Jahn über Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens

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Bernhard Jahn

Nürnberger Barocktheater
ohne theoretische Durchdringung.
Ein Handbuch zum dramatischen Werk
Sigmund von Birkens

  • Karl-Bernhard Silber: Die dramatischen Werke Sigmund von Birkens
    (1626–1681) (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 44) Tübingen: Gunter Narr 2000. 501 S. Kart. EUR (D) 69,-.
    ISBN 3-8233-5644-5.


Im Zusammenhang mit dem Nürnberger Theater des 17. Jahrhunderts ist neben der Studie von Markus Paul auf eine zweite neuere Arbeit hinzuweisen, die sich diesem Thema widmet. Die in Passau bei Hartmut Laufhütte entstandene Dissertation
Karl-Bernhard Silbers über die dramatische Produktion Sigmund von Birkens behandelt, von zwei Ausnahmen für den Bayreuther Hof abgesehen, ausnahmslos Werke, die in Nürnberg und meist auch für Nürnberg verfaßt wurden.

Zwischen Handbuch
und Werkanalysen

Silbers Arbeit versteht sich als Handbuch (S. 51), das umfassend über die dramatische Produktion Birkens informieren möchte. Nach einer Einleitung, in der es um poetologische Fragen geht, zu deren Beantwortung Silber vornehmlich Birkens eigene Poetik, die 1679 erschienene Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst, sowie die Vorreden einiger Dramendrucke heranzieht, ist die Arbeit chronologisch aufgebaut und behandelt je Kapitel ein Drama: Teutscher KriegsAb- und FriedensEinzug (1650 uraufgeführt), Margenis (1651), Psyche (1652), Bivium Herculis (1652), Androfilo (1655), Silvia (1655), Sophia (1662), Ballet der Natur (1652). Hinzu kommen einige Werke, deren Uraufführung nicht nachweisbar ist oder deren Status nicht über den eines Entwurfs hinaus gelangte: Zweitracht-Trutz und Eintracht-Schutz (1662 / 63 entstanden), ein nicht näher spezifizierbarer Ballettentwurf (1671), das Schäferspiel von Jacob / Lea und Rahel
(1672 entstanden und in Anton Ulrichs Roman Die Durchleuchtige Syrerin Aramena eingeschoben) sowie die Konzepte zu einem Josephs- und zu einem Amadis-Drama.

Dem Handbuchcharakter entsprechend wird für alle theatralen Werke der Überlieferungsbefund ausführlich dargelegt, wobei die in Birkens Nachlaß erhaltenen handschriftlichen Fassungen zum Vergleich herangezogen werden.
Die Analyse der Entstehung wird ergänzt durch die Darstellung des Aufführungskontextes. Zu jedem Drama gibt Silber eine ausführliche (teilweise zehn Seiten umfassende) Inhaltsangabe, nicht selten gedoppelt durch eine Auflistung der szenischen Gliederung. Die hierbei entstehenden Redundanzen sind für den Gebrauch der Arbeit als Handbuch eher hinderlich.

Vollends unbefriedigend ist die Analyse der Werke. Eine leitende Fragestellung ist in der Arbeit nicht auszumachen. Die Analyse konzentriert sich auf die Personencharakterisierung oder hangelt sich am Handlungsverlauf der Dramen entlang, mal diese, mal jene Einzelheit beobachtend, was in der des öfteren wiederkehrenden Überschrift "Einzelphänomene" seinen bezeichnenden Ausdruck findet. Eine der Ursachen für den divergierenden Charakter der Arbeit liegt sicher auch im Aufbau des Buches begründet. Eine Zweiteilung in einen Handbuch- und einen Analyseteil wäre vielleicht praktischer gewesen. Denn dann hätten im Analyseteil Beobachtungen zusammengeführt werden können, die so in der Vereinzelung untergehen. Zu nennen wären etwa die Frage nach der Funktion der Träume, die immer wieder angeschnitten wird, die verschiedenen Liebeskonzepte, die in den Werken wirksam sind und vor allem die beim Theater so wichtige Frage nach seiner spezifischen Theatralität.

Textsubstrate statt Theatralität

Silber interpretiert die dramatische Produktion Birkens, als handele es sich um Lesetexte. Nur wenn man die szenische, musikalische und tänzerische Dimension ausblendet, kann man etwa zum Ballet der Natur behaupten: "bei Birken gewinnt der Text der Figuren die Oberhand über die tänzerischen Elemente" (S. 419). Bevor eine solche Behauptung in den Raum gestellt wird, wäre zunächst einmal durch einen Vergleich mit französischen Balletten, bei denen sich neben dem Text auch die Musik und Hinweise zur Choreographie erhalten haben, dem Leser vorzustellen gewesen, wie eine Ballettaufführung in den 60er Jahren des
17. Jahrhunderts aussah. Erst dann hätte sich die Frage beantworten lassen, ob Birkens Ballett, das stark an den französischen Balletten orientiert ist, gegenüber dieser Norm Abweichungen aufweist. Daß die tanzenden Figuren auch singen – mithin also auch Text vorliegt –, ist im Ballett des 17. Jahrhunderts jedenfalls der Normalfall, wie man an den Balletten Lullys oder Anton Ulrichs sehen kann, und darf noch nicht zu Rückschlüssen auf die Bedeutung des Textes verleiten.

Ohne theoretische Perspektiven

Silbers Arbeit läßt einen Theoriehorizont weitgehend vermissen. Birkens Werke werden weder auf zeitgenössische Diskurse noch auf moderne Diskussionen bezogen. Die Diskussion zeitgenössischer Diskurse hätte sich etwa bei der Behandlung der Träume angeboten. Bei der Darstellung der Liebesthematik
(S. 336 ff.) wären die entsprechenden Ethiken bzw. Affektenlehren des 17. Jahrhunderts heranzuziehen gewesen. Vollends blaß bleibt alles, was mit höfischer Repräsentation, mit Zeremoniell und Höflichkeit zu tun hat. Hier ist die Forschungsliteratur der letzten fünfzig Jahre spurlos am Verfasser vorüber gegangen, denn keine der einschlägigen Arbeiten zu den Themen "Zeremoniell", "Höflichkeit" und "Repräsentation" werden zitiert oder auch nur genannt. Stattdessen bleibt das in diesem Zusammenhang am häufigsten benutzte Werk Fritz Moser: Die Anfänge des Hof- und Gesellschaftstheaters in Deutschland, eine immerhin aus dem Jahre 1940 stammende Arbeit!

Analytische Defizite

Vergleicht man einmal die Analyse des Teutschen KriegsAb- und FriedensEinzug, eines "Friedens-Ballets", das 1650 im Zusammenhang mit dem sogenannten Nürnberger Exekutionstag aufgeführt wurde bei Markus Paul (S. 344 ff.) und bei Silber (S. 52 ff.), dann werden schnell die Analysedefizite der Arbeit Silbers deutlich. Bei Silber erweist sich die Tatsache, daß das Ballett von Nürnberger Patriziersöhnen getanzt wurde (S. 65), als blindes Motiv. Paul (S. 357 ff.) gewinnt aus diesem Befund dagegen wichtige Einsichten zur politisch-repräsentativen Funktion der Aufführung im Zusammenhang mit der Nürnberger Politik.

Bei der Analyse des >Singspiels< Sophia (1662), das für den Bayreuther Markgrafen Christian Ernst und dessen sächsische Gattin Erdmuthe Sophie verfaßt worden ist, hätten die Standards der Dresdner Opernproduktionen vergleichend herangezogen werden müssen. Wie aus dem von Silber zitierten Briefwechsel Birkens hervorgeht (S. 352), scheint Birken selbst bezüglich der an ihn gestellten Erwartungen unsicher gewesen zu sein. Ein Vergleich mit Giovanni Andrea Bontempis als Partiturdruck erhaltener Oper Il Paride (1662) hätte sich hier angeboten. Erst dann hätte man beurteilen können, inwieweit sich Birken am Modell des italienischen dramma per musica orientiert und inwieweit er eigene Wege geht, die dann in einem zweiten Schritt vielleicht als typisch für die deutschsprachige Oper hätten gedeutet werden können. Silbers Analyse läßt die Frage unbeantwortet, inwiefern es sich bei Sophia um Musiktheater, bzw. beim Text um ein zu vertonendes Libretto handelt. Auch der politische Aspekt des >Singspiels< hätte stärker herausgearbeitet werden müssen. Silber verweist in diesem Zusammenhang zurecht auf den das >Singspiel< dominierenden genealogischen Diskurs (S. 371 ff.), der unter Anbindung an zeitgenössische genealogische Diskussionen ins Zentrum der Analyse hätte gerückt werden können.

Rekonstruktion und Dekonstruktion
des gattungspoetologischen Systems

Der Analyseteil von Silbers Arbeit bleibt jedoch nicht nur blaß, weil er zu wenig zeitgenössische Diskurse berücksichtigt, sondern auch, weil er sich modernen Fragestellungen verschließt. Daß Texte aus dem 17. Jahrhundert rhetorischen Bauprinzipien gehorchen, wird heute, mehr als dreißig Jahre nach dem Erscheinen von Wilfried Barners Barockrhetorik 1, niemand mehr bezweifeln. Die Rhetorizität der Texte muß daher nicht in umständlichen Analysen vorgeführt werden. Wichtiger wäre zu zeigen, wo die Rhetoriken und Poetiken der Zeitgenossen zu kurz greifen, wo sie Sachverhalte simplifizieren, die sich in der Praxis als wesentlich komplexer erweisen.

Bei Birken bietet sich seine eigene Poetik, die Teutsche Rede-bind und Dichtkunst an. Das "XII Redstuck. Von den Schauspielen" wäre z.B. auf seine spezifischen Unschärfen hin zu befragen. Birken scheint keine deutliche Trennung vorzunehmen zwischen >Ballet< und >Singspiel<, wenn er etwa Opitzens Dafne als "Ballet" bezeichnet. 2 Cesti / Sbarras Oper Il pomo d'oro ist für ihn ein "Beilager-Schauspiel" 3. Kannte er das Werk nur in Johann Gabriel Meyers deutscher Übersetzung von 1672, oder wie ist dieses Changieren zwischen Schauspiel und Oper (>Singspiel<) zu interpretieren? Birkens gattungspoetisches System scheint gewisse Schwierigkeiten zu haben, die neueren Gattungen wie auch die Mischformen zu integrieren. Ein >Singspiel< oder auch ein >Ballet< kann ja gleichzeitig entweder eine Komödie, eine Tragödie oder eine Tragikomödie sein. Zur Rekonstruktion des gattungspoetologischen Systems müßte eben auch dessen Dekonstruktion treten, die Frage nach seinen Ausblendungen und Überblendungen. In dieser Hinsicht hätten die dramatischen Werke Birkens luzidere Analysen verdient.


PD Dr. Bernhard Jahn
Otto von Guericke-Universität
Institut für Germanistik
Postfach 4120
D-39016 Magdeburg

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Ins Netz gestellt am 08.10.2003
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Anmerkungen

1 Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen: Niemeyer 1970 [Nachdruck ebd. 2002].   zurück

2 Sigmund v. Birken: Teutsche Rede-bind und Dichtkunst. Nürnberg 1679 [Nachdruck Hildesheim / New York: Olms 1973], S. 315.    zurück

3 Ebd., S. 325.   zurück