenz eine immer schon affirmative Rolle zu. Genau das hat Adorno beklagt.

Stefan Weber:
Kunst jenseits von Konstruktion und System?

Der Text von Weber ist mit Abstand der inspirierendste unter den fünf Beiträgen. Er schlägt vor, den Konstruktivismus und die Systemtheorie nicht als Beobachtungsmuster zu wählen, mit denen man alles (von der Steinzeit bis heute) beschreiben kann, sondern als historische Theorien bestimmter Entwicklungsstufen der >Kunst< zu begreifen. Mit Hilfe der Systemtheorie ließe sich so die "Ausdifferenzierung und Autonomisierung des Kunstsystems ab Mitte des achtzehnten Jahrhunderts" beobachten, mit dem (radikalen) Konstruktivismus hingegen die "Befreiungstendenzen in der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts" (S. 119). Für die Gegenwartskunst (und deren zukünftige Entwicklung) nennt Weber die "Weiterentwicklung des Konstruktivismus zu einer nicht-dualisierenden Erkenntnistheorie" 12 und die "Fortführung der Systemtheorie durch die Distinktionstheorie" 13 (ebd.) als Anwärter auf Beschreibungsadäquatheit.

Während die geschichtliche Einordnung der Systemtheorie als "Theorie zur Beobachtung der Moderne" (S. 126), die die Loslösung der Kunst "von religiösen, erzieherischen oder politischen Imperativen" (S. 127) beschreibt, inzwischen weit verbeitet scheint, ist eine Historisierung des Konstruktivismus überraschender – aber auch problematischer. Weber schlägt vor, die "Debatte Realismus versus Konstruktivismus nicht erkenntnistheoretisch zu führen, sondern mit dem Begriff >Konstruktivismus< in der Kunsttheorie auf historisch zu beobachtende steigende Konstruktivität in der Kunst hinzuweisen" (S. 129). Problematisch wird diese Einteilung jedoch, wenn dadurch sämtliche Entwicklungen der Moderne (seit 1400) dem Zeitraum der >emphatischen Moderne< des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zugeschrieben werden.

Weber zählt auf, von welchen "Konstituenten" sich die >konstruktive Kunst< "im wesentlichen befreit hat": von der "klassischen Ästhetik", vom "Realismus", von der "Materialität", von der "Unterscheidung Kunstobjekt / Gebrauchsgegenstand und vom Original" (S. 130), vom "fertigen Produkt (Kunstwerk)", vom "identifizierbaren Kunstwerk" (S. 131), von "der Bedeutung", vom "Autor", vom "Prinzip der Autorenschaft", von den "Orten der Kunst" (S. 132), von der "Einbettung in Kultur" und schließlich von "der Kunst" (S. 133) selbst. All diese Entwicklungen der Loslösung sind weder um 1900 plötzlich gestartet noch heute endgültig abgewickelt. Oben habe ich kurz versucht, anhand des mimesis-Begriffs auf längerfristige Entwicklungslinien hinzuweisen.

Viel interessanter wäre es hingegen zu fragen, wie es nach der Autonomisierung der Kunst in der Romantik – die selbst ja schon alle aufgezählten Befreiungstendenzen aufzeigt – zu einem Realismus in der Form des 19. Jahrhunderts kommen konnte, gegen den sich die Avantgarde schließlich absetzt. Entweder hätte man zu erklären, wie es nach dem Höchstmaß an Selbstreflexivität und Selbstaufhebung in der Romantik zu einem solch naiven Realismus kommen konnte. Oder aber man müßte untersuchen, ob die Naivität des Realismus nicht eine Zuschreibung der Avantgarde ist, die diese tätigt, um sich selbst als fortschrittlich etablieren zu können.

Realismus vs. Konstruktivismus

Abschließend läßt sich sagen, daß sowohl die Frage nach dem konstruierenden wie nach dem konstruierten Charakter von Kunst sich nicht mit binären Oppositionen lösen läßt, die suggerieren, die Kunst könne sich auf eine der offerierten Seiten stellen (lassen). Die Erkenntnis, daß Kunst im gesellschaftlichen Prozess hergestellt wird, befreit nicht von der Frage, woran bestimmte Gruppen den Kunstgehalt einer Sache (einer Aktion etc.) festmachen. Ebensowenig sehe ich mit der Einsicht, daß Kunst die (gegebene) Realität nicht allein verdoppelnd darstellt, sondern sie auch herstellt, nicht die Notwendigkeit entschwinden, sich über den Bezug der Kunst zur >realen Realität< Gedanken zu machen.

Systemtheoretisch gesprochen heißt das, daß der Beobachter zweiter Ordnung einen (naiven) Beobachter erster Ordnung zwar beobachten, ihn aber nicht zum Verschwinden bringen kann, denn dann würde er selbst verschwinden – wie Hegels Herr ist er abhängig vom dialektischen Knecht. Letztlich sind eben genau dies die entscheidenden Fragen eines (theoriegeleiteten) Kunstbetrachters, denen man sich weder durch eine >realistische< (affirmative) noch durch eine >konstruktivistische< (negative) Gewissheit entziehen kann.


Christian Huck
Graduiertenkolleg "Pragmatisierung / Entpragmatisierung der Literatur"
Neuphilologie der Universität Tübingen
Wilhelmstrasse 50
D-72074 Tübingen

Ins Netz gestellt am 17.07.2001
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Anmerkungen

1 Niklas Luhmann: Die Ausdifferenzierung des Kunstsystems. (Reihe um 9) Bern: Benteli 1994, S.41.   zurück

2 Thedor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Franfurt am Main: Suhrkamp 1998 [14. Aufl.], S. 19.   zurück

3 Vgl. Philippe Lacoue-Labarthes: Typographie. In: Sylviane Agacenski et al.: Mimesis des articulations. Paris: Flammarion 1975, S.166-275.   zurück

4 Sir Philip Sidney: An Apology for Poetry. In: G. Gregory Smith (Hg.): Elizabethan Critical Essays. Vol. 1. Oxford: Oxford University Press 1959, S.148-207, hier S.158.   zurück

5 Ebd., S. 155.   zurück

6 Ebd., S. 159.   zurück

7 Stendhal: Rot und Schwarz. Übers. von Arthur Schurig. Frankfurt am Main: insel 1989, S. 95.   zurück

8 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie. Übers. von Elfi Bettinger und Elke Hentschel. Stuttgart: Metzler 1994 [3. Aufl.], S. 18.   zurück

9 Siehe Ranulph Glanville: Objekte. Berlin: Merve 1988; sowie Rodrigo Jokisch: Logik der Distinktion: Zur Protologik einer Theorie der Gesellschaft. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996.   zurück

10 Siehe Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst. In: Hans-Ulrich Gumbrecht/Klaus Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986, S. 620-672.   zurück

11 Werner Hamacher: Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 165/66.   zurück

12 Siehe Josef Mitterer: Das Jenseits der Philosophie. Wider das dualistische Erkenntnisprinzip. Wien: Passagen 1992.   zurück

13 Siehe Rodrigo Jokisch (Anm. 9).   zurück