Jahraus über Schmidt: Warum Kafka doch interpretierbar ist

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Oliver Jahraus

Warum Kafka doch interpretierbar ist

  • Christopher M. Schmidt: Interpretation als literaturtheoretisches Problem. Die Möglichkeit einer Neuorientierung in der Isotopie-Theorie, veranschaulicht anhand von Gregor Samsa in Franz Kafkas Erzählung "Die Verwandlung" (Hamburger Beiträge zur Germanistik Bd. 30). Frankfurt/M. u.a.: Lang 2000. 443 S. Kart. DM 98,-.
    ISBN 3-631-35795-8.


Ein Dissertationsprojekt zur Interpretationstheorie

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation aus dem Jahre 1999 aus Finnland, also aus dem Bereich der Auslandsgermanistik. Das charakterisiert diese Arbeit in Gegenstand und Stil in zweifacher Hinsicht:

Die literaturtheoretische Fundierung der Interpretation erfolgt zentral über das Isotopie-Konzept, dessen Wurzeln und dessen Ausarbeitung dem Feld des Strukturalismus zuzurechnen sind. Nun ist der Strukturalismus seit längerem nicht mehr en vogue. Und so muten die umfangreichen und sehr exakten Bemühungen des Autors, ein strukturalistisches Konzept für die aktuelle Literaturtheorie wiederaufzubereiten, so an, als ob sie den mainstream der Theoriedebatten irgendwie verpaßt hätten.

Hinzu kommt, daß man – gerade bei einer so detaillierten Argumentationsstruktur, wie sie die vorliegende Arbeit entfaltet – ihr den Dissertationsstil deutlich anmerkt: Die Argumentation wird umfassend explizit gemacht, sie wird beständig mitgeführt, immer wieder wird der Argumentationsstand bilanziert, und um den Leser immer auf diesem Argumentationsgang zu halten, scheut der Verfasser sich auch vor Wiederholungen nicht; die permanenten Binnenverweise der Arbeit sind auffällig.

Dissertationen müssen wohl so geschrieben sein. Und Dissertationen müssen innovativ sein. Aber wer sagt, daß sie en vogue sein müssen? Von daher ist diese erste, eher kritische Charakterisierung durch eine zweite, konträre zu ergänzen. Unabhängig davon, wie man nun diese Aktualisierung der Isotopie bewerten will, kann doch das Gesamtunternehmen zeigen, welch leistungsfähige Verfahren der Strukturalismus zur Analyse, also zu einer semantisch orientierten Rekonstruktion des literarischen Textes, die man noch nicht mit einer Interpretation gleichsetzen darf, wie die Arbeit auch zeigt, entwickelt hat.

Das Wissenschaftskonzept des Strukturalismus

Denn dahinter steht noch immer ein Wissenschaftskonzept, das die Arbeit nahezu nahtlos übernimmt, das die Eigenqualität einer Geisteswissenschaft nicht anerkennt und grundsätzlich am Objektivitätsniveau einer Naturwissenschaft ausgerichtet bleibt. Dieses Wissenschaftskonzept ist mit einem Gestus des Argumentierens und Darstellens verbunden, der auf den ersten Blick trocken und sich wiederholend wirken mag. Hat man sich aber erst einmal auf diese Wissenschaftssprache >par excellence< eingelassen, eröffnet die selbst noch einmal explizierte Argumentation die nötigen Einblicke in den Gesamtaufbau der Arbeit.

Damit wird dann nicht nur der Spannungsbogen der Argumentation deutlich, der sich von den grundsätzlichen literaturtheoretischen Fragestellungen, was ein literarischer Text sei und wie sein Charakteristikum textuell, semantisch und literarisch zu bestimmen sei, bis hin zu einer Rekonstruktion der interpretatorischen Praxis spannt. Und zudem wird deutlich, wie dieser Spannungsbogen einzelne Themenfelder, die er überdeckt, einander zuordnet, als da wären: die Ebenen literarischer Kommunikation, die semiotischen Grundlagen der Textanalyse, die isotopische Fundierung der Textanalyse, die Vieldeutigkeit von Texten aufgrund dynamisch aktualisierter Isotopien.

Was ist eine Isotopie? Was soll eine Isotopie?

Im Zentrum der Arbeit steht das Isotopie-Konzept und seine literaturwissenschaftliche ebenso wie literaturtheoretische Anwendung. Die Arbeit liefert nicht nur eine Neukonzeptualisierung des Literaturbegriffs und der darauf aufbauenden Textanalyse, wie es der Untertitel programmatisch verspricht, sondern – fast ist man geneigt zu sagen: nebenbei – eine ausführliche isotopische Analyse von Kafkas Erzählung Die Verwandlung mit dem Fokus auf der Hauptfigur Gregor Samsa. "Nebenbei" – das stimmt nun nicht ganz, denn das zentrale Kapitel rekonstruiert die isotopische Struktur dieses Textes auf nahezu 130 Seiten! Allerdings erschöpft sich diese Textanalyse nicht in sich selbst, sondern sie ist ein funktionaler Argumentationsteil, der auf die textanalytische Arbeit selbst zielt.

Bevor man – mit der Arbeit – dieses ehrgeizige Ziel ins Auge faßt, sollte man sich erst einmal das Instrument, das dieses Ziel erreichbar macht, vergegenwärtigen:

Eine Isotopie wird in der vorliegenden Arbeit als das Etablieren eines semantischen Merkmals aufgrund der mindestens zweimaligen Aktualisierung eines Sems im Textmaterial, sei es inhärent oder afferent, vor dem Hintergrund eines Interpretationskontextes, in der vorliegenden Arbeit die Analyse der Bedeutungseinheiten um die Hauptfigur Gregor Samsa herum, verstanden. (S.132)

Dieser klassisch-strukturalistische Isotopie-Begriff wird konstruktivistisch neu fundiert. So heißt es weiter:

Der hier konstruktivistisch gebrauchte Isotopie-Begriff (in Anlehnung an Rastier und Eco) unterscheidet sich auch in diesem Punkt von dem noch recht statischen Isotopiebegriff bei Greimas, welcher >Isotopie< als das wiederholte Auftreten von Bedeutungseffekten aus der Kombination von nukleärem Sem und kontextuellem Sem definiert [...]. (ebd.)

Klassisch strukturalistisch ist dieses Konzept, insoweit es auf einer genuin strukturalistischen Zeichenkonzeption beruht, wonach sich die Bedeutung eines Zeichens, eines Begriffs, eines Wortes, eines Lexems bzw. auch eines Textes aus kleinsten distinktiven Bedeutungskomponenten, Semen, sowohl bedeutungserzeugend als auch in ihrer Kombination bedeutungsunterscheidend, aufbaut. In diesem Zusammenhang ist interessant, daß diese Sprach- und Zeichenkonzeption die Interpretierbarkeit auch des literarischen Textes an die Rekonstruierbarkeit seiner Zeichenstruktur zurückbindet – und damit garantiert!

Konstruktivistisch wird das strukturalistische Isotopie-Konzept insofern erweitert, als es zum einen nicht mehr auf die festgelegten Bedeutungskerne (Seme) ankommt, und als es zum zweiten nicht um eine Rekonstruktion, sondern um eine Aktualisierung von bestimmten Semen relativ zu einem Interpretationskontext geht. Gegenüber dem strukturalistischen Konzept, dem man ja vorhalten kann, daß jede Semanalyse ihrerseits wiederum auf einem nicht mehr analytisch reduzierbaren Interpretationsakt beruht, ist das konstruktivistische Konzept insofern ehrlicher, als es die Konstitution der Seme schon bereits in den Interpretationskontext selbst hineinverlegt. Ob das grundlegende Problem, daß semantisch nicht mehr hinter die Semantik zurückgegangen werden kann, damit anders gehandhabt werden kann, bleibt fraglich.

Die Aktualisierung eines Sems gegenüber einem anderen ist eine Interpretationsaussage. Die Arbeit versucht, die Ausgangsebene zu verlagern: Es soll ja keine, wie es noch die strukturalistische Idealvorstellung war, vollständige Analyse geleistet werden, die nur durch pragmatische Vereinbarungen oder Gegebenheiten der Analyse restringiert wird, sondern es geht ja genau darum, daß eben in jeder Interpretation eben keine vollständige Analyse erfolgt, sondern immer nur bestimmte Seme und mithin Isotopien aktualisiert werden, andere hingegen nicht, die dann also nur virtualisiert werden. Daß der Verfasser seine isotopische Analyse auf die Hauptfigur fokussiert, ist ein Beispiel dafür, wie solche Interpretationskontexte erzeugt, aber gleichzeitig restringiert werden können. Die Konzentration auf die Hauptfigur dient also gleichzeitig dazu, das Potential an Aktualisierungen überschaubar zu halten.

In seiner Analyse unterscheidet der Verfasser drei Isotopieebenen, eine grundlegende diskursive, und zwei höherstufige narrative. Auf der diskursiven Ebene werden all jene Isotopien rekonstruiert, die das Textmaterial in seiner basalen semantischen Funktion aktualisieren läßt. Die narrativen Ebenen beruhen auf der diskursiven Ebene, indem sie von den einzelnen diskursiven Isotopien abstrahieren und narrative Grundmuster anzeigen, die auf der zweiten narrativen Ebene zu sehr wenigen, zentralen Isotopien zusammengefaßt werden.

So werden auf der diskursiven Ebene so zentrale und umfassend aktualisierte Isotopien wie <menschlich>, <tierisch> oder <dinglich> und weniger zentrale Isotopien wie <vertraut>, <hell> oder <beweglich>, um nur einige zu nennen, mit positivem oder negativem Index für Gegebenheit oder Nicht-Gegebenheit, rekonstruiert und analysiert. Auf der zweiten narrativen Ebene werden diese Isotopien zusammengefaßt zu den übergreifenden Isotopien wie <Einsamkeit>, <Entfremdung> oder – negativ indiziert – <Kommunikation>.

Wie gesagt: Damit allein ist schon eine semantisch-isotopische Textanalyse von Kafkas Text geleistet, die sich durchaus auch in der Kafka-Interpretation weiterhin fruchtbar machen läßt. Doch der Verfasser will darüber hinaus seine eigenen Ergebnisse nutzen, um vorliegende Kafka-Interpretationen auf ihre isotopischen Aktualisierungen und Virtualisierungen hin zu befragen. Vier Interpretationen werden genauer, ca. 50 Interpretationen aus den letzten 40 Jahren werden überblickshaft auf spezifische Aktualisierungen hin untersucht. Dabei kann der Verfasser zeigen, wie auf der Basis des Grundbestands an diskursiven Isotopien durch jeweils unterschiedliche Konstellationen von Aktualisierungen und Virtualisierungen unterschiedliche Muster narrativer Isotopien erzeugt werden, die dann interpretativ ausgewertet werden.

Damit wird das Isotopie-Konzept vom Verfasser nicht nur als textanalytisches, sondern auch als interpretationstheoretisches Instrument dargestellt, das Rückschlüsse auf literaturtheoretische Grundsatzpositionen erlaubt. Auf der Metaebene der untersuchten Interpretationen soll nämlich gezeigt werden, wie in der Interpretation eine konstitutive Qualität des literarschen Textes, seine Literarizität – im eigentlichen Sinn des Wortes – zum Ausdruck kommt.

Das literaturtheoretische Gesamtprogramm

Diese Literarizität des literarischen Textes läuft zwar auf die Vieldeutigkeit zu, umspannt aber nahezu das Gesamtprogramm literaturtheoretischer Fragen. So nennt die Arbeit programmatisch in der "Einleitung in den Problembereich der Untersuchung" "drei miteinander zusammenhängende Kernpunkte [...]: die Literarizitätsfrage in Verbindung mit der Frage nach dem für literarische Texte besonderen Verhältnis zwischen Eingrenzbarkeit/Unbegrenztheit von Bedeutung und der Frage nach der Art des Wirklichkeitsbezuges literarischer Kommunikation." (S.25)

Der Verdacht einer Überfrachtung an Fragestellungen und damit eine Überlastung des Isotopie-Konzeptes liegt nahe. Insbesondere die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug, die ja eine ganze Diskussionstradition der Mimesis von Kunst aufzurufen vermag, scheint nun gänzlich aus dem eigenen Argumentationszusammenhang herauszuragen. Dabei sind diese Kernpunkte integrale Bestandteile der Argumentationskette: Der Wirklichkeitsbezug des literarischen Textes muß geklärt sein, um die Ebenen der literarischen Kommunikation situieren zu können, die ihrerseits wiederum vonnöten sind, das semiotische Textanalyseinstrument der Isotopie in Anschlag zu bringen.

Bisweilen wirkt es störend, wenn Selbstverständlichkeiten, Standards der Literaturwissenschaft, wie zum Beispiel die ausgearbeitete Differenzierung von Sender und Empfängerpositionen (Autor, Erzähler, Erzählinstanz, realer und impliziter Leser) ausführlich hergeleitet werden. Daß der Verfasser andererseits den Wirklichkeitsbezug literarischer Texte auf der Basis von Nelson Goodmans Überlegungen als metaphorische Funktion bestimmt, wonach der Text als ">Exemplifikation< für mögliche Referenzleistungen des Rezipienten" fungiert (S.52), stellt einen diskussionswürdigen Beitrag zur Fiktionalitätsdebatte dar, in deren Zentrum er auch zielt. Doch ein solcher Vorschlag würde Konturen nur im Rahmen dieser Debatte gewinnen, die ihrerseits im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur in ganz groben, skizzenhaften Zügen und selektiv ausgewertet wird.

Dieser Ausgriff ist funktional auf die konstruktivistische Fundierung des Isotopie-Konzeptes bezogen. Denn wenn nicht der gesamte kommunikative Rahmen des literarischen Textes – so das implizite Argument der Arbeit – offengelegt wird, kann nicht vollständig erklärt werden, wie es zur >Konstruktion< einer bestimmten isotopischen Struktur, also zur Aktualisierung und Virtualisierung von Isotopien, kommen kann. An diesem Punkt wird es sich entscheiden, wie man den Ertrag der Arbeit beurteilt.

Die Frage wäre zu untersuchen, ob nicht das konstruktive Moment der Aktualisierung und Virtualisierung von Isotopien dem Konzept der Isotopie widerspricht oder zumindest nicht damit vereinbar ist. Bieten Isotopien in der Tat diesen Aktualisierungsspielraum? Die Arbeit bejaht natürlich diese Frage, muß aber deswegen den gesamten Bedingungsrahmen der Kommunikation anführen, in dem dies erst möglich wird. Das Isotopieproblem, wie denn Seme festgestellt und welche Seme so aktualisiert werden können, verlagert sich auf die literarische Kommunikation.

Immerhin steckt darin auch ein entscheidender argumentativer und interpretationstheoretischer Fortschritt: Dieses Problem ist nämlich ein Problem der Interpretation selbst; es verweist eben auf eine konstitutive Eigenschaft des literarischen Textes. Man könnte fast abkürzend sagen: Wo immer das Problem auftritt, hat man es mit Literatur zu tun. Es ist dies das Problem der Vieldeutigkeit des literarischen Textes.

Die Vieldeutigkeit des literarischen Textes

Damit ist bereits das argumentative Endziel der Arbeit angesprochen, das sich aus einer radikalen Ausgangsfrage über den genannten Spannungsbogen hinweg ergibt. Die Ausgangsfrage ließe sich so reformulieren: Was ist das konstitutiv Literarische an einem literarischen Text? Die Antwort, die darauf gegeben wird, lautet: die Möglichkeit seiner Vieldeutigkeit. Diese Vieldeutigkeit wird nun allerdings nicht in die nicht mehr monosemierbare Polyvalenz einer empirisch orientierten Literaturwissenschaft überführt, sondern – und insofern verbleibt die Arbeit auf strukturalistischem Terrain – als semantisches Problem aufgefaßt.

Die Vieldeutigkeit als konstitutiv literarischer Effekt einerseits und die Möglichkeit, im Bedeutungskontext einer Interpretation Isotopien zu rekonstruieren, sind die beiden Spannungsmomente der Argumentation. Zusammengebracht werden sie durch das Theorem der wechselseitigen Bedingtheit von Aktualisierung und Virtualisierung. Vieldeutig ist ein Text deswegen, weil er eine Isotopiestruktur entfalten kann, die immer nur partiell aktualisiert werden kann und notwendigerweise partiell virtualisiert werden muß.

Im Grunde genommen ist dieses Ergebnis nicht neu und ordnet sich in eine lange literaturtheoretische Tradition ein, die leider nicht umfassend rekonstruiert wird. Fragen wie die, warum ein Kunstwerk und insbesondere ein literarischer Text einen Interpretationsspielraum eröffnet, aber gleichzeitig begrenzt, sind nicht erst seit Ecos berühmten Buch Das offene Kunstwerk gestellt worden. Sie lassen sich, worauf der Verfasser nicht eingeht, so lange zurückverfolgen, wie die Tradition einer reflektierten Hermeneutik zurückreicht.

Kooperative Modelle qualitativ unterschiedlicher Interpretationsarten lassen sich beispielsweise schon bei Schleiermacher nachverfolgen. Und solche Fragestellungen ziehen sich nicht nur bis in die neueren Publikationen Ecos zu den Grenzen der Interpretation hin, sondern zum Beispiel auch in die Überlegungen zur Rezeptionsästhetik eines Wolfgang Iser oder Hans Robert Jauß.

Auch in den ursprünglichen hermeneutischen Kontexten hatte diese Arbeitsteilung den Zweck, zwischen interpretativer Zugänglichkeit und ihrer Negation oder zwischen verschiedenen Formen der Zugänglichkeit zu differenzieren. Indem die Arbeit die "Vieldeutigkeitsproblematik literarischer Texte anhand der Frage nach dem Verhältnis zwischen Eingrenzbarkeit und Unbegrenztheit der Bedeutung(en) literarischer Texte" (S.13) abhandelt, ordnet sie sich genau in diesen Diskussionszusammenhang ein.

Bemerkenswert ist aber schon der noch strukturalistisch inspirierte Optimismus, mit dem dieses Problem angegangen wird. Denn die Vieldeutigkeit wird immer noch als eine aufklärbare Verhältnisbestimmung aufgefaßt. Es ist nicht die Unendlichkeit der Bedeutung, des Flottierens von Zeichen, wie man es aus dekonstruktivistischen Kontexten kennt, die die Vieldeutigkeit ausmacht, sondern die Unbegrenztheit von Aktualisierungskombinationen. Grundlegend bleibt aber doch die Möglichkeit, im gegebenen Interpretationskontext den Text auf seine darin relevanten Isotopien hin zu analysieren. Vieldeutigkeit steht der Analyse nicht entgegen, sondern kann durch sie überhaupt erst greifbar gemacht werden. Verantwortlich ist dafür eben jene strukturalistische Sprach- und Zeichenkonzeption, wonach Signifikant und Signifikat jeweils durch ein geschlossenes (und eben kein – dekonstruktivistisch gesehen – offenes) System von Signifikant- und Signifikatstrukturen miteinander vermittelt werden und die dem Isotopiekonzept selbst zugrunde liegt.

Es ist verwunderlich, daß der Verfasser nicht auf Modelle eingeht, die zwischen Analyse und Interpretation unterscheiden, um das Problem des Verhältnisses von Begrenztheit und Unbegrenztheit literarischer Bedeutung bzw. Interpretierbarkeit und Uninterpretierbarkeit operativ in den Griff zu bekommen. Was man so als Interpretation bezeichnen könnte, beschreibt er als Horizontanschluß, der auf der Basis eines Isotopiepotentials unterschiedliche (selbst von Leser zu Leser unterschiedliche) Isotopiekonstellationen aktualisiert. Das bietet zwar einerseits den Vorteil, Interpretationen in ihrer Funktionsweise durchschaubar zu machen, wie es der Verfasser an den ausgewählten Beispielen demonstriert, hat aber andererseits den Nachteil, daß Interpretationen auf Isotopieaktualisierungen eingeengt werden.

Damit geht eindeutig das >unbegrenzte< Potential der Interpretation verloren, auf das Autoren wie Eco, auf den sich der Verfasser beruft, aufmerksam machen. Wo Eco beispielsweise das Kriterium der Verifizierbarkeit von Interpretationen ablehnt und nur das Kriterium der Falsifizierbarkeit gelten läßt (Die Grenzen der Interpretation), scheint es hier so zu sein, als ob Verifizierbarkeit doch wieder durch die Hintertür der Rückführung einer Interpretation auf zugrunde liegende Isotopien eingeführt wird. Damit allerdings kann man gegen dekonstruktivistische Angebote einer avancierten Interpretationspraxis kaum konkurrieren.

Ein systemtheoretischer Vorschlag zum Schluß

Dabei hätte es durchaus Möglichkeiten gegeben, dieses Potential von Bedeutungskonstitution, nämlich sowohl Begrenztheit als auch Unbegrenztheit, Interpretierbarkeit als auch Uninterpretierbarkeit zu erzeugen, eleganter zu fassen. Ersetzt man Bedeutung durch Sinn und denkt an die Begrifflichkeit von Aktualisierung und Virtualisierung, so bietet es sich geradezu an, das Problem in einer systemtheoretischen Begrifflichkeit zu reformulieren.

Gemäß der Luhmannschen Systemtheorie ist Sinn ein Verweisungsüberschuß auf Möglichkeiten, mithin die Einheit der Differenz von Aktualisierung und Virtualisierung (Luhmann: Soziale Systeme). Damit ließe sich nun das Wechselverhältnis von Begrenztheit und Unbegrenztheit wesentlich tiefgreifender erklären. Der literarische Texte wäre deswegen vieldeutig, weil er in dem Maße, in dem er Sinn aktualisiert, Sinn gleichzeitig virtualisieren muß. Dies würde nun in der Tat ein unhintergehbares, wechselseitiges Bedingungsverhältnis ausdrücken, das das Gesetz abgibt, unter dem jede Interpretation steht.


Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
An der Universität 5
D-96045 Bamberg

Ins Netz gestellt am 19.6.2001
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