Jahraus über Mussil: Verstehen verstehen

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Oliver Jahraus

Verstehen verstehen.
Was tun Literaturwissenschaftler,
wenn sie literarische Texte interpretieren ?

  • Stephan Mussil: Verstehen in der Literaturwissenschaft (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Band 180) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2001. 172 S. Kart. € 24,54.
    ISBN 3-8253-1202-X.


Verstehen verstehen

Die Hamburger Dissertation, die schon aus dem Jahre 1996 stammt, ist eine der konzisesten und präzisesten Darstellungen eines Modells literaturwissenschaftlichen Verstehens, das man derzeit im dem weit gespannten Feld literaturtheoretischer Überlegungen im Schnittpunkt traditioneller und avancierter Theorieansätze (Hermeneutik und Dekonstruktion) finden wird.

Die ganze Untersuchung ist auf einer Metaebene angesiedelt, ihre Beobachtung ist Beobachtung zweiter Ordnung: Verstehen des Verstehens. Damit wird eine Ebenenparallelisierung festgestellt, die das gesamte Buch leitmotivisch durchzieht und am Ende wieder aufgegriffen wird: So wie sich das Verstehensmodell zum Verstehen verhält, so verhält sich das Verstehen zum Verstandenen, dem Text, oder in der Formel Mussils:

"Verstehenstheorie : Texterklärung :: Texterklärung : Text"(S.152).

Mit dieser Situierung hängt auch unmittelbar der Charakter der Studie selbst zusammen: Es geht weder um eine empirische, kognitionsorientierte, produktions- und rezeptionsorientierte oder soziologische bzw. psychologische Verstehenstheorie, sondern um eine rein deskriptive Modellbildung im Rahmen text- und literaturgestützter Interpretationsverfahren. Daher wird das Modell auch grundsätzlich als hermeneutisch zu beschreibendes Verfahren dargestellt.

Die hermeneutische Grundeinstellung:
Erklärung versteht Text

Zunächst einmal wird eine hermeneutische Grundeinstellung des Verstehens vorgenommen, die das Verstehen bereits auf eine hermeneutische Funktion festlegt, also auf die Funktion: mitzuteilen, was ein Text mitteilt. Dabei wird eine unhintergehbare Subjektivität dieser Funktion festgehalten, die deutlich macht, dass diese Mitteilung, die als Verstehensäußerung firmieren kann, von einer Instanz so getätigt wird, dass diese Äußerung zugleich ihre eigene Erfüllung mit sich bringt. Was als Verstehen geäußert wird, ist per se eine Verstehensleistung, wobei eben noch nichts über die Akzeptanzbedingungen gesagt ist. Schließlich leitet Mussil daraus eine Taxonomie solcher Verstehensäußerungen ab, die den Text entweder rezitieren, ihn theoretisieren oder ihn verklären. Man teilt mit, was der Text mitteilt, man teilt mit, was der Text nicht mitteilt, oder man teilt mit, daß der Text etwas anderes mitteilt, als seine Erklärung mitteilt.

Diese hermeneutische Grundeinstellung ist so allgemein und modellhaft gehalten, dass sie als nicht-epistemologischer Verstehensbegriff konzipiert werden kann. Verstehen erbringt demnach eben keine Erkenntnisleistung, sondern besitzt den Wert einer Erklärung, so daß Mussil Verstehen grundsätzlich als Explikation übersetzen kann. Damit will er dem hermeneutischen Dilemma entgegen, das Verstehen entweder "entgegenständlichen"(Verstehen als allgemeinster Lebensvollzug, wie es bei Dilthey, aber noch deutlicher bei Heidegger anklingt) oder aber es "verdinglichen" zu müssen (als die Bedeutung des Textes).

Wittgensteins Methode und Goodmans Symbol

Um dieses Modell bzw. seine Beschreibung handhabbar zu machen, greift Mussil auf die "Wittgensteinsche Methode" zurück; er behandelt das Verstehen so, wie es insbesondere der späte Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen mit sogenannten philosophischen Problemen vorexerziert hat. Mussil schematisiert das Verfahren und spricht von Trivialisierung, Umwidmung und Aspektdefinition: "wer einen Text versteht, definiert Regeln des Sprachgebrauchs, widmet problematische Aussagen zu Definitionen um und verwendet diese, sozusagen in erweiterter Form, als Modelle des Textes." (S.73 / 74) Mussil Formel lautet: "E versteht T = Df. E setzt einen Aspekt von T fest." (S.74) E ist die Erklärung, T der Text und im Aspekt drückt sich die eigentliche Interpretationsleistung aus.

Im nächsten Schritt liefert Mussil eine Beispielsemantik für den Verstehensbegriff nach, die er aus Nelson Goodmans Symboltheorie und ihrem Referenzbegriff ableitet. In das Referenzkonzept werden zwei gegenläufige Relationen eingebaut: Bezeichnung und Exemplifikation. "Apfel" bezeichnet demnach alle Äpfel, und ein bestimmter Apfel exemplifiziert die Bezeichnung "Apfel". Diesen Referenzbegriff setzt Mussil in seine Formel ein und bestimmt daher die Definition des Aspektes als Bezeichnungs- und Exemplifikationsverfahren: Der Text bezeichnet bzw. exemplifiziert ein Modell, das einer theoretischen Vorgabe entstammt. Mussil unterscheidet dabei drei Fälle: A) T ist ein Beispiel für eine bestimmte theoretische Vorgabe des Verstehens, oder B) diese ist ein Beispiel für T, oder C) die Vorgabe bzw. der T sind indirekte Beispiele füreinander.

Iser, Lacan, Derrida, Mussil

Damit ist nun die Grundlage geschaffen, an vorhandenen Verstehensleistungen die Entfaltung des eigenen Modells zu erproben.

Als erstes Beispiel dient Mussil ein Text von Wolfgang Iser zur Subjektivität in Becketts Romanen. Mussil kann hier zeigen, nach welchen Schemata Isers Interpretation funktioniert, wo rezitiert, theoretisiert und verklärt wird, welche Verstehensaspekte aktualisiert werden, welches Exemplifationsverfahren jeweils zur Anwendung kommt und vor allem in welcher Wechselwirkung diese Formen selbst stehen. Besonders intrikat wird die Situation des Verstehens dort — und dies zeigt Mussil anschaulich — , wo das Verstandene auf das Verstehen zurückwirkt: So kommt es gerade angesichts der Problematik der Subjektivität als Voraussetzung des Verstehens zu Rückkopplungsschleifen, die die Interpretation auf die Metaebene der Selbstinterpretation heben.

Diese Problematik wird durch das zweite Beispiel, die Dekonstruktion, noch weiter radikalisiert. Mussil erweist sich hier als exzellenter Kenner der Materie; die Entfaltungsmöglichkeiten seines Verstehensmodells weiß er so differenziert zu handhaben, dass er sieben verschiedene Verstehensregeln für die dekonstruktive Praxis des Umgangs mit Texten eruiert und — z.B. in einer brillanten Gegenüberstellung von Lacans und Derridas Poe-Interpretation — ausführt. Die Leistungsfähigkeit seines Modells soll sich gerade bei einem Verfahren bestätigen, dessen Vorgabe von der Unmöglichkeit des Verstehens selbst noch einmal als Verstehen gekennzeichnet werden kann, z.B. indem die Dekonstruktion Verstehen als Erklärung festsetzt, die den Text als Beispiel sowohl für ein Modell als auch für das Gegenmodell ausweist.

Und schließlich wird das Verfahren in einem abschließenden Kapitel auf die Spitze getrieben, indem es auf sich selbst angewendet wird. Und hier kommt wiederum die eingangs zitierte Ebenenüberlagerung zur vollen Geltung. Schließlich sind Mussils Definitionen des Verstehens genuine Verstehensleistungen und mithin Selbstvollzug seiner Theorie.

Daher gilt es, die Ebenenunterschiede besonders herauszuheben. So zeigt Mussil einerseits recht deutlich, dass Verklärung das vorherrschende literarische Verstehensmodell ist, dass dies aber nicht für die Ebene seines Modells gilt, da sie zwar verschiedene Verstehensbegriffe gelten lässt, sie aber nicht gegenseitig bis zur Beliebigkeit relativiert. Die Verklärung des Textes aber beruht auf seiner aus der Selbstreflexivität der literarischen Sprache resultierenden Negativität.

Mehrfache Reduktionen:
Hermeneutikgeschichte und Medientheorie

Die Präzision dieses Durchlaufs ist allerdings durch den Preis einer mehrfachen Reduktion erkauft. So werden die historischen Bezüge abgeschnitten. Weder wird die Geschichte der Hermeneutik miteinbezogen, noch wird die Geschichtlichkeit des Verstehens selbst reflektiert. Was den ersten Aspekt angeht, so geht Mussil zwar auf Dilthey, Heidegger und Gadamer ein, aber nur so weit, wie sie zur Entfaltung seines Modells dienlich sind, nicht jedoch auf ihren je spezifischen Beitrag zur Geschichte der Hermeneutik. Erst die letzten beiden Absätze des gesamten Buches kommen auf die "Geschichte der literarischen Hermeneutik"(S.163) zu sprechen und benennen nur noch das Desiderat.

Gleichermaßen gibt das Buch keinen Forschungsüberblick über die zahlreichen, mehr oder weniger vergleichbaren Unternehmungen, Verstehensmodelle zu entwerfen. Es wäre durchaus interessant gewesen, die genaue Situierung in diesem Forschungsfeld zu erfahren, sofern daraus auch Rückschlüsse auf die eigene Konturierung zu erwarten gewesen wären: Zugeben muss man allerdings, dass dies für die reine Darstellung von Mussils Modell auch nicht zwingend notwendig ist.

Schwerwiegender ist vielleicht eine dritte Reduktion um die literaturtheoretische Bedeutung der hermeneutischen Fragestellung. So geht Mussil von Literatur und literarischen Texten aus, ohne die konstitutive Funktion des Verstehens für das, was man als Literatur rezipiert, zu berücksichtigen. Auch hier könnte Mussil darauf verweisen, dass dies nicht in den Fokus seiner Arbeit fällt. Doch wenn man die literaturtheoretischen Fragen auf das Feld der Medientheorie weiterführt, so wird deutlich, dass hier ein wesentliches Potential der Überlegungen nicht ausgeschöpft wird. So wäre nach den medialen Grundlagen, wie sie nicht zuletzt mit der Schriftlichkeit der Texte gegeben sind, zu fragen gewesen, die es überhaupt erlauben, einen Text als Exemplifikation zu verstehen bzw. ihn zu verklären, die es ermöglichen, dass Texte dekonstruktiv auch sich widersprechende Modelle exemplifizieren, dass Verstehen auch die Unmöglichkeit des Verstehens umfassen kann.

Mit diesen Reduktionen ist gleichzeitig eine Ausweitung und Abstraktion des Modells verbunden, das Binnendifferenzierungen im hermeneutischen Feld unterläuft. So spielt die klassische Differenz zwischen Verstehen und Erklären keine Rolle, wo das Verstehen selbst als Erklärung ausgegeben wird. Die Vorteile einer solchen Konzeption würden jedoch nur dann deutlich zutage treten, wenn man den Aspekt der Objektkonstitution stärker berücksichtigt, der eine ontologisch vorrangige Unterscheidung der Objekte bzw. der Sphären des Verstehens hinfällig macht.

Und am Beispiel der Dekonstruktion zeigen sich Leistung und Grenzen von Mussils Vorschlag. Einerseits werden die Verfahren der Dekonstruktion durchschaubar und nachvollziehbar, aber andererseits schneidet die Subsumption der Dekonstruktion unter das hermeneutische Modell sowohl dem Begriff der Hermeneutik als auch dem der Dekonstruktion gewisse Dimensionen des insbesondere philosophischen Selbstverständnisses ab. Dass aber solche Überlegungen sofort wieder Gefahr laufen, entweder in die Verdinglichung oder die Entgegenständlichung des Verstehens abzugleiten, muss man Mussil zugestehen; es ist das Verdienst seiner Arbeit, sein Modell zwischen dieser Scylla und Charybdis hindurch konzipiert zu haben.


PD Dr. Oliver Jahraus
Universität Bamberg
Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft
An der Universität 5
D-96045 Bamberg

Ins Netz gestellt am 15.01.2002
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