Jung über Omasta: Der Filmpoet des Weimarer Kinos

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Uli Jung

Der Filmpoet des Weimarer Kinos

  • Michael Omasta, Brigitte Mayr, Christian Cargnelli (Hg.) Carl Mayer – Scenar(t)ist: Ein Script von ihm war schon ein Film Wien: Synema, 2003; 344 S., hbk., ill., Euro (D) 35,00
    ISBN: 3-901644-10-5.


Carl Mayer gehört zu den wenigen Drehbuchautoren, die in der Filmgeschichtsschreibung immer wieder Beachtung gefunden haben. 1968 konnte sich Rolf Hempel für seine Studie1 noch auf den direkten Kontakt mit Verwandten und Mitarbeitern Mayers stützen. Eberhard Spiess lieferte mehr als zehn Jahre später eine konzise Werkbiografie,2 die Mayers Schreibstil, nicht aber seine konkreten Arbeitsbedingungen rekapitulieren konnte. Jürgen Kasten war der Erste, der alle Filme, für die Mayer die Drehbücher geschrieben hatte (inklusive der nicht realisierten Projekte) einer eingehenden Analyse unterwarf.3 Schließlich hat Bernhard Frankfurter in einem Sammelband 4 erstmals Gelegenheit geschaffen, sich dem Grazer Filmautor auch unter stärker theoretischen Fragestellungen zu nähern. Außerhalb des deutschsprachigen Raums hatte bereits kurz nach Mayers Tod dessen Freund Paul Rotha eine Gedenkveranstaltung organisiert, die im Wesentlichen dem fund raising für einen würdigen Grabstein gedient hatte, deren Programmbroschüre jedoch für lange Zeit auch die einzige Publikation über den Autor blieb.5 Die italienische Konferenzpublikation Carl Mayer e l'Espressionismo vereinigte viele Beiträge, die über das Werk Mayers weit hinausgehen.6

Ein Prachtband

Nun liegt mit Carl Mayer – Scenear(t)ist ein dicker, repräsentativer Prachtband vor, der schon von seiner äußeren Aufmachung her Lust auf die Lektüre stimuliert. Möglich wurde diese beeindruckende Publikation durch die rege Arbeit der Wiener >Gesellschaft für Film und Medien<, SYNEMA, im Rahmen des Kulturprogramms >Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas< und des alljährlichen Diagonale-Festivals, das als Leistungsschau des österreichischen Filmschaffens nun schon mehrere Jahre in Graz zu Gast ist.

Das methodische Problem

Drehbuchautoren werden von der Filmgeschichtsschreibung eher stiefmütterlich behandelt. Dafür gibt es gute Gründe, denn der >gültige Text<, den der Filmhistoriker zu behandeln hat, ist der fertige Film und nicht das Drehbuch, das in aller Regel unveröffentlicht bleibt (ja selbst von den Produktionsfirmen oft nicht archiviert wird) und das obendrein auf dem Weg zum fertigen Film mannigfaltigen Veränderungen unterworfen wird oder zumindest werden kann. Im Prozess der Filmproduktion ist das Drehbuch keineswegs ein sakrosankter Text.

Dennoch: Vor allem in der Frühzeit der Filmgeschichte – ungefähr bis zum Ende des Ersten Weltkriegs und ein wenig darüber hinaus – galt der Drehbuchautor als der eigentliche Schöpfer des Films; sein Name tauchte in den credits auf, der Regisseur rangierte eindeutig nachrangig. Und bis heute gilt, dass Filme einer schriftlichen Vorlage bedürfen. Der Autor einer solchen Vorlage gibt damit den ersten Anstoß, seine prägende Rolle in der Filmproduktion kann (und soll) nicht geleugnet werden.

Jürgen Kasten ist sich des "schwierigen Textstatus des Drehbuchs" (S. 95) bewusst: "Das Drehbuch ist zwar ein literaler Text, hat aber die Intention, mit seinen textlichen Mitteln die Werkgestalt in einem anderen Medium zu evozieren: nämlich Film zu werden, diesen Prozess zu entwerfen und zu strukturieren. Das Drehbuch hat also einen Doppelcharakter: Der Drehbuchautor ist sowohl Urheber des filmbestimmt enstandenen, vorbestehenden Schrift-Werkes als auch Miturheber des Films, in den es eingegangen ist." (S. 97f.) Ein Dilemma, das nicht leicht zu lösen ist. Kasten schlägt daher für die Filmgeschichtsschreibung einen anderen Weg vor: Durch die Analyse überlieferter Drehbücher auch "verschollenen Filmen eine wichtigere Rolle in der Filmgeschichte einzuräumen". (S. 99) Eine "neu zu entwickelnde Stoffentwicklungsgeschichte oder entsprechend zu vertiefende Produktionsgeschichte" (S. 99) sei dazu angetan, die zeitlichen Abläufe der Filmproduktion genauer zu bestimmen. Auch in solchen Fragestellungen falle dem Drehbuchautor eine gewichtige Rolle zu.

Die Biografie

Carl Mayer gilt als einer der wenigen Drehbuchautoren der deutschen Filmgeschichte, dessen Visionen sich so unübersehbar in die von ihm verfassten Filme eingeschrieben haben, dass sein Name in keiner Geschichte des Weimarer Kinos fehlen darf. Seine Biografie ist seit langem bekannt. Dennoch liest sich Brigitte Mayrs einfühlsame und wohl dokumentierte biografische Skizze als gut dosierte Mixtur aus verifizierbaren Fakten und Nachfragen, die überwiegend lebensweltlich motiviert sind, und die >menschliche< Seite hinter der künstlerischen Produktion ernst nehmen: "Hat Carl Freunde, mit denen gemeinsam sich manch ein Problem leichter meistern ließe? Stehen ihm die Mutter oder einer seiner Brüder in solch prekären Situationen zur Seite? Pflegt Carl Bekanntschaften mit Frauen, die ihn in schweren Stunden trösten?" (S. 18)

Oder über die Jahre des Londoner Exils: "Nie ist er ohne Zeitung unterwegs. Welche es wohl gewesen sein mag? Eine der Londoner Presse, vielleicht die Times oder eines der Emigrantenblätter, zum Beispiel Die Zeitung? War er am Tagesgeschehen interessiert oder mehr an den kleinen Nebensächlichkeiten in der Rubrik Vermischtes? So wie damals, als er in Berlin davon las, dass ein Hotelportier die Kündigung nicht ertragen konnte und ihn dies zu einer Filmgeschichte anregte. Oder politische Themen?" (S. 46)

Brigitte Mayr ist auf eine fast persönliche Nähe zu Carl Mayer bedacht; sie hat die Stationen seiner Karriere bereist, hat seine Wohnadressen aufgesucht, hat Atmosphärisches aufzuspüren versucht. Dies nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung zur akademischen Arbeit, denn ihr umfangreicher Artikel ist auch Ergebnis akribischer Literatur- und Archivalienauswertung.

Alte Geschichtsschreibung

Das lässt sich von Peter Naus "sentimentaler Reise durch Filme von Carl Mayer" (S. 67) nicht sagen. Er scheint in seinen Betrachtungen bei Siegfried Karcauers 7 und Lotte Eisners 8 frühen Zugängen zu verharren. Jedenfalls orientiert er sich in seiner Behandlung des Caligari-Films ausschließlich deren Darstellungen, die doch zwischenzeitlich von vielen Filmhistorikern angezweifelt werden. Blind folgt er Kracauers Formulierung: "Their [the filmmakers'] withdrawal into the studio was part of the general retreat into a shell." 9 In Naus Paraphrasierung heißt das: "Ausschließlich im Atelier gedreht, nahm er [CALIGARI] teil an dem damals allgemeinen Rückzug ins Gehäuse des eigenen Inneren." (S. 80)

Kurz darauf ist immer noch die Rede davon, "dass Hermann Warm beim Lesen des eigenartigen Drehbuchs, von dessen bizarrem Stil und der eigenwilligen Formgebung begeistert, erkannt habe, die dekorative Ausstattung müsse abgewandt vom Realen ganz auf phantastische, rein malerische Wirkung gestellt sein." (S. 81) Die Publikation des Originaldrehbuchs 1995 10 (!) sollte erwiesen haben, dass Mayers Schreibstil unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg noch ausgesprochen konventionell, und eben nicht "bizarr" und "eigenwillig" gewesen ist: Warms spätere Erinnerung, auf die Eisner sich in ihrer Darstellung stützte, ist nicht mehr haltbar. Nau verzichtet überdies auf Fußnoten, auch erwähnt er nicht, welche Kopien er gesehen hat. Im Zusammenhang mit Sunrise (S. 73) und Scherben (S. 79) geht er kurz auf Begleitmusiken ein: was hat er gesehen? Videos? Filmkopien mit Tonspur (und entsprechend mit Tonfilmcache)?

Jüdische Mythen

Régine-Mihal Friedman hat einen kurzen Aufsatz beigesteuert, in dem sie versucht, Das Cabinet des Dr. Caligari mit jüdischen Mythen zu verbinden. Dieser Beitrag zeigt, wie schwer es mittlerweile geworden ist, über den wohl am besten dokumentierten Film der deutschen Filmgeschichte noch etwas Neues zu sagen. Friedmans These reduziert sich im Wesentlichen auf eine Gleichsetzung Caligaris als >Fremder< mit dem >ewigen Juden<, auf eine Rückbindung der Caesarefigur auf das Golem-Motiv und schließlich auf die Evokation der Opferung Isaacs durch seinen Vater Abraham als Assoziationsbereich für Caligaris autoritäres Verhältnis zu Caesare.

Vor allem Letzteres bezieht sich jedoch nicht auf die Filmhandlung, sondern auf die späteren Interpretationen von Janowitz und Kracauer, die in Caligari eine Metapher auf die staatliche patriarchale Autorität gesehen haben, die die Söhne des Landes bedenkenlos in einen mörderischen Krieg zu schicken bereit war. In diesem Zusammenhang fällt um so mehr auf, dass Friedman Janowitz' Memoirentext "Caligari, the Story of a Famous Story" 11 – die wesentliche Quelle für Kracauers Caligari-Rezeption – ausschließlich nach Kracauers Paraphrasierungen zitiert und nicht etwa nach dem Teilabdruck, den Mike Budd vor Jahren vorgelegt hat. 12

Neue Geschichtsschreibung

Jürgen Kasten bereits erwähnter Beitrag leistet einige wichtige Klarstellungen über Carl Mayers Frühwerk und die Chronologie seiner Entstehung. Noch bevor Das Cabinet des Dr. Caligari ins Studio ging, hat Mayer an wenigstens vier Drehbüchern gearbeitet, von denen einige bereits Mitte 1919 fertig gewesen sein könnten. Kasten unternimmt es, die Produktionsgeschichten der drei nicht klassisch gewordenen Vorlagen zu beschreiben. Dabei geht es um die Filme Johannes Goth (1920, Karl Gerhardt), Der Bucklige und die Tänzerin (1920, F.W. Murnau) und Grausige Nächte (1921, Lupu Pick), respektive Der Puppenmacher von Kiang-Ning (1923, Robert Wiene), allesamt Filme also, die teilweise lange nach Caligari in die Kinos gekommen sind, deren Drehbücher jedoch schon zuvor existierten. Der von Kasten unterstellte "ästhetische Zusammenhang (etwa hinsichtlich von Themen, Motiven, Figurengestaltung und auch visuellen Präferenzen)" (S. 100) wird eingelöst durch Mayers auffälliges Interesse an körperlich (und ergo psychisch und / oder sozial) deformierten Figuren, an ihrem Verlangen nach Liebe, an dysfunktionalen und unvollständigen Familien. Mayer erzählt Geschichten über den psychischen Verfall; Genrekonventionen lässt er dabei nicht außer Acht, doch entwickelt er eine eigene Ästhetik, die ein Kritiker in die Formel fasste: "Er setzt gern Dunkel neben Dunkel." (S.107)

Einflüsse und Assoziationshorizonte

Patrick Vonderau geht der oft geäußerten Vermutung nach, Murnaus Der Gang in die Nacht (1921) sei stark von skandinavischen Vorbildern beeinflusst. Diese Vermutung gründet, wie Vonderau feststellt, vor allem auf äußerlichen Fakten: Mayer hat für sein Drehbuch auf ein Filmszenario der dänischen Autorin Harriet Bloch zurückgegriffen. Zudem hat der dänischen Filmstar Olaf Fønss sich stark für die Realisierung des Films eingesetzt und auch eine der Hauptrollen übernommen. Vonderau erachtet diese Umstände zu Recht als Oberflächenphänomene. An Mayers Drehbuch fällt ihm hingegen etwas anderes auf: "Mayers Regieanweisungen erinnern weniger an die nuancierende, psychologische Inszenierungs- und Spielweise von skandinavischen Filmkünstlern wie Victor Sjöström, als eine stilistisch heterogene Mixtur aus den ‚kanonisierten Affektstellungen< des Melodrams einerseits und andererseits dem Versuch, Seelenzustände in einen intensivierten Körperausdruck zu übersetzen [...]" (S. 117)

Von hier aus ist es nicht weit zu Überlegungen, wie denn Mayers Figuren zu verstehen sind. Vonderau sieht eine enge Verbindung zwischen der Figur der Lily in Der Gang in die Nacht und der Lulu in Erdgeist (1923, Leopold Jeßner) und Die Büchse der Pandora (1929, G.W. Pabst). Neben diesem motivischen Konnex fühlt sich Vonderau in der Bildgestaltung an die Ästhetik Arnold Böcklins, vor allem an dessen Zentralwerk Lichtgebet erinnert. (Eine entsprechende visuelle Gegenüberstellung von Bildmotiven wäre hier dienlich gewesen.)

Der >skandinavische Einfluss< auf Der Gang in die Nacht ist Vonderau zufolge dennoch kein Missverständnis, sondern nur Ergebnis einer oberflächlichen Perspektive: Er schlägt vor, die in Frage stehende Beziehung im Sinne eines "Anspielungshorizontes" zu fassen, auf den Mayer durchaus bewusst "im Blick auf die Vermarktbarkeit des Textes Bezug zu nehmen scheint". (S. 120)

Mayer und der Naturalismus

Horst Claus spürt den Kontexten zweier auf Mayers Drehbüchern basierender Kammerspielfilme – Scherben (1921, Lupu Pick) und Hintertreppe (1921, Leopold Jeßner, Paul Leni) – nach. Während Vonderau in seinem Beitrag zu Recht darauf hinweist, dass der zeitgenössisch häufig gebrauchte Begriff des >Naturalismus< "als Ausdruck der Wirklichkeit eines inneren Konfliktes" (S. 117) zu verstehen sei und davor warnt, ihn keinesfalls mit dem literahistorischen Verständnis der Stilepoche gleichzusetzen, sieht Claus in Scherben nachgerade eine Visualisierung von Zolas Literaturtheorie: Er beschreibt den Film wie eine Testanordnung, an der der Zuschauer als naturalistischer Wissenschaftler den Mikrokosmos einer Kleinbürgerfamilie kontrolliere: "Der Blick auf die Leinwand ist zunächst der eines interessiert distanzierten Wissenschaftlers, durch das Okular eines Mikroskops. Überlegt eingesetzte Blenden und Aufnahmen von Räumlichkeiten aus der gleichen Kameraposition mit Objektiven mit unterschiedlicher Brennweite wirken wie das Drehen des Objektivrevolvers, das die Beobachtung des zu analysierenden Details in dessen weiteren und näheren Umgebung ermöglicht. Der Einsatz von Wischblenden erinnert an das Auswechseln gläserner Objektivträger mit den darauf befindlichen Proben." (S. 134)

Eine weit hergeholte Parallele, so scheint es zunächst. Doch Claus weiß seinen Ansatz nutzbar zu machen, wenn er in einer Detailanalyse des ersten Aktes Scherben wie ein soziales Experiment beschreibt, in dem der äußere Ruhezustand einer Familie nach und nach durch Störfaktoren in Wanken gebracht wird, bis die dabei entstehenden Dynamiken zwangsläufig (und zwanghaft) zur Katastrophe führen.

Hintertreppe hingegen war augenscheinlich als eine andere Form des Experiments geplant. War Scherben bei Kritik und Breitenpublikum überaus populär, sollte mit Hintertreppe vor allem ein gutbürgerliche Theaterpublikum angesprochen werden. Dafür wurden der "zu diesem Zeitpunkt einem anti-realistischen Inszenierungsstil verpflichteten Theatermann" (S. 141) Leopold Jessner, eine Vorlage eines "Modeautors des expressionistischen Theaters" (S. 142) Georg Kaiser und der "einzige deutsche Filmdichter" (ebd.) Carl Mayer zusammengespannt. Als Hauptdarstellerin und Co-Produzentin beteiligt sich auch Henny Porten, die später in ihrer Autobiografie erklären wird, Scherben sei einer der künstlerisch wertvollsten Filme gewesen, und sie könne die Ablehnung des Publikums nicht nachvollziehen.

Lotte Eisner hat in den fünfziger Jahren eine Vielzahl von Stilbrüchen für den Misserfolg des Films verantwortlich gemacht. Claus kommt hingegen nachvollziehbar zu dem Fazit: "Bei HINTERTREPPE dagegen steht das ungewöhnliche künstlerische Experiment im Vordergrund. [Produzent] Hanns Lippman und Henny Porten sind bei ihrem Projekt weniger an den Protagonisten der Handlung interessiert als daran, eine (von anderen bereits eingeschlagene) neuartige Richtung der filmischen Erzähltechnik aufzugreifen und möglicherweise weiterzuentwickeln. Das durchaus mutige Unternehmen musste scheitern, weil Produzent und Hauptdarstellerin in ihrem bemühen, das Ansehen des Films [...] im bürgerlichen Kunst- und Kulturbetrieb zu festigen, beim Engagement der wichtigsten Mitarbeiter eher auf deren Reputation und Namen sowie expressionistische Theatermoden geachtet haben, als auf eine gemeinsame künstlerisch und/oder weltanschauliche Basis der Beteiligten." (S. 152)

Drehbuch oder Film?

Für fast alle Beiträge gilt, dass nicht immer zwischen Film und seinem Drehbuch unterschieden werden kann. Das ist ein generelles Problem, denn es ist oft nicht einfach, vom Film auf das zu Grunde liegende Drehbuch rückzuschließen. Dies gilt in besonderem Maße für zwei Beiträge, die sich mit den Schauspielerinnen Olga Tschechowa und Elisabeth Bergner befassen. Bemüht sich Renata Helker Tschechowas "Mangel an darstellerischer Professionalität und die Defizite in der schauspielerischen Methodik" (S. 126) nachgerade als Prädestinierung "für das Figuren- und Schauspielkonzept Carl Mayers und Friedrich Wilhelm Murnaus" (ebd.) zu deuten, ist Anne Jespersens Beitrag über "die Frauen in den Filmen Elisabeth Bergners" offenkundig durch wenige Texteinschübe für eine Publikation im vorliegenden Buch aufbereitet worden. Mit Mayer haben ihre (im Sinne der Bergner-Rezeption überaus nützlichen) Überlegungen nichts zu tun.

Ein Fund

Erfreulich ist Michael Omastas Fund von circa vierzig Standfotos aus dem verschollenen Film Der Puppenmacher von Kiang-Ning (1923), der dritten und letzten Zusammenarbeit zwischen Carl Mayer und Robert Wiene. Dieser Film, der von der zeitgenössischen Kritik fast einmütig verrissen wurde, erscheint uns heute auf Grund der überlieferten Synopsen und mehr noch auf Grund der in verschiedenen Archiven erhaltenen Standfotos als überaus interessanter Film, der die Exotismusmode der frühen Zwanziger Jahre variierte. Omasta ließ zwanzig der im Österreichischen Filmmuseum aufgefundenen Fotos im Buch reproduzieren und ermöglicht damit erstmalig eine visuelle Anmutung des Handlungsverlaufs – ein besonderes Bonbon für den Leser.

Dokumente im Anhang

Ein ausführlicher Anhang versammelt eine Reihe von Würdigungen und Nachrufe auf den Drehbuchautor von Kollegen und Freunden. Dem Umstand Rechnung tragend, dass auch Carl Mayer 1933 aus seiner Wahlheimat Berlin vertrieben wurde, hat Christian Cargnelli eine Sektion mit Kurzbiografien von fünfzig Filmschaffenden erarbeitet, die mit Mayer beruflich verbunden waren und die ebenfalls das Schicksal des Exils aufgebürdet bekamen. Dabei berücksichtigt er nicht nur die >großen Namen<, sondern auch eine Vielzahl von Mitarbeitern, die heute auch in Fachkreisen kaum bekannt sind – Kostümbildner wie Ladislaus Czettel, Toningenieure wie Gerhard Goldbaum, Kameraleute wie Adolf Schlasy oder Produktionsleiter wie Victor Skuzezky. Überraschenderweise ist auch Wilhelm (William) Dieterle hier aufgeführt, der sich in Hollywood zwar sehr intensiv in der Unterstützung von Exilanten engagierte, aber bereits 1930 in die USA ging, um für die First National Film Corp. deutsche Sprachversionen amerikanischer Tonfilme zu drehen. Er war im klassischen Sinn ein Emigrant, kein Exil.

Eine ausführliche Filmografie aller Filme, an denen Carl Mayer nachweislich beteiligt war, angereichert mit zahlreichen zeitgenössischen Reaktionen auf die Filme, schließen den Band ab. Leider fehlt eine Bibliografie.

Fazit

Ein Buch, wie Carl Mayer es verdient hat. Ein Buch, das schon durch seine sorgfältige Aufmachung, durch seine reichhaltige Bebilderung eine großartige Würdigung des Drehbuchautors darstellt. Die einzelnen Beiträge sind – wie oft in solchen Unternehmungen – von unterschiedlicher Qualität und Relevanz. Doch liest sich der Band insgesamt mit Gewinn, denn es sind überwiegend neue Ergebnisse der Forschung, die in hier versammelt sind. Die beeindruckende Bandbreite der Fragestellungen und Vorgehensweisen zeigt, dass es weiterhin Diskussionsbedarf über Leben und Werk Carl Mayers gibt. Vielleicht sollten von hier aus auch andere editorische Schritte unternommen werden: Wäre es nicht sinnvoll, die erhalten gebliebenen Drehbücher Mayers gut kommentiert zu publizieren? Wäre es überdies nicht sinnvoll, Drehbücher und nach ihnen entstandene Filme einander direkt gegenüber zu stellen? Etwa als DVD mit beigebundener Begleitbroschüre? Den Schreibprozess hinter den Filmen sichtbar, zumindest nachvollziehbar zu machen – da hat Jürgen Kasten völlig Recht – vermehrt unser mediales Verständnis des Films und (im vorliegenden Fall) der Weimarer Filmkultur. Auch wenn Mayer in seiner spezifischen Zugehensweise einzigartig dastehen dürfte, ist er dennoch kein Ausnahmefall, sondern vielmehr ein Beispiel, an dem man viel lernen kann.


Dr. Uli Jung
Universität Trier
Medienwissenschaft
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Ins Netz gestellt am 07.09.2003
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Anmerkungen

1 Rolf Hempel, Carl Mayer – Ein Autor schreibt mit der Kamera. Berlin / DDR: Henschel, 1968.    zurück

2 Eberhard Spiess, Carl Mayer: Ein Filmautor zwischen Expressionismus und Idylle. (= Filmblätter Nr. 11). Frankfurt / M.: Kommunales Kino, o.J. (1979).    zurück

3 Jürgen Kasten, Carl Mayer: Filmpoet – Ein Drehbuchautor schreibt Filmgeschichte. Berlin: Vistas, 1994.    zurück

4 Bernhard Frankfurter (Hg.), Carl Mayer: Im Spiegelkabinett des Dr. Caligari – Der Kampf zwischen Licht und Dunkel. Wien: ProMedia, 1997.    zurück

5 <7>A Tribute to Carl Mayer. Memorial Programme Scala Theatre 13th April 1947. London, 1947.    zurück

6 Mario Verdone (Hg.), Carl Mayer e l'Espressionismo: Atti del Convegno Internazionale di Studi su Carl Mayer. Rom, 1969.    zurück

7 Siegfried Kracauer, From Caligari to Hitler: A Psychological History of the German Film. Princeton: Princeton UP, 1947.    zurück

8 Lotte H. Eisner, L'Ecran Démoniaque. Paris: A. Bonne, 1952.    zurück

9 Kracauer, a.a.O., S. 74 f.    zurück

10 Das Cabinet des Dr. Caligari – Drehbuch von Carl Mayer und Hans Janowitz zu Robert Wienes Film von 1919/20. Hg. v. Helga Belach und Hans-Michael Bock. München: ed. text + kritik, 1995.    zurück

11 Typoskript in der New York Public Library, Theatre Collection; Kopie und weitere Textvarianten im Schriftgutarchiv des Filmmuseum Berlin / Deutsche Kinemathek, Berlin.    zurück

12 Mike Budd (Hg.), The Cabinet of Dr. Caligari: Texts, Contexts, Histories. New Brunswick / London: Rutgers UP, 1990, S. 221–239. Eine vollständige Edition des Textes steht leider noch immer aus.    zurück