Jahn über Paul: Reichsstadt und Schauspiel

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Bernhard Jahn

Mediengeschichtlich erweiterte Sozialgeschichte
>nach der Sozialgeschichte<.
Eine exemplarische Studie
zum Nürnberger Barocktheater

  • Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts (Frühe Neuzeit 69) Tübingen: Niemeyer 2002. 689 S. 17 Abb. EUR (D) 126,-.
    ISBN 3-484-36569-2.

Inhalt

Der Forschungsstand: Keine Sozialgeschichte des Barocktheaters | Sozialgeschichte als Mediengeschichte | Zentrum und Peripherie: Theaterpraxis und literarische Poetik | Sozialgeschichte auf der Basis von Aufführungen: Nürnberger Theater im 17. Jahrhundert und seine Öffentlichkeit | Funktionsgeschichte und Kommunikationstheorie | Interaktionskreise des reichsstädtischen Theaters: Wanderbühnen und Schultheater | Neueinschätzung der "Redeoratorien" von Johann Klaj | Ballette zu politischen Anlässen | Das reichsstädtische Musiktheater als Repräsentationsraum der Kaufmannsschaft | Theater und Sozialdisziplinierung | Fazit



Nach der Sozialgeschichte 1 erweist sich bei genauerer Betrachtung der Forschungslage oft als vor der Sozialgeschichte. Ein vermeintlicher Nachzügler wie der zweite Band der Hanser Sozialgeschichte 2 – die Reihe war immerhin schon 1980 mit Band drei eröffnet worden – wird so unversehens zur Frühgeburt. Denn was auch immer man diesem Band an Verdiensten zu- oder absprechen mag 3 – um eine Sozialgeschichte der Literatur des 17. Jahrhunderts handelt es sich jedenfalls nicht. Und darin ist der Band leider repräsentativ für die Defizite eines großen Teils der gegenwärtigen Forschung.

Der Forschungsstand: Keine
Sozialgeschichte des Barocktheaters

Am deutlichsten zeigt sich das Fehlen des sozialgeschichtlichen Ansatzes in den Aufsätzen, die das Theater des 17. Jahrhunderts behandeln. Schon die Einordnung des Theaters in drei "Funktionsbereiche" mutet merkwürdig schematisch an: höfische Repräsentationsliteratur ("Oper, Festspiel, Ballett"), religiöse Literatur ("geistliches Drama und Kritik am Drama") und bürgerlich-weltliche Literatur, wobei im bürgerlich-weltlichen Bereich im 17. Jahrhundert anscheinend zwischen "Gebrauchs- und Massenliteratur" und "Kunstliteratur" unterschieden wird. Zur "Kunstliteratur" zählt dann jedenfalls "Das Drama". Ein solcher Schematismus sagt wenig über die Theaterpraxis des 17. Jahrhunderts aus und ließe sich entsprechend leicht widerlegen. Interessanter freilich scheint mir die Frage, warum sich nach über einem Vierteljahrhundert 4 sozialgeschichtlicher Forschungen zum 17. Jahrhundert solche Schematismen immer noch halten können. Einer der Gründe hierfür dürfte in der Reduktion des Theaters auf den gedruckten Text zu suchen sein. Einen so defizitären Theaterbegriff, hinter dem sich ein eng gefaßter Literaturbegriff verbirgt, würden die meisten WissenschaftlerInnen im Zeitalter der Medientheorien natürlich weit von sich weisen, zumal, wenn sie zum Theater arbeiten.

Der in der Hanser Sozialgeschichte verwendete Begriff der "Institutionen" 5 deutet die gute Absicht an, dem Band ein möglichst umfassendes Konzept von Literatur zugrunde zu legen. Aber das behauptete theoretische Konzept bleibt in den einzelnen Artikeln weitgehend unberücksichtigt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wenn man anstatt vom gedruckten Text von den Aufführungen ausgeht, dann bleibt zu fragen, warum das Theater bei der Gebrauchs- und Massenliteratur nicht an erster Stelle steht. Wanderbühnen, aber auch Schultheater und höfische Festvorstellungen waren – gemessen an den Bevölkerungszahlen des 17. Jahrhunderts – Massenveranstaltungen, Opernhäuser mit einem Fassungsvermögen von 3000 Zuschauern keine Seltenheit. Schultheateraufführungen der Jesuiten konnten auf ein illiterates Publikum zugeschnitten sein, mithin also einen größeren Rezipientenkreis erreichen als das gedruckte Buch.

Sozialgeschichte als Mediengeschichte

Eine Sozialgeschichte der Literatur, die institutionengeschichtlich konzipiert wäre, das Theater als eine dieser Institutionen zu fassen suchte und zunächst einmal statistisch Aufführung für Aufführung sammelte, käme zu einem völlig anderen Bild als die Hanser Sozialgeschichte. Sie wäre dann allerdings keine >reine< Literaturgeschichte mehr, sondern eine Mediengeschichte, denn auf dem Theater aufgeführte Literatur tritt immer im Verbund mit anderen Künsten auf. Bei einer statistisch sammelnden Vorgehensweise würde man feststellen, daß sich das >reine< Sprechtheater in der Frühen Neuzeit nur in Ausnahmefällen finden läßt, daß vorherrschend hingegen in der Regel eine Kombination aus Musik- und Sprechtheater ist, an der außerdem Architektur und Malerei sowie weitere Künste teilhaben.

Isoliert man die literarischen Elemente aus diesem Verbund, dann kann dies schnell zu Verzeichnungen führen, etwa bei der Einschätzung der Rolle, die die Dichtung im Rahmen höfischer Repräsentation spielte. Ob die Künste in diesem Verbund nun zusammen- oder gegeneinander wirken, in beiden Fällen muß der Verbund als Ganzes betrachtet werden, auch wenn für die heute bestehende akademische Fächerlandschaft eine Trennung naheliegt.

Zentrum und Peripherie:
Theaterpraxis und literarische Poetik

Eine institutionengeschichtlich konzipierte Literaturgeschichte müßte Abstand nehmen vom literarischen Kanon, den kanonischen Vorgaben der barocken Poetiken ebenso wie denen der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts. Die Poetiken von Opitz bis Gottsched 6 haben wenig mit der theatralen Praxis des 17. Jahrhunderts zu tun. Sie lehnen diese Praxis meist ab oder wollen sie bestenfalls reformieren; ihnen geht es eher um die Anbindung an poetologische Traditionen und um in sich stimmige Systeme, als um die Aporien theatraler Praxis. Die poetologischen Entwürfe der Zeitgenossen wären nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie der Institution Theater anzusiedeln.

Im Zentrum der Betrachtung müßte das stehen, was den Poetiken entweder gar nicht oder nur als zu vermeidende Mischformen in den Blick gelangt. Hierbei ist weniger an Formen wie die Tragico-Comödie zu denken, sondern eher an ein permanent variierendes Kombinieren von Musik- und Sprechtheater. Gerade dieses permanente Variieren als theaterpraktisches Prinzip ist der Grund, warum die Praxis des Theaters sich dem statischen System der Poetiken nicht fügt und nicht fügen kann. In diesem Punkt funktioniert das Theater des 17. Jahrhunderts anders als die übrige Literatur. Nicht die Gattung bildet hier den institutionell sichernden Rahmen, sondern allein die Aufführung.

Vom Zentrum an die Peripherie rücken müßten auch die barocken Kanonautoren Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein. Wer sich über die barocke Theaterpraxis informieren möchte, und sei es nur über die Breslaus, erhält einen geradezu falschen Eindruck, wenn er seinen Betrachtungen die Dramen von Gryphius und Lohenstein zugrunde legt. Schon für die Theatersituation in Breslau selbst gilt, wie man anhand der von Konrad Gajek herausgegebenen Auswahl von Einladungsschriften und Szenaren 7 überprüfen kann, daß es sich bei den Dramen von Gryphius und Lohenstein um Sonderfälle handelt, verglichen mit dem Gros der Schulactus-Produktion. Wenn diese Autoren in Einführungen zur Literatur des 17. Jahrhunderts immer wieder als typisch für das barocke Theater interpretiert werden, 8 dann ist dies bezeichnend für unseren heutigen Literaturkanon, sagt aber wenig über die Theaterpraxis des 17. Jahrhunderts.

Die Texte von Gryphius und Lohenstein sind durch eine lange Tradition germanistischer Interpretationen geadelt, und im Zusammenhang mit dieser Tradition mag der Terminus "Kunstliteratur", den die Hanser Sozialgeschichte verwendet, gerechtfertigt sein, aber im sozialen Kontext des 17. Jahrhunderts blieb den beiden Schlesiern als Dramenautoren der Adel des Mitspielens in der höchsten Liga der Theaterdichter verwehrt. Bei casusgebundenen Feierlichkeiten gaben weder Kaiser Leopold I. noch die Kurfürsten schlesische Trauerspiele in Auftrag. Hier hatten die italienische Oper oder das Jesuitentheater allemal Vorrang, obwohl auch die meisten Dramen der Schlesier casusgebunden sind – aber eben, um im Bilde zu bleiben, Regionalliga. 9

Auch sollte man nicht ungeprüft davon ausgehen, daß die Dramen der beiden Schlesier all das an zeitgenössischen Diskursen gebündelt enthielten, was bei ihren Zeitgenossen nur in verwässerter und poetisch wenig ansprechender Form zu finden wäre, daß also die Schlesier im emphatischen Sinne "Kunstliteratur" produziert hätten, während ihre Dichterkollegen in den Niederungen der Casualdichtung verharrten. Die politischen Diskurse der Dramen Lohensteins finden sich alle auch in den Opern am Wiener Kaiserhof, und verglichen mit den in kaum einer Literaturgeschichte erwähnten Rudolstädter Komödien Caspar Stielers nehmen sich die Komödien von Andreas Gryphius doch recht bescheiden aus.

Wenn nun aber das Theater als Institution sich nicht von den Gattungseinteilungen der zeitgenössischen Poetiken her beschreiben läßt, sondern nur von seinen Aufführungen, dann muß eine Typologie der Aufführungen an die Stelle einer Gattungssystematik treten. Die Aufführungen, verstanden als Interaktionen, könnten nach den verschiedenen Öffentlichkeiten kategorisiert werden, die sie konstituieren und durch die sie konstituiert werden. 10 Die Aufführung als Stifterin einer Interaktionsgemeinschaft bildet ein genuin sozialgeschichtliches Element, das durch mediengeschichtliche Aspekte ergänzt werden müßte, etwa, wenn es um die Versuche geht, das Ephemere der Aufführung in dauerhafte Medien zu transformieren.

Sozialgeschichte auf der Basis von Aufführungen:
Nürnberger Theater im 17. Jahrhundert
und seine Öffentlichkeit

Wie eine solche Institutionengeschichte auf der Basis von Aufführungen aussehen könnte, zeigt in vorbildlicher Weise die Studie von Markus Paul zum Nürnberger Theaterwesen im 17. Jahrhundert. Wer geglaubt hatte, zur Nürnberger Literatur des 17. Jahrhunderts sei alles gesagt, der wird sich bei der Lektüre des Buches auf einige Überraschungen gefaßt machen müssen.

Paul dokumentiert zunächst den Forschungsstand (S. 1 ff.), demzufolge es nach der Blütezeit der Nürnberger Theaterkultur im 16. Jahrhundert im 17. Jahrhundert kein nennenswertes Theater mehr gegeben habe. Lediglich Wandertruppen hätten sporadisch in der Freien Reichsstadt gespielt. Aufgrund seiner Quellenforschungen kommt Paul zu einem anderen Bild: Durch Ratsverlässe, Stadtchroniken, Einladungsschriften und Textbücher sind für das 17. Jahrhundert immerhin rund zweihundert Nürnberger Theaterunternehmungen nachweisbar (S. 16), wobei die Gastspiele der Wanderbühnen in dieser Zahl noch nicht enthalten sind. Das Interesse der Nürnberger am Theater mag zwar nicht mit Städten wie Hamburg oder gar Venedig zu vergleichen sein, aber es deutet doch darauf hin, daß das Theater ähnlich wie in anderen Freien Reichsstädten wirkungsvoll zu politischen Zwecken funktionalisiert wurde. Hinzu kommt, daß das Fechthaus, eine der Hauptspielstätten in Nürnberg, dreitausend Zuschauern Platz bot, 11 das Theater also durchaus als Massenmedium eingesetzt werden konnte.

Funktionsgeschichte und Kommunikationstheorie

In einem ersten, eher theoretisch angelegten Hauptteil fragt Paul nach den Funktionen, die das Theater für die Stadt bzw. für einzelne Gruppierungen in der Stadt haben konnte. Funktionsgeschichte und Kommunikationstheorie verbinden sich zu einem umfassenden sozialgeschichtlichen Ansatz. Aufgrund seiner Quellenstudien vermag Paul vor allem nachzuweisen, wie aktiv der sogenannte Kleine Rat (also die Vertreter der regierenden Patrizier) sich in alle Angelegenheiten des Theaters einschaltete. Der Kleine Rat kontrollierte nicht nur durch Verbote, sondern versuchte darüber hinaus, durch Auftragsvergaben das Theater für seine politischen Zwecke, sei es gegenüber den Untertanen, den anwesenden adligen Gästen oder gegenüber dem Kaiser, einzusetzen. Neben dem Patriziat war es vor allem der aus reichen Kaufleuten bestehende "zweite Stand", der sich aktiv für das Theater engagierte, hier besonders für das Musiktheater. Das Theater der unteren Stände (Handwerker, Meistersinger) wurde zunehmend durch Kritik diskreditiert und durch Verbote in die Illegalität gedrängt.

Trotz aller Funktionalisierung blieb das Theater ein Medium mit Unwägbarkeiten, ein Medium, bei dem die sozialen Disziplinierungsabsichten immer wieder ins Gegenteil umschlagen konnten. So waren die Theaterunternehmungen das ganze 17. Jahrhundert hindurch immer auch von Kritik am Theater begleitet, zunächst durch die präpietistische Geistlichkeit, gegen Ende des Jahrhunderts dann durch die pietistischen Kreise selbst (S. 119 ff.). Gerade die Nürnberger Poetiken Sigmund von Birkens und Georg Philipp Harsdörffers sind es, die, wie Paul zeigen kann, dieser Kritik den Wind aus den Segeln nehmen möchten, indem sie genuin christliche Theaterkonzepte entwickeln (S. 110 ff.).

Interaktionskreise des reichsstädtischen Theaters:
Wanderbühnen und Schultheater

Die im zweiten Hauptteil des Buches von Paul behandelten theatralen Formen lassen sich in sechs Interaktionskreise einteilen.

Der erste dieser Interaktionskreise wird durch die Aufführungen der Wanderbühnen konstituiert (S. 161 ff.). Wanderbühnentruppen gastierten ab 1593 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts regelmäßig in Nürnberg. Nach Pauls Schätzungen gab es im Nürnberg des 17. Jahrhunderts mindestens tausend Wanderbühnenvorstellungen, wobei 20.000–25.000 Zuschauer pro Jahr keine Seltenheit waren (S. 164 f.) – und dies bei einer Zahl von etwa 40.000 Einwohnern. Es überrascht daher nicht, daß der Kleine Rat auf vielfältige Weise in die Aufführungen der Wanderbühnen einbezogen wurde. Es gab die auch aus anderen Städten bekannten Ratskomödien, d.h. exklusive Festvorführungen für den Rat (S. 168 ff.), und das Herrscherlob bildete einen integralen Bestandteil der Aufführungen (S. 179), so daß Rat und Wandertruppen beide voneinander profitierten: Jener bekam ein politisches Medium zur Selbstdarstellung an die Hand und diese erhielten die Aufführungserlaubnis und damit eine ökonomische Basis.

Der zweite Interaktionskreis wird durch das Schultheater gebildet (S. 185 ff.). Neben dem 1526 gegründeten Egidiengymnasium, das 1575 nach Altdorf verlegt wird, dann ab 1633 wieder in Nürnberg seine Pforten öffnet, gibt es mehrere Lateinschulen sowie private Gymnasien. Paul vermittelt einen umfassenden Überblick über die Nürnberger Schulsituation, wobei er das 16. Jahrhundert und die (spätere) Universität in seine Darstellung mit einbezieht. Auch das Schultheater ist dem Rat unterstellt, genauer dem sogenannten Scholarchenkollegium. Die Scholarchen sind nicht nur als Zensoren tätig, sondern fördern die Aufführungen durch finanzielle Zuschüsse für Kulissen oder durch Drucklegung der Stücke (S. 215 f.). Das Schultheater ist nicht die Angelegenheit der jeweiligen Schule, sondern der ganzen Stadt: Neben den Eltern und Lehrern waren im Publikum Angehörige des Patriziats, außerstädtische Adlige, reiche Bürger sowie die Intelligenz (vgl. die entsprechenden Hinweise in Birkens Tagebüchern) vertreten. Neben der erzieherischen Aufgabe für die Schüler hatte das Schultheater herrschaftsstabilisierende Funktion.

Neueinschätzung der "Redeoratorien" von Johann Klaj

Welchen Erkenntnisgewinn die breite sozialgeschichtliche Darstellung der Nürnberger Verhältnisse rund um das Schultheater mit sich bringt, zeigt Paul am Beispiel Johann Klajs. Obwohl diesem Autor seitens der Forschung erhebliche Aufmerksamkeit zuteil geworden ist, kann Paul erstmals den institutionellen Rahmen der Texte Klajs bestimmen (S. 235 ff.). Es handelt sich hierbei nicht, wie die ältere Forschung annahm, um für die Kirche bestimmte "Redeoratorien", sondern um Redeactus, die im Rahmen von Schultheaterveranstaltungen des "auditorium publicum egidianum" aufgeführt wurden. Mithin nehmen Klajs Texte keine Sonderstellung ein, wie die ältere Forschung behauptete, sondern folgen der in Nürnberg und anderen Städten etablierten Tradition des Redeactus. Weder die Klaj vorgegebenen geistlichen Themen noch die Untermalung mit Musik und die teilweise halbszenische Aufführung sind spezifisch für Klaj, sondern finden sich in ganz Deutschland. 12 Typisch für Nürnberg ist lediglich die Beschränkung auf nur einen Sprecher.

Pauls Darstellung des Nürnberger Schultheaters veranschaulicht die funktionelle wie die formale Vielfalt der Stücke. Johann Geuders "Freuden-Spiel" Macaria etwa wurde zunächst 1666 als Schultheaterstück konzipiert (S. 302), dann jedoch für die Einweihung des sogenannten Nachtkomödienhauses (ein im Unterschied zum Fechthaus vollkommen überdachtes, italienischen Standards entsprechendes Theater) 1668 herangezogen. Das "Freuden-Spiel" entspricht nicht den Opitzschen Vorstellungen einer Komödie, sondern läßt sich mit Paul als dramatisierter, in allegorische Form gekleideter Fürstenspiegel (S. 313) charakterisieren. Auch die anderen Beispiele Pauls, darunter Dramen von Birken (S. 280 ff.) zeigen, daß sich das Gros der Schultheaterstücke nicht dem Gattungsgefüge der Poetiken einpaßt. Paul sieht im Nürnberger Schultheater des 17. Jahrhunderts das Theater des 16. Jahrhunderts fortbestehen, zum einen weil Stücke aus dem 16. Jahrhundert weiter aufgeführt werden, zum anderen weil am unspezifischen Comoedia-Begriff des 16. Jahrhunderts festgehalten wird, der sich am ehesten noch mit dem Konzept des "Terentius Christianus" füllen läßt.

Ballette zu politischen Anlässen

Ballette zu politischen Anlässen konstituieren den dritten und vierten Interaktionskreis. Überzeugend rekonstruiert Paul für Sigmund von Birkens Teutscher Kriegs Ab- und FriedensEinzug den Aufführungskontext: Das Ballett wurde von Nürnberger Patriziern anläßlich des 1649 / 50 stattfindenden Nürnberger Exekutionstages vor den adligen Teilnehmern des Kongresses aufgeführt (S. 344 ff.) und diente so der Selbstdarstellung städtischer Interessen. Bemerkenswert ist, daß die Patrizier hier eine angeblich für höfische Zwecke reservierte theatrale Form der Selbstrepräsentation für sich in Anspruch nehmen. 13

Ähnlich liegt der Fall bei dem 1668 aufgeführten Kinderballett von Jacob Lang. Diesmal sind es die Kinder der Patrizier, die ein Roßballett (allerdings nur auf Pferdeattrappen) zu Ehren des neugeborenen Kaisersohnes aufführen (S. 362 ff.). Die Freie Reichsstadt Nürnberg war dem Kaiser unmittelbar unterstellt, und nach der Mitte des Jahrhunderts häufen sich theatrale Darbietungen, die den Kaiserhof zum Adressaten haben. Wie Paul zeigen kann, nimmt das Nürnberger Kinderballett auf das berühmte Wiener Roßballett von 1667 Bezug, das im Rahmen der Hochzeitsfeierlichkeiten zu Ehren von Leopold I. und Margarita Teresa aufgeführt wurde, allerdings mit echten Pferden.

Das reichsstädtische Musiktheater
als Repräsentationsraum der Kaufmannsschaft

Der fünfte Interaktionskreis besteht eigentlich aus einer Vielzahl sich überlagernder Kreise, deren mediales Zentrum das Musiktheater im engeren Sinne bildet. Die Musik nahm schon im Schultheater und bei den Balletten breiten Raum ein, rückte in den theatralen Formen ab der zweiten Hälfte des Jahrhunderts dann aber zunehmend in den Mittelpunkt. Paul gelingt es, die Vielfalt musiktheatraler Formen aufzuzeigen 14 und die Kommunikationsräume, denen sie ihr Entstehen verdanken bzw. in denen sie wirken wollen, zu rekonstruieren.

Die Nürnberger Oper galt bisher, dem Forschungsstand entsprechend, ausschließlich als Produkt der Wanderbühnen. Paul zeigt in einer weit ausholenden Rekonstruktion des sozialen Kontextes (S. 395 ff.), daß die Opernförderung hauptsächlich dem zweiten Stand zu verdanken ist, also den reichen Kaufleuten, die nicht dem Patriziat angehörten (S. 390 ff.). Die 1671 gegründete "Gesellschaft der vordersten Kaufleute", die sich hauptsächlich aus Vertretern des zweiten Standes zusammensetzte, führte die ins 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition der Musikkränze weiter. Der zweite Stand fand in der Förderung der Musik ein genuines Medium der Selbstrepräsentation, besonders auch gegenüber den Patriziern.

Gefördert und goutiert wurde alles, was mit Musiktheater im weitesten Sinne zu tun hatte. Das Interesse an der Oper reichte vom ins Deutsche übersetzten Libretto (Johann Gabriel Meyer: Der guldene Apfel, Nürnberg 1672) über Kurzopern, die hauptsächlich geistliche Sujets (Herodes, Abraham) zum Thema hatten, bis zur abendfüllenden großen Oper, wie sie in Venedig, Wien, München oder Hamburg auf die Bühne kam. Unter den großen Opern finden sich geistliche Themen wie Christoph Gottlieb Sauers Die Eroberung Jericho (1696), aber auch weltliche Stoffe aus der griechischen Mythologie (etwa eine Theseus-Oper) oder aus der römisch-germanischen Geschichte wie die Arminius-Oper von Christoph Adam Nägelein (1697).

Paul arbeitet nicht nur den sozialgeschichtlichen Kontext all dieser Opernunternehmungen heraus, sondern liefert auch stimmige Einzelinterpretationen der Libretti. Hierbei vermag er vor allem die politische Funktion der Opern zu demonstrieren. Wie im 17. und 18. Jahrhundert üblich, konnten durch das Medium der Oper anscheinend besonders wirkungsvoll Kommentare zur politischen Situation abgegeben werden. So kann Die Eroberung Jericho als Hinweis auf den Kampf Leopolds gegen die Türken gedeutet werden (S. 530), während die Arminus-Oper sich als Kritik der Feldzüge Ludwigs XIV. gegen das Reich lesen läßt (S. 537).

Obwohl die Initiative zu den Opern vom zweiten Stand ausgeht, ist doch die Stadt als Ganzes in die Opern mit eingebunden. Die Opern werden zum Medium für die ganze Stadt, selbst wenn sie nicht unmittelbar von den regierenden Patriziern finanziert werden. Besonders einleuchtend erscheint mir Pauls These, daß es sich bei den Opern gleichsam um "Schenkungen" der reichen Kaufleute an die Stadt handelte (S. 557), denn die Opernunternehmungen waren, im Gegensatz zu den Gastspielen von Kussers Operntruppe, nicht auf Gewinn hin ausgerichtet.

Daß Musiktheater nicht eo ipso Oper bedeuten muß, zeigen verschiedene weitere Formen, die Paul vorstellt, etwa die Trauerfeier für den Nürnberger Lautenisten Melchior Schmied, die unter dem Titel Pia memoria 1682 gedruckt wurde. Es handelt sich hierbei um ein halbszenisches, aus Arien, Chören, Instrumentalstücken und gesprochener Rede bestehendes Stück (S. 464 ff.), das in privatem Rahmen aufgeführt werden mußte, da der Rat eine derart aufwendige öffentliche Feier für einen Musiker untersagte.

Theater und Sozialdisziplinierung

Als sechster Interaktionskreis bleibt schließlich das Theater der unteren Schichten darzustellen (S. 580 ff). Ab 1600 stand der Kleine Rat den Darbietungen der Handwerker und Meistersinger zunehmend kritisch gegenüber. Das Theater der Handwerker entsprach nicht mehr den Standards, die die Berufsschauspieler der Wanderbühnen setzten. Außerdem wurde wohl das derb-groteske Element als für die städtische Repräsentation ungeeignet empfunden. Kam dann noch Kritik an den Oberschichten hinzu, lag es für den Rat nahe, solche Unternehmungen gänzlich zu verbieten. Die in den Ratsakten erhaltenen, permanent ausgesprochenen Verbote werden zu einem Beispiel für die forcierte Unterdrückung von Unterschichtenkulturen bzw. für den Versuch, die Unterschichten zu regulieren.

Was trotz dieser repressiven Praxis möglich war, nimmt sich abenteuerlich genug aus. Die von Paul rekonstruierten Lebensläufe des Nürnberger Goldschmiedemeisters Hans Mühlgraf, des Bortenmachers Georg Hengel d. Ä. sowie des Antiquars, Verlegers, Theaterprinzipals und Notars Georg Scheuer (S. 592 ff.) lesen sich wie Picaroromane und zeigen, welche Faszination das Theater trotz aller Verbote auf die unteren Schichten ausübte. Die Theaterpraxis selbst ist kaum noch rekonstruierbar, da es sich hier schon aus Zensurgründen um ein Theater der Aufführung und nicht der Texte handelte.

Fazit

Markus Pauls so umfangreiche wie umfassende Studie zum Nürnberger Theater des 17. Jahrhunderts, eine bei Theodor Verweyen in Erlangen entstandene Dissertation, zeigt exemplarisch, wie eine mediengeschichtlich erweiterte Sozialgeschichte "nach der Sozialgeschichte" auszusehen hätte. Und sie zeigt, indem sie so manches von der Forschung liebgewonnene Klischee korrigiert, wie viel noch zu tun ist, bevor eine Sozialgeschichte der Literatur des 17. Jahrhunderts, die diesen Namen zurecht führt, geschrieben werden kann.


PD Dr. Bernhard Jahn
Otto von Guericke-Universität
Institut für Germanistik
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IASLonline ISSN 1612-0442
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Jörg Kraemer. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer


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