- Natalie Binczek: Im Medium der Schrift. Zum dekonstruktiven Anteil in der Systemtheorie Niklas Luhmanns. München: Fink 2000. 270 S. Kart. DM 48,-.
ISBN 3-7705-3453-0.
- Urs Staeheli: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000. 340 S. Geb. DM 69,-.
ISBN 3-934730-25-6.
Vergleich von Systemtheorie und Dekonstruktion
Systemtheorie und Dekonstruktion konvergieren in einer
Sphäre, in der es nicht mehr um ihre ursprünglichen Gegenstände, sei es
die Gesellschaft oder die Schrift, geht, sondern wo die
Theorieentwicklung so weit vorangetrieben wurde, daß diese Theorien in
großen autoreflexiven Schleifen immer auch Theorien ihrer selbst
werden: Beispiele und Vollzüge sich selbst schließender und dabei
tendentiell totalisierender Theoriearchitekturen. Es ist diese
Entwicklung, die in der letzten Zeit mehrfach zu Theorievergleichen
angeregt hat, die noch einmal hinter die Kulissen, hinter Strukturen
und Mechanismen autoreflexiver Theoriebildung zu blicken versuchen.
Beiden vorliegenden Arbeiten geht es in verblüffender
Einhelligkeit zwar ausdrücklich nicht um einen übergreifenden
Theorievergleich (Binczek, S.7; Staeheli, S.18), dennoch wollen beide
den dekonstruktiven Anteil an Luhmanns Systemtheorie offenlegen.
Jener dekonstruktive Anteil bezieht sich auf bestimmte
Elemente der Unhintergehbarkeit und Uneinholbarkeit, Paradoxierung und
Selbstaufhebung in der Systemtheorie, wie sie insbesondere die
Dekonstruktion als Spiel, als Praxis, als sich vollziehende différance
häufig autoperformativ vorgeführt hat. Das Design der Systemtheorie
versucht zwar, solche Fundierungskrisen zu umgehen. Binczek will jedoch
zeigen, daß eine Theorie wie die Systemtheorie auf dekonstruktive
Mechanismen, die aus solchen Konstitutionslücken resultieren, nicht
verzichten kann. Staeheli geht noch einen Schritt weiter, indem er
diesen Nachweis in eine Argumentation einbaut, die auf einen Begriff
des Politischen abzielt. Das Politische liegt nun für Staeheli genau in
jenen Sinnbrüchen und Sinnexzessen, die die Systemtheorie gerade
aufgrund ihrer Theoriearchitektur ausschließen muß. Beiden ist jedoch
gemeinsam, daß sie zunächst den Ausschluß des Dekonstruktiven aus der
Systemtheorie als dekonstruktiven Subtext der Systemtheorie selbst
offenlegen und somit einer Lektüre zuführen.
Dennoch kommen solche Unterfangen ihrerseits gar nicht
darum herum, beide Theorien ins Verhältnis zu setzen und sowohl
Theoriearchitekturen als auch Thematisierungsschwerpunkte zu
vergleichen.
Verschiedene Arten des Vergleichs Gegen den Strich versus mit dem Strich
So finden sich über die gesamte Arbeit von Binczek
hinweg zahllose Einzelvergleiche, die mit treffsicheren Formulierungen
systemtheoretische und dekonstruktivistische Theoriebausteine
gegeneinander halten. Man kann sehr wohl an diesem Buch einiges über
Systemtheorie und Dekonstruktion und ihr Funktionieren als Theorie
lernen. Aber mittlerweile gehört es zum Standard von Vergleichen
solcher Theorien, die sich selbst als Beobachtung und als Theorie der
Beobachtung entfalten, daß man nicht hinter das Niveau bzw. die Ebene
von Beobachtung, mit denen diese Theorien beobachten, zurückfallen
darf.
Staeheli hingegen läßt sich durchaus auf die
Anforderungen der Systemtheorie ein. Symptomatisch ist, daß er zwar die
Dekonstruktion als Gegenpart immer wieder heranzieht (z.B. S.125-128)
er nutzt sie sozusagen als Differenz, um die Systemtheorie zu
konturieren , als Instrument der Lektüre benutzt er aber die
Diskurstheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (S.11). Damit
gelingt es ihm, diese Theoriearchitektur sozusagen von innen im
Theorie-TÜV auf ihre Bruchstellen hin abzuklopfen. Insofern liefert
Staeheli eine exakte und absolut konforme, geradezu lehrbuchartige
Rekonstruktion der Systemtheorie; erst die Konklusionen, die er daraus
zieht, offenbaren das der Systemtheorie subversiv Entgegenlaufende,
eben das, was er als das dekonstruktive Moment bestimmt.
Man könnte sagen, daß Binczek die Systemtheorie mit der
Dekonstruktion gegen den Strich, Staeheli sie aber mit der
Diskurstheorie mit dem Strich bürstet, beide jedoch mit demselben
Erkenntnisziel. Wo immer sie das Defizitäre der Systemtheorie
fokussieren, darf dies entsprechend der Ausgangspositionen weder
auf die Blickrichtung noch auf das Objekt des Blicks zurückgeführt
werden. Es ist dies das dekonstruktive Moment der Systemtheorie, ihr
blinder Theoriefleck, den sie aufgrund ihrer Architektur ausschließen
muß.
Bei beiden gewinnt daher der Begriff der Lektüre, der
diese Beobachtung charakterisiert, eine symptomatische Bedeutung, ist
er doch dem dekonstruktivistischen Kontext entlehnt und bezeichnet eine
genuin dekonstruktivistische Praxis. Insofern ist Binczek konsistent,
weil sie Beobachtungsinstrument und Beobachtungsobjekt im selben
Theoriekontext zusammenfaßt. Gleichzeitig stellt sich aber die Frage
nach der Leistungsfähigkeit und der Angemessenheit dieser
Konstellation, weil man ja dekonstruktiv ohnehin immer nur das
Dekonstruktive sehen kann. Demgegenüber ist die "Lektüre der
Systemtheorie" durch Staeheli (S.314) immer auch als genitivus
subjectivus zu verstehen: Lektüre wird als systemtheoretische
Beobachtung adaptiert; Staeheli läßt die Systemtheorie sich selbst
beobachten, speist aber in diese Beobachtung die nicht mehr
aufzufüllenden Paradoxien der Selbstbeobachtung als dekonstruktive
Momente mit ein. Damit umgeht er das Problem, daß eine "notwendige
privilegierte epistemologische Position von beiden Theorien
ausgeschlossen wird" (S.18).
Binczek: Im Medium der Schrift
Gerade aber um diese Positionierung drückt sich die
Arbeit von Binczek herum. Sie muß sich fragen lassen, wo denn der
Beobachter situiert ist, der den dekonstruktiven Anteil der
Systemtheorie beobachtet. Die Frage bleibt offen, ob ein solcher
Beobachter seinerseits systemtheoretisch oder dekonstruktivistisch
beobachtet oder ob gar eine genuin dritte und höhere Position
angestrebt wird. An den Formulierungen allein läßt sich dies nicht
ablesen; im Gegenteil: Daß Binczek zwischen systemtheoretischem und
dekonstruktivem Stil, Vokabeln, selbst Floskeln changiert, ist wohl
eher prozessuales Substitut als genuin dritte Position.
Dennoch besitzt der Vergleich in seiner Anlage eine
nicht zu übersehende innovative Dimension. Zunächst einmal wird Schrift
konsequent als die Kategorie rekonstruiert, deren grammatologische
Entfaltung auch in der Systemtheorie ihr erst ihren dekonstruktiven
Impetus verleiht. Binczek geht dabei von der These aus: "Schrift
avanciert bei Luhmann zu einer zentralen theorieimmanenten
Fundierungskategorie, insofern sie der Form der kommunikativen
Operationseinheit als Medium zugrundeliegt" (S. 190). Schrift
avanciert so bei Binczek zum "kulturellen Dispositiv"
systemtheoretischer Medientheorie (S. 252).
Mit Hilfe der Dekonstruktion kann Binczek auch für die
Luhmannsche Systemtheorie einen >Primat der Schriftlichkeit< bzw. einen
>Primat des schriftbasierten Textes< für die Beobachtung von
Kommunikation nachweisen. Damit wird gerade dem Luhmannschen Konzept
von Kommunikation, also dem zentralen Theorieelement der gesamten
Systemtheorie, nicht weniger unterstellt, als daß sie nach dem Muster
der Schrift als Medium entfaltet wird: Kommunikation wird als Schrift
beobachtet und beobachtet ihrerseits als Schrift.
Beobachtung nur in Form des schriftlichen Textes
Binczek dreht die Blickrichtung Luhmanns, der die
Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung systemtheoretisch
charakterisiert hat, um: Die Beobachtung zweiter Ordnung, die
Beobachtung von Kommunikation, damit die Beobachtung von sozialen
Systemen und ihrem Prozessieren kann überhaupt nur in der Form bzw. im
Medium des schriftlichen Textes erfolgen. Die Beobachtung, die Analyse
gesellschaftlicher Prozesse und die Interpretation der Gesellschaft
kann nur schriftlich erfolgen. Und eben daraus resultiert die
dekonstruktive Dimension der Systemtheorie.
Die gesamte Arbeit besteht in der Plausibilierung
dieser These, die Binczek auf eindrucksvolle Weise gelingt. Sie
rekapituliert die gesamte Kommunikations- und Medientheorie der
Systemtheorie unter der Vorgabe ihrer Fundierung durch das Medium der
Schrift und spannt den Bogen von den grundsätzlichen
Begriffsinventarien, die den Theorievergleich einleiten, bis hin zur
sozialen Ausdifferenzierung eines Systems der Massenmedien. Daß sich in
der Kapitelfolge auch eine eher dekonstruktivistisch inspirierte
Filminterpretation von Godards Film Nouvelle vague findet, läßt sich
nur bedingt in die Argumentationslinie einfügen.
Grundlegend stützt sie sich auf zwei theorieleitende
Differenzen, die sie entsprechend diskutiert und modifiziert: nämlich
die Differenz von Kommunikation und Lektüre und die Differenz von
Beobachtung und Operation. Erstere setzt sie kritisch gegen die
Differenz von Wahrnehmung und Kommunikation ab, die in Luhmanns Buch
"Die Kunst der Gesellschaft" zur zentralen Grundlage
ausgebaut wurde. Damit gelingt es ihr, den Kommunikationsbegriff nicht
nur auf eine textuell basierte Kommunikation zurückzuführen, sondern
auch, die Lektüre nicht als Sonderform, sondern als Paradigma von
Differentialität zu konzeptualisieren. Diese Differentialität, die von
der Dekonstruktion Derridas mit dem Kunstwort différance belegt wird,
wird genau mit der zweiten Differenz systemisch reformuliert. Die
logische Unabhängigkeit von Operation und Beobachtung, ein Grundprinzip
der systemtheoretischen Denkarchitektur (S. 184), ist darauf
zurückzuführen, daß keine Beobachtung sich selbst als Operation
durchschauen kann. Es bedarf vielmehr einer weiteren Beobachtung, die
eine vorausgehende Beobachtung als Operation beobachten kann. Daraus
geht laut Binczek der dekonstruktive Anteil an Luhmanns
Systemtheorie hervor.
Grundsätzliches Problem des Theorievergleichs
In den Hintergrund gerät dabei aber doch die
theoriebautechnische Funktion einer solchen Differenz von Beobachtung
und Operation. Diese Differenz dient ja gerade dazu, das Paradox der
Selbstblindheit der Beobachtung als Operation zu umgehen. Sie
beschreibt schließlich nicht nur Beobachtung, sie ist gleichzeitig ein
Instrument, paradoxal-aporetische Denkstrukturen in einen fortlaufenden
Prozeß aufzulösen. Und hierbei wird noch einmal das grundsätzliche
Problem des Theorievergleichs virulent. Denn es zeigt sich, daß ein
solcher Vergleich zwischen Systemtheorie und Dekonstruktion nicht
stattfinden kann, ohne daß in den Vergleich selbst die Bedingungen, wie
sie entweder von Systemtheorie hier oder Dekonstruktion dort vorgegeben
werden, konstitutiv mit einfließen. Wer sich, wie Binczek, auf den
dekonstruktiven Anteil an der Systemtheorie konzentriert, ist
zwangsweise auf einen dekonstruktivistischen Vergleich beider Theorien
festgelegt und impliziert einen dekonstruktivistischen Vorrang.
Das zeigt sich auch daran, daß diese
paradoxiesprengende Funktion einer Differenzierung von Beobachtung und
Operation gerade angesichts der différance, die noch nicht einmal als
Begriff gedacht, geschweige denn gehandhabt werden kann, nicht im
vollen, die Theorie konstituierenden und charakterisierenden Umfang
ihrerseits beobachtet werden kann. Das höhere Differenzierungspotential
der Systemtheorie wird durch den Nachweis eines dekonstruktiven Anteils
nicht selbst dekonstruktivistisch; vielmehr erscheint es so, daß es von
hier aus nur ein kleiner Schritt wäre, das systemtheoretische Potential
der Dekonstruktion herauszustellen, das allerdings erst in der
Systemtheorie zur vollen Entfaltung käme. Binczek hält sich zurück,
doch letztlich, sofern eine genuin dritte Position nicht vorhanden ist
und woher, von welcher Theorie sollte sie kommen?, kann ein solcher
Vergleich nicht neutral ausfallen.
Daß aber überhaupt solche Fragen, die nach den
Bedingungen des Vergleichs von Systemtheorie und Dekonstruktion
zugleich auch die Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt in
das Blickfeld rücken, hängt nicht zuletzt von dem hohen theoretischen
Niveau der Arbeit ab.
Staeheli: "Das Politische"
Staehelis Ziel geht über den Theorievergleich
hinaus, denn aus dem dekonstruktiven Moment der Systemtheorie will er
einen Begriff des Politischen entwickeln. Obschon oder gerade weil er
so exakt mit der Architektur der Systemtheorie umgeht, offenbart sich
die Radikalität seinen Ansatzes gegenüber der Systemtheorie vielleicht
erst auf den zweiten Blick. Staehelis Kritik an der Systemtheorie
versucht dieser nicht nur einen dekonstruktiven Subtext zu
unterstellen, sondern Brüche in der Theoriearchitektur selbst
nachzuweisen.
Er setzt bei der System-Umwelt-Differenz, dem zentralen
Baustein der Systemtheorie an, und schlägt den Bogen bis zur
funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft. So beginnt er mit
einer genauen Analyse der drei verschiedenen System- bzw.
Umweltbegriffe, die sich in der Ausgangsdifferenz verbergen. Zum Ende
seiner Arbeit wird deutlich, daß sich in den Begriffsdifferenzen
Einbruchstellen offenbaren, die es ihm erlauben, das Konzept des
Politischen jenseits eines Sozialsystems der Politik zu situieren.
Das dekonstruktive Moment der Systemtheorie dient
Staeheli dazu, das Politische zu rekonstruieren. Damit dient ihm die
Theoriekritik dazu, nun seinerseits eine Theorie des Politischen zu
entwerfen.
Das Politische im Sinne Staehelis ist eben nicht mehr
als politisches System zu verstehen. Es unterläuft vielmehr die
codebasierte und programmgestütze Ausdifferenzierung und ist in allen
sozialen Prozessen präsent. Es ist kein System, sondern eine soziale
Institution (S. 260), die gerade der systemisch nicht mehr faßbaren
"Unendlichkeit des Sozialen" (S. 57) gerecht wird.
Staeheli hat diese nicht mehr aufhebbare Paradoxie der
Systemkonstitution durch Differenzierung herausgearbeitet und mit dem
diskurstheoretischen, von Laclau übernommen Begriff der Dislokation
gekennzeichnet, um das Politische genau dort zu situieren: "Das
Politische wird in solchen Momenten der Geschichte eines Systems
lesbar, in denen es mit den unentscheidbaren Situationen seiner
Paradoxie konfrontiert wird." (S.266) Das Politische bezeichnet eine
Entscheidungssituation, die nicht mehr entscheidbar ist, gemäß dem
Spruch von Heinz von Foerster, wonach nur Unentscheidbares letztlich
entschieden werden kann.
Sinnzusammenbrüche
Während sich Binczek vor allem auf das
dekonstruktivistische Konzept der Schrift stützt, setzt Staeheli bei
dem systemtheoretischen Theorieelement des Sinns und seiner genuin
systemtheoretischen Entfaltung als Supermedium an. Aufgrund der
Einbruchsstellen, die durch die Differenzierung offenbar werden, kann
Staeheli zeigen, wie das Konzept der Nichtnegierbarkeit und der
Selbstverabsolutierung des Sinns seinerseits brüchig wird. Daher zielt
seine zentrale methodische Frage auch auf die Möglichkeit des
Fehlschlagens von Sinnprozessen (S.20).
Ein Großteil der Arbeit widmet sich dem Nachweis von
Sinnbrüchen bzw. Sinnexzessen, die gerade dort zutage treten, wo die
Selbstverabsolutierung greifen müßte. So wird in der Lektüre Staehelis
das Supermedium selbst zu einem Indikator für permanent potentielle
Sinnzusammenbrüche. Staeheli skizziert hierbei einen immanenten
Zusammenhang von defizitärer Systemdifferenzierung und Sinn als Medium,
den er diskurstheoretisch als Zusammenhang von Dislokation und
Dissemination rekonstruiert.
Staeheli geht zwar auch auf die Schrift ein, aber nicht
so zentral wie Binczek. Vielmehr will er den "Sinnbruch" in Luhmanns
Kommunikationskonzept selbst nachweisen (S. 128). Dennoch geht er
ebenso wie Binczek davon aus, daß erst Schrift "das
>Kommunikative< der Schrift" (S. 313) sichtbar werden läßt. Dennoch ist
es aber gerade das Kommunikationskonzept der Systemtheorie, das die
Sinnbrüche prozessual überdeckt, die die Dekonstruktion am Beispiel der
Sprache am Paradigma der Schrift als "Rhetorizität von Sprache"
(S. 317) offenlegt. So tritt in der Systemtheorie die
Kommunikationstheorie auf, wo in der Dekonstruktion die Sprachtheorie
auftritt (S. 310).
Die Arbeit folgt folgendem Argumentationsschema: Wenn
Sinnzusammenbrüche möglich sind, dann muß gerade dort der Ursprung des
Politischen liegen. Das Politische bezeichnet einen Moment der
Entscheidung in einer paradoxalen Situation, deren Paradox gerade aus
dem Sinnzusammenbruch in der Systemdifferenzierung resultiert. Die
Politik, nicht als System, sondern als Praxis, ist die Form der
Entparadoxierung einer paradoxen Situation; sie fällt Entscheidungen in
Situationen, die keine Entscheidung zulassen. Und hierzu nutzt sie
"die Form des Konflikts".
Der dekonstruktive Subtext der Systemtheorie
Gerade auch mit ihrer Kritik beweisen beide Arbeiten,
welches theoretische und theoriekonstitutive Potential die
Systemtheorie nicht zuletzt für ihren genuinen Gegenstandsbereich:
die Beobachtung der Gesellschaft besitzt, indem sie den Umweg über
den Vergleich mit der derzeit noch immer beeindruckensten
Theoriealternative, der Dekonstruktion, gehen.
Das Eigentlich Interessante und Faszinierende, das man aus diesen Arbeiten herauslesen kann, ist die Tatsache,
daß die Systemtheorie ihre eigene Dekonstruktion darstellt. Wenn man
beide Arbeiten zusammen und zusätzlich noch die Staehelis von der
Binczeks abhebt, kann man erkennen, daß und wie das Verhältnis von
Theoriearchitektur und Gegenstand der Theorie als Verdeckungsverhältnis
durchschaut werden kann.
Einerseits dient die Theoriearchitektur z.B. mit ihren
Elementen der System/Umwelt-Differenz, des Supermediums Sinn, der
Differenz von Beobachtung und Operation dazu, die damit
hervortretenden Bruchstellen zu verbergen und somit gleichzeitig
abzuarbeiten. Andererseits wird so aber auch beobachtbar, daß der Sinn,
das Kommunikative, das Soziale sich nicht in ein theoretisches Korsett
pressen lassen, ohne daß eben dadurch genau jener von der Theorie
nicht mehr faßbare Mehrwert virulent wird, der sich dann subversiv bzw.
dekonstruktiv auswirkt.
Beide Arbeiten versuchen dieses Ergebnis zu verwerten,
Binczek für die Medien, Staeheli für das Politische. Dennoch kann und
muß man dieses Ergebnis selbst wiederum auf einen Theorieprozeß
zurückführen, unabhängig davon, ob man ihn dekonstruktivistisch als
Lektüre oder systemtheoretisch als Beobachtung charakterisiert. In
dieser radikalisierten Blickrichtung kann man erkennen, daß sich
Systemtheorie auch als Einheit der Differenz von Systemtheorie und
Dekonstruktion beschreiben läßt. Ja, mehr noch: Systemtheorie und
Dekonstruktion bezeichnen differentielle Theoriemuster, die nur in
wechselseitiger Absetzung nicht nur ihre Kontur, sondern auch ihre
Leistungsfähigkeit gewinnen. Mit Dekonstruktion kann man sich nicht auf
eine Kritik der Systemtheorie zurückziehen. Sie muß, will sie nicht
gegenstandslos bleiben, ein Teil des Kritisierten werden. Das zeigen
beide Arbeiten auf eindrucksvolle Weise und weisen somit den Weg zu
einem neuen Standard von Theorievergleich, der nun eben doch eine
genuin dritte Position, jenseits von Dekonstruktion oder Systemtheorie,
anvisieren kann.
Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
An der Universität 5
D-96045 Bamberg
Ins Netz gestellt am 15.05.2001
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