Hübinger über Korsch: Briefe

IASLonline


Gangolf Hübinger

Der marxistische Intellektuelle Karl Korsch.
In seinen Briefen neu gelesen.

  • Karl Korsch: Briefe 1908 – 1939, hg. von Michael Buckmiller, Michel Prat und Meike G. Werner (Karl Korsch Gesamtausgabe, unter Mitarbeit von Götz Langkau und Jürgen Seifert hg. von Michael Buckmiller, Band 8) Amsterdam und Hannover: Stichting beheer IISG / Offizin 2001.
  • Karl Korsch: Briefe 1940 – 1958, hg. von Michael Buckmiller und Michel Prat (Karl Korsch Gesamtausgabe, unter Mitarbeit von Götz Langkau und Jürgen Seifert hg. von Michael Buckmiller, Band 9) Amsterdam und Hannover: Stichting beheer IISG / Offizin 2001. Zusammen 1772 S., 92 Abb. Ln. EUR (D) 149,00.
    ISBN 90-6861-128-3.


Es ist ein Glück, daß Verlage und Förderinstitutionen nach wie vor aufwendige Gesamtausgaben kulturwissenschaftlicher Protagonisten ermöglichen. Ein besonderes Glück ist es, daß darin zumeist auch sorgfältig edierte Briefkorrespondenzen enthalten sind. Die 1978 von Michael Buckmiller gestartete Karl-Korsch-Gesamtausgabe war durch die dramatischen Zeitwenden nach 1989 und die nicht weniger tiefgehenden Paradigmenwechsel sozial- und geisteswissenschaftlicher Fragestellungen ein wenig ins Abseits geraten. 1 Die jetzigen Bände 8 und 9 holen den geschulten Juristen, ethischen Marxisten und sozialphilosophischen Literaten Korsch (1868–1961) in die Intellektuellengeschichte des 20. Jahrhunderts zurück. 2

Zur Biographie von Korsch

Korsch emigrierte 1933 über Dänemark in die USA und bewarb sich unter anderem in Seattle um eine Professur für politische Theorie. Der englische Lebenslauf, den Korsch im April 1937 dem Vorsitzenden der Berufungskommission, dem Juristen und Politologen Charles E. Martin übersandte, bietet einen guten Anknüpfungspunkt, um die Leser mit den existentiellen Schwierigkeiten der Exilierten vertraut zu machen, ihre Biographien zu "positionieren", wie man in der Sprache der heutigen Intellektuellensoziologie sagt. Korsch listet seine Studienfächer Recht, Ökonomie, Soziologie und Philosophie in München, Berlin, Genf, Jena und London auf, verweist auf seine Zeit in einer Londoner Anwaltskanzlei, auf seinen Einsatz als Frontoffizier im Ersten Weltkrieg und seine Mitarbeit in der Sozialisierungskommission von 1919. Als bedeutende Stationen seiner Karriere nennt er seine ordentliche Juraprofessur in Jena 1923, die mit Hitlers Machtergreifung ihr Ende gefunden habe: "On June 28, 1933, I was discharged from my professorship by the Hitler government" (S. 628). Allerdings war Korsch die Jenaer Professur bereits 1924 aus politischen Gründen aberkannt worden. Für kurze Zeit wurde er ebenfalls 1923 thüringischer Justizminister. Zwischen 1924 und 1928 war er Mitglied des Deutschen Reichstags und arbeitete im Rechts-, Finanz- und Auswärtigen Ausschuß mit.

Was Korsch diesem englisch geschriebenen Lebenslauf nicht beigibt, sind die Angaben seiner Parteizugehörigkeiten, eine bei der amerikanischen Sozialistenfurcht durchaus nachvollziehbare Strategie. Vor dem Ersten Weltkrieg war Korsch in London der sozialistischen Fabian Society beigetreten. 1917 wurde er Mitglied der USPD, 1920 trat er mit deren linkem Flügel der KPD bei. Als Linksabweichler wurde er 1926 ausgeschlossen und konzentrierte sich fortan auf eine philosophische Aktualisierung des Marxismus.

Korsch als radikaler Intellektueller

Der Hauptherausgeber Buckmiller schlägt zu Beginn seiner Einleitung vor, entlang der radikalen geschichtlichen Umbrüche des 20. Jahrhunderts auch die Briefbiographie Korschs zu "systematisieren". In der Tat liefert die akribisch kommentierte Edition ein neues Beispiel für den Typus des radikalen Intellektuellen, der den Weg in die praktische Politik sucht 3 und sich nicht auf die Rolle des Generalkritikers und die strikte Opposition von "Geist und Macht" beschränkt.

Der 1933 aus Deutschland vertriebene Korsch hat die gewünschte amerikanische Professur nicht erhalten. Lediglich zwischen 1943 und 1945 lehrte er in New Orleans als "Assistant Professor mit magerem Gehalt, nicht zu viel Arbeit und sehr interessanten Erfahrungen" (S. 1072). Danach pflegte er als privater "Marx-Gelehrter" seine Briefkontakte zu alten Freunden wie Ruth Fischer und Paul Partos oder zu neuen Bekannten wie dem amerikanischen Rätekommunisten Paul Mattick, mit dem er die Chancen einer marxistischen Neuordnung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg diskutiert, oder mit dem 1947 in die USA emigrierten Trotzkisten Roman Rosdolsky, der über Friedrich Engels und die geschichtslosen Völker forschte. Der Korsch-Briefwechsel dürfte zu einer wichtigen Quelle der versprengten Seitenlinien eines durch den Ersten Weltkrieg intellektuell geprägten Marxismus werden, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in kleinen Zirkeln um eine Renaissance bemüht.

Experimentieren in
bürgerlichen Reformbewegungen

Der Leser wird allerdings über die Einleitung zu dieser zweibändigen Briefedition der Jahre 1908 bis 1958 stolpern. Denn die editorische Konzeption hat eine ungeplante Gewichtsverlagerung vom kommunistischen Korsch der Zwischen- und Nachkriegszeit auf den jugendbewegten Idealisten der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg erfahren. Gut 100 der insgesamt 602 abgedruckten Briefe sind an den Jenaer Freistudenten Walter Fränzel gerichtet, der Briefwechsel erkaltet 1919 mit Korschs Radikalisierung in der Revolution. "Das bis dahin vorherrschende Bild von Korsch hätte eine intensive Beziehung zu Walter Fränzel, wäre er der Forschung schon früher bekannt gewesen, faktisch ausgeschlossen", äußert Buckmiller seine Überraschung. 4 Warum eigentlich, und wer war Walter Fränzel?

Vielleicht war die bisherige Korsch-Quellenforschung zu stringent auf eine sozialistische Biographie festgelegt, um das jetzt freigelegte Experimentieren in den bürgerlichen Reformbewegungen des Fin-de-Siècle in ihr Suchbild aufzunehmen. Deshalb ist sensationell, was die an der Vanderbilt-University lehrende Kulturwissenschaftlerin Meike Werner im Kontext ihrer Forschungen zur Universitätsstadt Jena und deren Intellektuellenzirkeln 5 jetzt mit den Briefen an Fränzel wie auch an den Jenaer Strafrechtler Heinrich Gerland zu dieser Ausgabe beigesteuert hat. Durch die neuen Funde zum jugendbewegten Essayisten hat sie das "literarische Feld", in dem Korsch agierte, erheblich erweitert, und mit Recht ist Werner deshalb für den frühen Briefband als Mitherausgeberin genannt.

Walter Fränzel, der Lebensreformer, Schulgründer und Sprachforscher, war zu Korschs Jenaer Zeit Vorsitzender der Freistudenten, die eine neuhumanistisches Geisteshaltung trainierten, eine demokratische akademische Selbstverwaltung einübten und gegen Brot– wie Bierstudenten gleichermaßen polemisierten. Hier legt Korsch sein intellektuelles Fundament und schult sein literarisches Urteil. "Zudem bin ich derartig Kantianer", schreibt er an Fränzel am 15. 1. 1911, "daß mir alles >metaphysisch< klingende durchaus verdächtig ist". "Was ist Dir Bergson? Er ist sehr in Mode", fragt der Kantianer seinen Freund Fränzel am 27. 10. 1911 skeptisch. Aus England schreibt Korsch gut bezahlte sozialkritische Beiträge für Eugen Diederichs' Zeitschrift Die Tat, in Jena organisiert er eine Sommerakademie und erörtert mit Fränzel schwere und leichte Vortragsthemen. Zu den schweren zählen das biologistische und und das soziologistische Menschenbild, zu den leichten die jugendlichen Gesellungsformen wie "Freie Schulgemeinden, Gartenstädte, Monistenklöster, Akademien, Universitäten, Logen, Bünde, Zeitschriftengemeinden".

Im Weltkrieg zerbricht die jugendbewegte Freundschaft, die Trennungsbriefe sind äußerst lesenswert für die Mentalitätsgeschichte dieser ganzen Generation:

Du mußt bedenken, daß für mich dieser Krieg der Zusammenbruch alles dessen war, wofür ich leben wollte. Das Verhältnis des Menschen zum Menschen feiner, geistiger zu gestalten, dadurch das Leben reicher, voller, breiter lebendiger zu machen und dieses lebendige Leben durch und durch zu vergeistigen, – das ungefähr war mein Traum, damals von mir für einen kontinuierlich ausführbaren, in seinen Anfängen bereits ausgeführten Plan gehalten und >Sozialismus< genannt (an Walter Fränzel, 27. 9 1916).

Ein marxistischer Dissident,
ein analytischer Selbstdenker

Im Revolutionssommer 1919 weiß Korsch, was "Sozialismus" heißt. Sein Beitrag im Arbeiterrat. Wochenschrift für praktischen Sozialismus, dem Organ der Arbeiterräte Deutschlands, mit dem Titel, Die Sozialisierungsfrage vor und nach der Revolution, wird besonders gern durch die Quellensammlungen der Weimarer Republik gereicht. Korsch hatte sowohl den theoretischen Exegeten der Marxschen Lehre als auch den Arbeitern und Handwerkern in den Räten Unerwartetes zu sagen:

Dem Drängen der Masse nach irgendeinem seelischen Ausgleich gegen die ungeheure Unfreiheit des einzelnen großbetrieblichen Arbeiters unter modernen großindustriellen Produktionsverhältnissen kann nicht durch einen bloßen Wechsel des Arbeitgebers Genüge getan werden; die Klasse der werktätigen Arbeiter wird als solche nicht freier, ihre Lebens- und Arbeitsweise nicht menschenwürdiger dadurch, daß an die Stelle des von den Besitzern des privaten Kapitals eingesetzten Betriebsleiters ein von der Staatsregierung oder der Gemeindeverwaltung eingesetzter Beamter tritt. 6

Mit Heinrich Gerland, dem Vorstandsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei, korrespondiert er gleichzeitig intensiv über Pläne zu einer Habilitationsschrift und sucht Themen wie den Völkerbund oder das englische Zivilrecht, in denen "der Zusammenhang mit der Politik weniger schädlich ist"
(S. 292). Die eher wenigen Briefe, die aus den Jahren seiner politischen Ämter und Mandate und dem Bruch mit der KPD zwischen 1919 und 1933 überliefert sind, unterstreichen Korschs intellektuellen Eigensinn und Eigenweg. Keine Partei kann den philosophischen Kopf disziplinieren, er ist ein marxistischer Dissident, ein analytischer Selbstdenker.

Im Exil profiliert sich Korsch als intellektueller Sachwalter der Geschichte des Sozialismus. Seinen amerikanischen "Genossen" erläutert Korsch den Niedergang der europäischen Sozialtheorien, die mit der Französischen Revolution so hoffnungsvoll begonnen hätten, über Max Webers Elitentheorie und Max Schelers gegenrevolutionäre Philosophie dann aber bei den "Mode-Ideen" eines Karl Mannheim gelandet seien. Sogar als Stammbaum zeichnet er für Paul Mattick seine Verelendungsversion des europäischen Geistes auf (Brief vom 17. 3. 1941).

Brecht und Korsch

Für Brecht Brecht spielt er umgekehrt den Kommentator der von der UdSSR und den USA nach dem Zweiten Weltkrieg beherrschten Weltgeschichte. Zum hundertjährigen Erscheinen des Kommunistischen Manifests will er Brecht 1947 von einer Synthese aus Literatur und Politik in einer gemeinsamen Publikation überzeugen, – Brecht mit einer literarischen Übertragung des Manifestes, Korsch mit den erläuternden historischen Kommentaren und einer gemeinsamen Einleitung.

Sprengkraft beinhaltet das Amerikabild, mit dem Korsch die Wahl des rückkehrwilligen Brecht beeinflussen will. Die "Vereinigten Staaten von Europa" könnten nur in faschistischer Franco-Form Gestalt annehmen, die "Weltherrschaft der Yankees" sei als "reaktionäre Utopie" unaufhaltsam, in der Durchführung würden die Amerikaner aber noch zu sehr "herumdaddeln" und hätten den "Imperialismus" erst von den Briten zu lernen. Deshalb seien "trotz der fürchterlichen Rohheiten" die ökonomischen und politischen Lebensbedingungen in der russischen Einflußsphäre als zukunftsträchtiger anzusehen. Man hätte sich diesen Schlüsselbrief aus Boston vom 18. April 1947 etwas ausführlicher und in Bezügen zur Brechtforschung kontextualisiert denken können. Die Einleitung trägt die Handschrift des Hauptherausgebers. Buckmiller interpretiert Korschs späte Briefessays dieser Art als Reaktion darauf, daß die ehemaligen sozialistischen Mitstreiter die Gedankenarbeit am Spannungsverhältnis von Szientismus und dialektischer Totalität aufgegeben und den "Rückzug in die Resignation privater Glückserwartung angetreten hätten". 7

Für die Intellektuellendiskurse der 1940er und 1950er Jahre dürfte der an die Brecht-Korsch-Kommunikation angebundene Hinweis wichtiger sein, daß mit der Briefedition jetzt der ganze Korsch-Zirkel mit Herbert Levy, Heinz Langerhans, Paul Partos, Horst Horster und insbesondere der Ehefrau Hedda Korsch, die den Kinderkreuzzug ins Englische übersetzte, der Sozialgeschichte der Literatur zur Verfügung steht. 8

Fazit

Die Briefausgabe ist für Lese- und Forschungszwecke gut und fast übersichtlich benutzbar. Wenn das chronologische Briefverzeichnis die Einzelbriefe schon durchnummeriert, hätte diese Nummerierung auch die Briefe selbst und das Register der Briefempfänger strukturieren können. Um Erstveröffentlichungen und ihre Druckorte aufschlüsseln zu können, etwa Korschs Aufsatz Rassenhygiene und Volksgesundheit von 1913, auf den er in einem Brief an Walter Fränzel anspielt, muß man die gesamte Korsch-Ausgabe zur Hand haben, um zu erfahren, daß es sich um eine Rezension des englischen Sexualforschers Havelock Ellis für Eugen Diederichs' Zeitschrift Die Tat handelt. Für die Ermittlung von Kommunikationszusammenhängen ist das etwas umständlich.

Daß Korsch für die intellektuelle Gründungsgeschichte der Bundesrepublik eher eine Nebenrolle gespielt hat, läßt sich indirekt erschließen. Dem "Institut für Sozialforschung", das hierfür im Rahmen der Ideen von 1968 paradigmatisch herangezogen worden ist, war Korsch nur lose verbunden. Die Korrespondenz mit Horkheimer bricht 1942 ab, die Ausstrahlung auf die Mitglieder des IfS in den 1950er Jahren blieb marginal. 9 Stärker hat er tatsächlich über Bert Brecht in die deutsche Intellektuellenlandschaft zurückgewirkt.


Prof. Dr. Gangolf Hübinger
Europa Universität Viadrina Frankfurt (Oder)
Kulturwissenschaftliche Fakultät
Postfach 1786
D-15207 Frankfurt / Oder
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Ins Netz gestellt am 26.03.2003
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Anmerkungen

1 Karl Korsch Gesamtausgabe. Im Auftrag des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam und des Seminars für die Wissenschaft von der Politik an der Universität Hannover, unter Mitarbeit von Götz Langkau und Jürgen Seifert hg. von Michael Buckmiller, ursprünglich Europäische Verlagsanstalt Frankfurt am Main, bisher erschienen 9 Bände, 1980 – 2001.   zurück

2 Keine Bezüge zu Korsch finden sich in Jutta Schlich (Hg.): Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland. Ein Forschungsreferat (IASL, 11. Sonderheft) Tübingen 2000.   zurück

3 Zu diesem Ansatz einer Intellektuellengeschichte vgl. Gangolf Hübinger und Thomas Hertgelder (Hg.): Kritik und Mandat, Intellektuelle in der deutschen Politik. Stuttgart 2000.   zurück

4 Einleitung, S. 16.   zurück

5 Meike G. Werner: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle Jena. Göttingen 2003. Zu Walter Fränzel dort S. 241 f., 260 ff., 297 ff.   zurück

6 Karl Korsch Gesamtausgabe, Band 2, S. 163.   zurück

7 Einleitung, S. 43 f.   zurück

8 Einleitung, S. 48.   zurück

9 Clemens Albrecht u.a.: Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule. Frankfurt am Main 1999. Zu Korsch lediglich S. 24 und 36.   zurück