Jahraus über Bentz / Schmidt-Dengler: Thomas Bernhard

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Oliver Jahraus

Skandaldichter — Staatsdichter:
Die Auseinandersetzung mit
Thomas Bernhard beginnt gerade erst

  • Oliver Bentz: Thomas Bernhard — Dichtung als Skandal. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. 142 S. Kart. € 19,50.
    ISBN 3-8260-1930-X.
  • Wendelin Schmidt-Dengler: Der Nachlass Thomas Bernhards. Geschichten. Probleme. Perspektiven (edition philosophisch-literarische reihe; 4, hg. v. Land Oberösterreich) o.O., o.J. [Linz 2001] [Zu beziehen über das Institut für Kulturförderung, Spittelwiese 4, A-4020 Linz].
    ISBN 3-85483-025-4.


Literaturskandale — Skandalliteratur

Literatur, selbst wenn sie Höhenkammliteratur ist, situiert sich nicht allein im ästhetischen Residuum des Schönen, Guten, Wahren. Diese banale Wahrheit findet ihre geradezu (in jeder Hinsicht) dramatische Bestätigung in den Literaturskandalen, die sich um das Werk des österreichischen Autors Thomas Bernhard ranken. Und dieses Thema erscheint unerschöpflich, wie allein die vorliegende Arbeit von Oliver Bentz zeigt und selbst dokumentiert.

Man kann hier sehr viele weitergehende Fragen stellen, wie dies die Arbeit leider nicht tut. Zum Beispiel: Welche Rolle spielen die Literaturskandale im kulturellen Gedächtnis, in dem Bild, das man sich auch heute noch, 14 Jahre nach dem letzten großen Skandal um das Stück "Heldenplatz" und 13 Jahre nach seinem Tod, von Thomas Bernhard macht? In welchem Verhältnis stehen der literarische und der öffentliche Bernhard, auch wenn beide "naturgemäß" nicht in zwei Personen aufzuspalten sind? Lediglich die Frage nach der Bedeutung Bernhards für die derzeitige und zukünftige kulturelle Selbstbeschreibung und Selbstdarstellung Österreichs wird am Ende des Bandes aufgeworfen.

Heldenplatz-Skandal

Die Arbeit selbst besteht aus einer sehr detaillierten Dokumentation der Skandalgeschichte von Bernhards schriftstellerischer Existenz. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf den "Heldenplatz"-Skandal aus dem Jahre 1988 gelegt; das hat mehrere Gründe: Zum einen findet diese Uraufführung nicht nur zum 100 Geburtstag des Burgtheaters statt, sondern auch zum 50. Jahrestag des >Anschlusses< Österreichs an Hitlerdeutschland; zudem ist es der letzte und zugleich intensivste Literaturskandal als Theaterskandal, der Bernhards Werkgeschichte ausmacht und abschließt; und so viel Provokationspotential man einerseits dem Text und seinem Autor unterstellte, so massiv war die Front, die Häme und die Gewaltbereitschaft seiner Gegner in und außerhalb des österreichischen Kulturbetriebs und Politzirkus'.

Man muß der Arbeit wirklich eine umfassende Dokumentationsleistung zugestehen; viele Dokumente aus der zeitgenössischen Presse- und Medienberichterstattung werden zitiert, zudem besitzt das Buch einen 22 Seiten umfassenden Anhang, der zum Teil ganze Artikel wiederabdruckt. In dieser Werkgeschichte des Skandals fehlen natürlich auch die frühen und frühesten Eklats nicht, von den ersten Literaturpreisen über das Gerichtsverfahren und die Beschlagnahme des Buches "Holzfällen" bis hin zu "Heldenplatz" (im Gestus der österreichischen Kanzleisprache auch als >causa Holzfällen< und >causa Heldenplatz< bezeichnet).

Dabei geht die Arbeit auch sehr differenziert vor, sie unterscheidet die verschiedenen Rollen von Bernhard, seinem Regisseur Claus Peymann, der Öffentlichkeit, der Presse. Sie geht auf die verschiedenen Konfliktfelder ein und situiert die zum Teil vorprogrammierten Skandale im Kontext der österreichischen Kultur, der Politik und ansatzweise auch der Geschichte. Insbesondere klingen dabei Themen an wie Kulturkampf und kakanische Vergangenheit, Vergangenheitsbewältigung und Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Antisemitismus, gerade auch unter der Präsidentschaft Kurt Waldheims, ja sogar die Rolle von Literatur und Theater und die Funktion ihrer Zensur.

Chronique scandaleuse

Der auf "Heldenplatz"-Skandal, Tod und Testament Bernhards zulaufende Band liest sich als eine Chronique scandaleuse, durchaus narrativ ausgewogen zwischen Zitat, Kommentar und Erzählung und ebenso spannend und mit seinen vielen Detailkenntnissen im Gesamtzusammenhang auch für den Bernhard-Kenner informativ. Eine Chronique scandaleuse darf man erwarten, viel mehr aber auch nicht. Weder wird das Material in den genaueren biographischen Kontext eingeordnet und so zu einem weiteren Baustein zu einer umfassenden Bernhard-Biographie ausgebaut, noch wird das Problem des Literaturskandals literaturtheoretisch erörtert.

Über jede systemspezifische Funktionalisierung scheint Literatur — wie die Causa Bernhard nachdrücklich beweist — doch die Fähigkeit zu haben, über Systemgrenzen hinweg zu wirken und sowohl ein literarisches als auch ein kulturelles, ein wirtschaftliches, ein historisches, ein mediales und nicht zuletzt ein politisches Ereignis darzustellen. Verschiedenste Codierungen und Funktionalisierungen scheinen möglich, und diese müssen systemisch oder gar semiotisch an den Texten und ihren Kontexten festzumachen sein. An keiner Stelle werden Text und Kontext, Literatur und ihre Wirkung miteinander vermengt; das muss man dem Verfasser zugute halten. Aber es wird auch an keiner Stelle über eine Konzeptualisierung eben dieses Verhältnisses nachgedacht. So bleibt es bei der Anerkenntnis — normativ gesprochen — von Bernhards unbestrittener literarischer und literar- und kulturhistorischer Bedeutung, ohne dass diese jedoch im funktionalen Zusammenhang mit den Skandalen beleuchtet wird. Statt dessen wirken die Einordnungen zum Teil oberflächlich, z.B. wenn es heißt:

Wie Anton Tschechow, Robert Musil oder Arthur Schnitzler war Thomas Bernhard Zeuge einer untergehenden Epoche, er hat eine ganze Gesellschaftsschicht, in der er gelebt, die er studiert, die er so zu seinen Zwecken ausgenutzt hat wie Thomas Mann das Großbürgertum Lübecks, in ihrem Verfall beschrieben. (S.103)

Insofern tragen auch die Ergebnisse der Arbeit nicht allzu weit: Bernhards Literatur habe der österreichischen Gesellschaft einen Spiegel vorgehalten, in dem ihre faschistoiden und antisemitischen Anlagen sichtbar werden. Und die Funktion des Skandals besteht darin, eben dies offenbar gemacht zu machen, indem er ganz Österreich in jenes Spektakel verwandelt, das zunächst nur auf der Bühne aufgeführt wurde. Doch auch hier wird die Metaphorik des theatrum mundi nicht für eine literaturtheoretische Konzeption des Skandals verwendet.

Dass sich zum Abschluss des Bandes eine Mutmaßung über das weitere Rezeptionsschicksal, insbesondere über die zu erwartende Vereinnahmung Bernhards durch das offizielle Österreich findet, drängt sich fast auf. Man hätte hier deutlich machen können, dass die Vereinnahmung nur die andere Seite derselben Medaille darstellt, die auch die Verunglimpfung zeigt. Wenn man jedoch nur nachweist, dass sich die Kritiker Bernhards selbst in jene Reihen der nationalsozialistischen bzw. katholischen, in jedem Fall aber debilen österreichischen Funktionäre einordnen, sieht man Österreich selbst zu undifferenziert.

Jenseits von Verunglimpfung und Vereinnahmung

Denn mittlerweile hat sich aus den Reihen der österreichischen Germanistik — insbesondere unter der Ägide von Wendelin Schmidt-Dengler — auch in Österreich eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Bernhard, nicht zuletzt staatlich unterstützt und gefördert, entwickelt, die die Dichotomie von Vereinnahmung und Verunglimpfung längst hinter sich gelassen hat und zu einer neuen Qualität im state of the art der Bernhard-Philologie übergangen ist. So unterschiedlich die Publikationen zu Bernhard auch sind, die diese Rezension zusammenführt, so eng gehören sie doch in diesen aktuellen Kontext, in dem diese Bernhard-Philologie zur Zeit und nicht zuletzt in Österreich stattfindet.

Gemeint ist damit die jüngste Publikationsserie des Landes Oberösterreich in ihrer "edition philosophisch-literarische reihe", in der im Jahre 2001 fünf kleine Bändchen zu Thomas Bernhard, zum Teil mit Originalbeiträgen, zum Teil mit publizierten Vorträgen, im Kontext der Einrichtung eines Nachlassarchivs für Thomas Bernhard in Gmunden publiziert wurden. In dieser Reihe widmet sich der Band von Hans Höller den Überlagerungen architektonischer und literarischer Strukturprinzipien am Beispiel von Gebäuden aus Bernhards Werk und ihrer realen Pendants, der Band von Johann Lachinger der Bedeutung der Provinz in der Hochliteratur Bernhards, der Band von Manfred Mittermayer dem biographischen Hintergrund der Beziehung von Thomas Bernhard und seinem Großvater Johannes Freumbichler und der Band von Martin Huber den vielfältigen literarischen und literaturkonstitutiven Bezugnahmen Thomas Bernhards auf Person und Werk Ludwig Wittgensteins.

Herausgreifen möchte ich den Band von Wendelin Schmidt-Dengler, nicht nur weil Schmidt-Dengler der herausragendste Bernhard-Forscher ist, sondern insbesondere auch deswegen, weil sein Band, der sich mit dem Nachlass Bernhards beschäftigt, unmittelbar mit dieser neuen Form der Auseinandersetzung mit Bernhard in Österreich zu tun hat. Aber dennoch ist die Reihe insgesamt aussagekräftig, versammelt sie doch nicht nur prominente Bernhard-Forscher (allesamt Österreicher!), sondern auch die wichtigsten Forschungsfelder der Bernhard-Philologie: Biographie, Intertextualität und Textkonstitution, österreichischer Kontext und eben nicht zuletzt das Aufgabenfeld der Nachlassaufbereitung und der daran sich anschließenden editionsphilologischen Aufgaben.

Die Anfangsbilanz einer neuen Art der Auseinandersetzung

Natürlich, so wichtig und wegweisend die Ausführungen sind, so markiert die Reihe, schon aufgrund ihrer Publikationsform, eher eine kleine Anfangsbilanz einer neuen Auseinandersetzung mit Bernhard jenseits von Verunglimpfung oder (staatlich-österreichischer) Vereinnahmung. Aber sie macht neugierig auf das, was da kommt. Und insofern stellen die Bände das Komplement zu den Ausführungen von Oliver Bentz dar. Will man soweit gehen, seine Chronique scandaleuse seinerseits wiederum als historische Rekonstruktion zu sehen, so scheint es dann nicht weit hergeholt, von einem neuen Zeitalter der Bernhard-Forschung, aber auch des österreichischen Verhältnisses zu Thomas Bernhard zu sprechen.

Die Publikationsreihe steht, wie erwähnt, in Zusammenhang mit der Eröffnung des Literaturarchivs des Nachlasses von Thomas Bernhard in der Villa Stonborough in Gmunden im November 2001. Dem war durch Impuls und Antrieb von Dr. Peter Fabjan, dem Halbbruder Thomas Bernhards, die Gründung einer Privatstiftung vorangegangen, die sich des Nachlasses angenommen hat, der nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich ist (lediglich der private Nachlass ist davon ausgenommen) und der von Martin Huber weiter aufbereitet und betreut wird. Vorausgegangen ist auch eine Ausstellung, die im März 2001 in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien stattgefunden hat: "Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß", die im Sommer nach Linz gewandert ist. Konzipiert und realisiert wurde sie von Martin Huber und Manfred Mittermayer, und auch sie verbindet die Rekonstruktion der Biographie mit der Aufbereitung des Nachlasses.

Vom Burgtheater über den Heldenplatz zur Hofburg

Diese Ausstellung fand in Wien in der Nationalbibliothek statt, also im Gebäudekomplex der Hofburg. Ein großes Plakat zeigte Thomas Bernhard in nachdenklicher Dichterpose über dem Eingang. Wer hätte dies 1988 zur Zeit des Heldenplatz-Skandals erwartet? Und wer das Symbolische liebt und die Topographie Wiens kennt, mag für sich selbst diesen Weg nachzeichnen, den Thomas Bernhard über seinen Tod hinaus vom Burgtheater über den Heldenplatz bis zur Hofburg genommen hat und an diesem Weg jene Stationen ablesen, die sich zwischen 1988 und 2001 vollzogen haben.

Wichtigster Markstein ist der Nachlass, der nunmehr der Öffentlichkeit zugänglich ist und damit nicht nur die Philologie auf ein neues Niveau hebt, sondern das Bernhard-Bild auch für die Öffentlichkeit anders, neu und differenzierter darstellen wird.

Der Nachlass: Bernhard statt Stifter

Dass ein zugänglicher Nachlass von elementarer Bedeutung für die Auseinandersetzung mit einem Autor ist, gehört zu den editionsphilologischen Topoi der Literaturwissenschaft. Dies wird auch noch einmal von Schmidt-Dengler unterstrichen, bevor er auf die Spezifika des Bernhardschen Nachlasses eingeht. Dabei wird deutlich, welche Aufschlüsse der Nachlass geben kann — gerade im Hinblick auf Bernhards persönlichen Duktus und Stil, seine ganz eigene Text- und seine Werkproduktion im Ganzen, die Verknüpfung der Texte und Themen innerhalb des Werkes, seine textübergreifende Figurengestaltung, seine Auseinandersetzung mit anderen Autoren, nicht zuletzt aus dem österreichischen Kontext, z.B. mit Stifter oder Wittgenstein, und sein eigenes schriftstellerisches Selbstverständnis.

Ich möchte das mittlerweile berühmt-berüchtigte Beispiel wiedergeben, das auch Schmidt-Dengler herausgreift und das — sozusagen materialiter — in der Ausstellung auch präsentiert wurde: Im Roman "Auslöschung" empfiehlt die Hauptfigur ihrem römischen Schüler Gambetti fünf deutsche Bücher zur Lektüre: Jean Pauls "Siebenkäs", Franz Kafkas "Der Prozeß", Thomas Bernhards "Amras", Robert Musils "Die Portugiesin" und Hermann Brochs "Esch oder die Anarchie". Im Manuskript der "Auslöschung" ist noch zu sehen, wie an der Stelle, an der Bernhard seinen eigenen Text erwähnt, ursprünglich Stifters "Witiko" gestanden hatte. Die interpretatorischen Rückschlüsse reichen weit und müssen erst noch in zukünftigen Arbeiten, die das Gesamtfeld jener Fragen berücksichtigen, auf die der Nachlass Antwort geben kann, behandelt werden.

Mit dem Nachlass wird wieder zusammengeführt, was in der Person Bernhards zum Ende seines Lebens auseinanderzubrechen drohte: der Autor in Österreich (als Kritiker seines Landes) und der österreichische Autor (als Exponent seines Landes). Die Frage nach der Vereinnahmung Bernhards durch Österreich wird obsolet, der Streit löst sich auf, sofern man ihn in die philologische Aufgabenstellung zurückführt. Die Skandale sind Teil der Wirkungsgeschichte geworden, und vielleicht ist es deswegen um so mehr geboten, nach der textuellen und kulturellen Disposition der Skandale zu fragen — eine Frage, die — gut hermeneutisch — um die Historizität allen Verstehens weiß.


PD Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
An der Universität 5
D-96045 Bamberg

Ins Netz gestellt am 12.02.2002
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