
- Reisebilder aus Hessen. Fremdenverkehr, Tourismus und Kur seit dem 18. Jahrhundert. Hg. von Ulrich Eisenbach u. Gerd Hardach (Schriften zur Hessischen Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte; 5) Darmstadt: Hessisches Wirtschaftsarchiv 2001. 413 S. Kart. EUR (D) 23,-.
ISBN 3-9804506-4-3.
Der Band – anderes und mehr als ein Katalog – ist zur Begleitung einer Ausstellung gleichen Namens entstanden, die das Hessische Wirtschaftsarchiv ausgerichtet hat. Neben der Einleitung finden wir von drei Dutzend Autoren ungefähr ebenso viele Beiträge, verteilt auf die fünf Abteilungen "Kur und Kurgäste", "Reisen", "Die touristische Erschließung der hessischen Mittelgebirge", "Konzepte", "Reiseziele". Die Zahl der Bildbeigaben (schwarzweiß und, in geringerer Zahl, bunt) ist beträchtlich, wie indessen für die Dokumentation einer Ausstellung zu erwarten. Es handelt sich um Wiedergaben historischer Stiche, älterer wie neuer Photographien sowie werbender Prospekte und Plakate; zur Veranschaulichung der Texte sind sie nützlich. Die Herausgeber begründen in einer längeren Einleitung das publizistische Unternehmen, stecken die Erwartungen ab, führen kundig in die thematischen Abteilungen ein.
Gliederung des Ausstellungsbandes
An dem umfangreichen Band hatte ich lange zu lesen. Aber ich konnte es mir einteilen. Die im Schnitt mit 10 Seiten (einschließlich Illustrationen und Literaturhinweisen) wohltuend kurz gehaltenen Aufsätze lassen eine unterbrochene, nach Lust oder gezieltem Informationswunsch (Regionen Hessens, Orte, Verkehrsverbindungen o. ä.) immer wieder aufgenommene Lektüre zu. Präzise Überschriften erleichtern sowohl stichprobenhaftes wie gezieltes Nachschauen, doch ebenso ein angenehm anregendes Schmökern. Das alles bei einer gründlich aus historischen Darstellungen, Chroniken und Archiven geschöpften Genauigkeit, einer – soweit ich sehe – in allen Arbeiten vorbildlichen Fakten- und Datenpräzision.
Indessen möchte ich, um rasch davon entlastet zu sein, an dieser Stelle drei kleine kritische Monita anbringen:
Im Band selbst, nicht nur im Inhaltsverzeichnis, hätte man die fünf thematischen Abteilungen durch eine Zwischenüberschrift von einander absetzen können;
ein Register (Orte; Architekten der Hotels, Gärten, Brunnenanlagen u. ä.; prominente Besucher) wäre vorteilhaft gewesen;
neben den zahlreichen Veduten aus älterer und neuerer Zeit hätten Landkarten die Orientierung erleichtert.
Kulturelle und literarische Geselligkeit
in hessischen Bade- und Kurorten
Nicht ungeschickt stellen Initiatoren der Ausstellung und Bandherausgeber das Ganze unter den Titel "Reisebilder", so nutzen sie werbewirksam einen seit Heinrich Heines "Reisebildern" beliebten und zu seiner Zeit modisch gewordenen literarischen Terminus. Anders aber als damals und dort dominieren, objektiver Informationsabsicht gemäß, in den vorliegenden "Reisebildern" die Tatsachen, während eine subjektive Laune der Beiträger fehlt.
Den Reichtum des vorliegenden Bandes an Fakten, durchgehend auch interessanten Daten und Namen, kann eine Rezension eigentlich nur bestätigen oder beteuern, im einzelnen darstellen kann sie ihn nicht. Was über die Kurorte mitgeteilt wird, von Schlangenbad, Wiesbaden, Hofgeismar und anderen bis Bad Nauheim und Bad Soden; was dabei zur Sprache gelangt (über Hotel- und Brunnenbau, über Park- und Gartenarchitektur, nächtliche Beleuchtung in den verschiedenen hessischen Kurorten, über Wasser-, Moor- und Molkekuren, über die Einrichtung von Bibliotheken, Theater- und Konzertsälen, über den Ausflugsbetrieb mit Kutsche oder zu Esel, Sportgelegenheiten von Tennis und Golf bis zu Pferderennen und Ballonfahrten, über Spielcasinos) kann nicht referiert werden.
Eindrucksvoll die Belehrungen zu den ärztlichen Autoritäten, beginnend mit dem Humanisten Tabernaemontanus und seinem "Neuw Wasserschatz" von 1581, ihren Rezepturen und ihrer Funktion als Werbeträger der aufblühenden Bäder. Nicht zuletzt den Medizinern verdanken diese ihren bis in die Ferne wirkenden Ruf – auch den Export etwa des >Selterswassers< aus Niederselters in Tonkrügen schon seit dem 18. Jahrhundert bis nach Petersburg, Südafrika, Nordamerika und Südostasien; die Besuche von Kurgästen aus Holland, Frankreich, England, den USA und Rußland, darunter Prominente und Fürstlichkeiten bis hinauf zur Zarenfamilie, die 1910 in Friedberg gastiert. Erwähnenswert die Literarisierung berühmter Badeorte wie Wiesbaden (Dostojewski) oder Schlangenbad (schon Grimmelshausen, dann Gutzkow, Fontane, Thomas Mann). Die Spezialisierungen der Bäder: Bad Soden mit "Totes Meer"-Kuren gegen die Schuppenflechte, Bad Nauheim als Herzheilbad der Belle Epoque usw., ihr Beitrag zur Stadt- und Landesentwicklung in kultureller, verkehrstechnischer und ökonomischer Hinsicht werden deutlich akzentuiert – kein Wunder in einem Sammelwerk, das von amtlichem Wirtschaftsinteresse geleitet wird.
Die Entwicklung des modernen Verkehrswesens
im 19. und 20. Jahrhundert
Dieses bleibt natürlich auch spürbar, wenn sich der Blick in der 2. Abteilung den Reisemöglichkeiten und der Entfaltung der Transport- und Verkehrsverbindungen zuwendet, von den Modalitäten und Routen der Postkutsche über Planung, Realisierung und Auswirkung der regionalen Bahnlinien (z. B. Lahntalbahn, Langenschwalbacher Bahn, Main-Neckar-Eisenbahn) mit ihren Stationen samt angeschlossenen Wartesälen und Biergärten bis hin zum Bau des internationalen Rhein-Main-Flughafens in Frankfurt.
Unter dem Rubrum "Erschließungen" (3) wird der Leser über die touristische Urbarmachung von Taunus und Rhön informiert, liest von den Leistungen der regionalen Klubs (angefangen vom Taunusklub von 1868, dem sich, von der Rhön bis zum Odenwald ähnliche Zusammenschlüsse in fast allen hessischen Gegenden anschlossen), welche nicht nur für Wanderwege, Schutzhütten, Aussichtstürme und Herbergen sorgten, sondern mit der Einrichtung von Kindergärten, mit Spendenaktionen für die ärmere Bevölkerung auch sozial tätig waren und zudem nicht ohne Erfolg versuchten, den Bewohnern mit der Gründung von Heimindustrie (Korbflechterei, Handschuhnäherei) zu helfen. Ein ehrenvolles Kapitel in der Erschließungsgeschichte der hessischen Regionen.
Gedacht wird auch der sozialdemokratischen "Naturfreunde" und ihrer Verdienste um Wanderhäuser, Ferienlager sowie einer eigenen Sport- und Festkultur in ländlichen Gegenden; ebenso der Erhebung des nordhessischen "Hohen Meißner" zum Symbol der Jugendbewegung und ihrer Ideale von Naturerfahrung und Naturbewahrung im Jahr 1913.
Badetourismus und die Erfindung der "hessischen Märchenstraße"
Unter "Konzepte" (4) lernen wir einiges über Verkehrs- und Verschönerungsvereine – am Beispiel Darmstadts seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – und über ältere und neuere Kasseler Stadtführer. Einen Glanzpunkt in der touristischen Werbungsgeschichte setzte in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts die Erfindung der "hessischen Märchenstraße" entlang den Wohn- und Wirkungsstationen der Gebrüder Grimm von Hanau bis Kassel; mit Bronzebildern, Ausstellungen, Mal- und Bastelkursen, mit Sagen- und Märchenspielen appellieren seither viele Gemeinden ans märchengewohnte Gemüt, wobei das Marketing gern wichtiger sein darf als die historische Realität, etwa daß hinter dieser Hecke Dornröschen geschlummert hat oder von jenem Turm Rapunzel ihren Zopf fallen ließ. Solche Ortungen konnten gut an frühere Lokalisierungen anknüpfen, wie sie beispielsweise für den Odenwald erfolgt waren mit der Nibelungen-Sage: stolz zeigte man die Quelle, an der Hagen Siegfried ermordet hatte – gewiß mehr Werbung als Wahrheit.
Ein Artikel ("Tourismus schafft Arbeitsplätze") spricht in dieser Abteilung denn auch, statistikbewehrt und im Ton einer Werbebroschüre, von "Fremdenverkehrsintensität", sieht den Tourismus unverblümt als "Wirtschaftssektor" und "Wirtschaftsfaktor", zieht eine "ökonomische Bilanz" und erwägt im Blick auf eine EMNID-Erhebung die touristische "Wertschöpfungsquote". Arbeitsplätze schaffen: dieses ist momentan ja das opportunste Plädoyer für Tourismus.
Zehn Reiseziele in Hessen und im Rheinland
Zehn kompetente Beiträge widmen sich schließlich einigen "markanten Reisezielen"(5), zuerst der Frankfurter Messe, die seit dem Mittelalter Handel und Rummel verbindet; danach dem Rheingau mit seinem seit dem späten 18. Jahrhundert vornehmlich durch Engländer, später durch die deutschen Romantiker propagierten Landschaftsreiz, auch dem Weintourismus mit dem Zentrum Rüdesheim samt Nahblick auf die Germania des Niederwalddenkmals. Das rekonstruierte Römerkastell der Saalburg ist nach Entstehung, Aussehen und Attraktivität beschrieben, launig erzählt wird vom Schwälmer Künstlerort Willingshausen, seinen Malern und ihren bäuerlichen Modellen. Und dann kommen noch die Edertalsperre und ihr besegelbarer See, der Hessenpark im Taunus mit seinem Freilichtmuseum; schließlich die documenta in Kassel, ein touristischer Magnet von Weltformat.
Resümee: Nirgends stört die wirtschaftlich werbende Absicht dieses reichhaltigen Bandes die wissenschaftliche Gründlichkeit seiner Autoren. Und durchwegs sind deren Beiträge gut geschrieben. Beides ist zu loben.
Prof. Dr. Hans-Wolf Jäger
Hohenloher Straße 22
D-28209 Bremen
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Ins Netz gestellt am 26.12.2002

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Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.
Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.
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