Käuper über Godman/Jarnut/Johanek: Karl der Große

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Sascha Käuper

Von Paderborn nach Rom?
Karl der Große auf dem Weg zur Kaiserkrönung

  • Peter Godman / Jörg Jarnut / Peter Johanek (Hg.): Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos »Karolus Magnus et Leo papa« und der Papstbesuch in Paderborn 799. Berlin: Akademie 2002. 369 S. / 22 Abb. Geb. EUR (D) 69,80.
    ISBN 3-05-003497-1.


In der universitären Lehre hat Karl der Große (748–814) seinen festen Platz. Bisweilen hört man sogar an der Schule von ihm. Doch das Forschungsinteresse an dem bedeutenden Frankenkaiser unterliegt gewissen Schwankungen. Im Rückblick scheinen Ausstellungen die wissenschaftliche Beschäftigung mit Karl dem Großen immer wieder neu angeregt zu haben. Dieses Verdienst hatte zweifelsohne die Aachener Karlsausstellung von 1965, deren Begleitpublikation, das sogenannte >Karlswerk<, 1 bis heute ein maßgebliches Fundament der Karolingerforschung bildet. Seit mittlerweile fünf Jahren läßt sich ein besonders starkes biografisches Interesse an Karl dem Großen feststellen, 2 begleitet von Studien zu seiner Rezeption. 3

Ob zufällig oder gewollt gruppieren sich diese Publikationen um die dem Frankenkaiser gewidmete Ausstellungsreihe "Charlemagne – The making of Europe", die zwischen 1999 und 2001 in Paderborn, Barcelona, Brescia, Split und York zu sehen war. Der Paderborner Auftakt unter dem Titel "799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit" widmete sich dem Treffen Karls mit Papst Leo III. (795–816) und der Eingliederung der Sachsen in das Frankenreich. Schon 1966 hatte Paderborn mit einer Edition des damals so genannten Paderborner Epos und einem Bericht über die Ausgrabung der dortigen karolingischen und ottonischen Pfalz einen Beitrag geleistet. In diesem Zusammenhang erklärte damals Helmut Beumann, daß Karl mit Leo in Paderborn über seine Kaiserkrönung im Jahr 800 verhandelt habe. 4

34 Jahre später stand Beumanns These im Mittelpunkt der Paderborner Ausstellung von 1999. Sie durchzieht den gewichtigen Katalog ebenso wie die erneute Edition und Kommentierung des nun so genannten Karlsepos. 5 Auch in der gleichzeitig erschienenen Paderborner Stadtgeschichte wurde sie aufgegriffen. 6 Vor allem aber lenkt der Titel des hier zu besprechenden Sammelbandes, Am Vorabend der Kaiserkrönung. Das Epos »Karolus Magnus et Leo papa« und der Papstbesuch 799 in Paderborn, die Aufmerksamkeit wieder auf die Zusammenhänge zwischen dem Paderborner Papst-König-Treffen von 799 und der römischen Kaiserkrönung von 800. Er basiert auf einer Tagung vom Ende Oktober 1999, zu der die Herausgeber Peter Godman, Jörg Jarnut und Peter Johanek 20 Referenten aus Amerika und Europa – Mittellateiner, Historiker und einen Archäologen – eingeladen hatten.

Zunächst die Dichtung

Gemäß seinem Untertitel wird der Band durch drei mittellateinische Beiträge zum sogenannten Karlsepos eröffnet. Fidel Rädle arbeitet in "Tugenden, Verdienste, Ordnungen. Zum Herrscherlob in der karolingischen Dichtung" (S. 9–19) allgemeine Gattungsmerkmale der karolingischen Panegyrik heraus, in der er beispielsweise die Musen häufig erwähnt findet. Stärker als ihre antiken Vorgänger hätten die karolingischen Dichter in der Regel eine plumpe und direkte Schmeichelei des Herrschers vermieden. Statt dessen gelang ihnen ein "meist überzeugender Ausdruck wahrer und sogar diskreter menschlicher Freundschafts- oder doch Achtungsverhältnisse" (S. 16). Dergestalt schufen sie teilweise ein indirektes, ins Objektive verlegte Herrscherlob wie das Karlsepos, in dem der Herrscher nicht selbst, sondern in seinen Töchtern gelobt wird.

Ob nun Angilbert von St. Riquier, Einhart, Modoin oder der Hibernicus Exul die Dichtung verfaßt hat, konnte bislang nicht überzeugend beantwortet werden. In seinem wichtigen Beitrag "Autore e attribuzioni del »Karolus Magnus et Leo papa«" untersucht Francesco Stella die relative Häufigkeit sprachlicher Eigenheiten und metrischer Formen im Karlsepos und vergleicht sie mit anderen Werken, die sich den genannten Dichtern mit Sicherheit zuschreiben lassen. Damit liefert er erstmals Kriterien, um Modoin als den wahrscheinlichen Autor des Karlsepos zu bestimmen – unter der Voraussetzung allerdings, daß Modoin als Epiker seinem Stil treu geblieben ist, den er zuvor als Dichter gepflegt hat.

Mit dem Publikum des Epos befaßt sich Michel Banniard in seinem Beitrag "La réception des carmina auliques: Niveaux de latinité et niveaux de réception à la fin du VIIIe siècle". Ausgehend von den kommunikativen Absichten und Zielen des Karlsepos analysiert er den lateinischen Text auf seine Verständlichkeit. Unter der Voraussetzung, Karl der Große sei des Lateinischen kundig gewesen, habe er den Text zu 80 % bis 90 % beim Vortrag verstehen können. Selbst die semi-litterati hätten noch zwei Drittel verstehen können.

Von der Dichtung zur Wahrheit?
Die historischen Quellen

Johannes Fried blendet zu den Ereignissen des Jahres 799 über. Sein Beitrag "Papst Leo III. besucht Karl den Großen in Paderborn oder Einhards Schweigen" wurde bereits vorab in der Historischen Zeitschrift publiziert 7 und ist im vorliegenden Band nur kurz zusammengefaßt. Grundlage der Besprechung soll aber die Langfassung in der Historischen Zeitschrift sein. Auf hohem methodischen Reflexionsniveau macht Fried die Endzeiterwartung am fränkischen Hof kurz vor 800 für die Ereignisse verantwortlich. Karl habe die Ordnung wiederherstellen wollen: "Ordnung war ein Gebot der Endzeit" (S. 323). Dabei wertet Fried vor allem die Kölner Notiz auf, derzufolge die byzantinische Kaiserin Irene bereits 798 Verhandlungen mit dem Frankenkönig über das Kaisertum aufgenommen habe. Karl habe also lange vor dem Treffen von Paderborn das Kaisertum ins Auge gefaßt. Bezüglich Leo, an dessen wundersame Heilung die Franken nicht geglaubt hätten, geht Fried von dessen förmlicher Absetzung im Jahr 799 aus. Wer das bestreite, begehe einen Zirkelschluß, meint er: "Zirkuläres Denken führt selten zur Wahrheit" (S. 296). Dieser und anderen Bemerkungen (wie S. 293: "Doch ausgetrocknete Brunnen geben nichts anderes von sich als die zuvor hineingepumpten Hypothesen.") muß sich Frieds Deutung auch selbst stellen.

Auch Karl Hengst mißtraut in "Die Ereignisse der Jahre 777 / 78 und 782. Archäologie und Schriftüberlieferung" der karolingischen Geschichtsschreibung. Er vergleicht die Nachrichten zum anfangs als >urbs Karoli< bezeichneten Paderborn mit jenen zum Blutbad von Verden an der Aller, bei dem angeblich 4500 Sachsen hingeschlachtet wurden, nach Hengsts Auffassung jedoch lediglich deportiert wurden. Während der ursprüngliche Name Paderborns allmählich verschwiegen wurde, sei das Blutbad später immer stärker aufgebauscht worden. In beiden Fällen seien die Quellen zu extrem verfahren. So wie die in Paderborn ergrabenen Grundmauern der >urbs Karoli< Zweifel an der Verläßlichkeit der Reichsannalen im Detail aufwerfen, sollte das "Verdener Blutbad als Phantasieprodukt fränkischer Annalistik oder, vorsichtiger gesagt, als Abschreibefehler gedeutet werden ..." (S. 69).

"Das Attentat auf Papst Leo III.", das den ganzen Prozeß scheinbar ins Rollen brachte, sieht Rudolf Schieffer als "systembedingt" (S. 75), weil mittelalterliche Päpste anders nicht zur Verantwortung gezogen werden konnten. Intention und Wirkung aber müsse man deutlich voneinander trennen und so sei das Attentat auf Leo III., das zur Erneuerung des westlichen Kaisertums führte, nur von seiner Wirkung, aber nicht von seiner Intention her ein welthistorisches Ereignis. Auch Schieffer verhehlt sein Mißtrauen gegenüber der Wunderheilung Leos nicht: "Es versteht sich von selbst, daß es so nicht gewesen sein kann" (S. 78). Schon im Sommer 799 hätten Alkuin und Theodulf von Orléans die Wunderheilung Leos bestritten. Daß sich diese Nachricht trotzdem in den Quellen verfestigte, liege am Bedürfnis der karolingerzeitlichen Historiographie, Gottes Herrschaft über die Geschichte sichtbar zu machen. Allen Beteiligten sei aber klar gewesen, daß es sich dabei nur um eine politische Sprachregelung gehandelt habe.

Mit Hilfe einiger Alkuinbriefe gelingt es Matthias Becher, "Die Reise Papst Leos III. zu Karl dem Großen. Überlegungen zu Chronologie, Verlauf und Inhalt der Paderborner Verhandlungen des Jahres 799" exakter als bisher zu datieren, weil er die Übermittlungsdauer der Nachrichten mit einbezieht. Demnach trafen Karls Gesandte erst Anfang Juli 799 in Rom ein. Bis zu jenem Zeitpunkt scheint Leo III. in Haft gewesen zu sein. Für ein Absetzungsverfahren gegen ihn spricht der Verzicht der fränkischen Gesandten, den Papst unmittelbar wieder einzusetzen. Von Rom nach Paderborn benötigte er sicherlich, wie andere frühmittelalterliche Papstreisen zeigen, sechs bis acht Wochen. Leo kann demnach nicht vor Mitte September 799 in Paderborn eingetroffen sein und muß sich bereits Anfang Oktober auf den Rückweg gemacht haben. Nicht drei Monate, wie man früher meinte, sondern nur zwei Wochen hielt sich Leo III. also an der Pader auf. Dort hat man, wie auch die Alkuinbriefe zeigen, mehr über als mit Leo gesprochen. Man diskutierte also stärker über Leos Schicksal als über Karls Kaiserkrönung.

Mission und Kirche in Sachsen
an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert

Die Eingliederung Sachsens in das Frankenreich stellte nicht nur eine politische, sondern vor allem auch eine religiöse Herausforderung dar. Zu Recht wird letztere auch im vorliegenden Band thematisiert.

Henry Mayr-Harting geht in "Charlemagne's religion" der Frömmigkeit des Herrschers nach und setzt sich dabei dezidiert mit den Ansichten Arnold Angenendts auseinander. 8 Anders als jener ist Mayr-Harting überzeugt, man könne die Dichotomie zwischen Magie und wahrer Frömmigkeit bei Karl abschwächen. So untersucht er im zweiten Teil seines Beitrags nicht nur Karls korrekte Befolgung der religiösen Vorschriften, sondern auch, inwieweit der Herrscher dabei eine richtige, d. h. fromme Absicht zu erkennen gibt. Angenendt habe Karls Frömmigkeit als magisch mit ethischen Elementen beschrieben, Mayr-Harting dagegen faßt dessen Frömmigkeit als ethisch mit einigen quasi-magischen Stützen auf.

Lutz E. von Padberg untersucht "Die Diskussion missionarischer Programme zur Zeit Karls des Großen", für deren Existenz er z. B. in der Zerstörung der Irminsul, in den Massentaufen, in der Capitulatio de partibus Saxoniae, im Wirken der Missionare und auch in den Briefen Alkuins klare Beweise sieht. Karl selbst habe, beraten von Erzbischof Lul von Mainz, seinem wichtigsten missionspolitischen Mitarbeiter, ein Programm verfolgt, das von Padberg als "imperialmissionarisch" (S. 131) kennzeichnet. Den Gegenentwurf eines eigenständigen, christlichen Sachsens außerhalb des Frankenreichs bieten die Vita des Sachsenmissionars Lebuin oder auch die Schriften über und von den Missionaren Willehad und Liudger. Karls Imperialmission habe das angelsächsische Missionsmodell – zunächst religiöse Unterweisung und dann Taufe – umgekehrt und Alkuins Widerspruch hervorgerufen. Doch sobald die Problematik der Zwangsmaßnahmen erkannt worden sei, habe Karl schließlich die angelsächsische Missionsprogrammatik akzeptiert. Nach der Admonitio generalis von 789 sei für konkurrierende Missionsmodelle kein Platz mehr gewesen.

In ähnlicher Weise befaßt sich auch Ian Wood mit der Missionierung Sachsens. Im Mittelpunkt seines Beitrags über "An Absence of Saints? The Evidence for the Christianisation of Saxony" stehen die in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts verfaßten Heiligenviten, denen vielfach eine Anbindung an Bonifatius gemeinsam ist. In ihrer Deutung unterscheiden sie sich jedoch eminent. In Mainz habe Bonifatius als Bischof gegolten, in Fulda als Klostergründer, in Utrecht als Missionar. Die sächsische Hagiographie, so Woods Ergebnis, biete weniger Fakten zur Missionsgeschichte, als vielmehr Theorien, Strategien und Auffassungen zur Mission durch die beispielhafte Analyse von Heiligen einer früheren Generation.

Hedwig Röckelein behandelt das Verhältnis von ambulanter Mission und Bistumsgründung in ihrem Beitrag "»Pervenimus mirificum ad sancti Medardi oraculum«. Der Anteil westfränkischer Zellen am Aufbau sächsischer Missionszentren." Vor der Errichtung der Bistümer seien häufig Missionsbischöfe in den späteren Diözesen tätig gewesen. Bonifatius, der seine Bistumsgründungen später durch ein "päpstliches Erektionsdekret" (S. 149) bestätigen ließ, liefere das Vorbild. Zu den Aufbauhilfen zählte die externe Cella. So hätten die Paderborner Kleriker angeblich beim Zusammentreffen von König und Papst 799 ein >oraculum S. Medardi< geschenkt erhalten, das Röckelein mit St.-Mars-la-Brière rund 15 km östlich von Le Mans identifiziert, als Zeitpunkt der Schenkung jedoch mit guten Gründen das zweite Zusammentreffen Karls und Leos im Januar 805 in Aachen vorschlägt. Damit fällt ein weiteres Argument für die angebliche Paderborner Bistumsgründung zu 799 aus, die manche Historiker vertreten.

Uwe Lobbedey behandelt "Westwerke und Westchöre im Kirchenbau der Karolingerzeit". Stellten die Westwerke, für die es kaum ältere Vorläufer gab, nur eine Variante der Westchöre dar? Oder handelte es sich um einen eigenständigen Bautyp? 13 ottonische stehen den drei karolingischen Westwerken in Centula
(St. Riquier), Reims und Corvey gegenüber. Ihre Entstehungsgründe liegen weitgehend im Dunkeln. So gilt Centula als singuläre Schöpfung Angilberts. Ob es ein Vorbild für das erst nachträglich zwischen 873 und 885 angebaute Corveyer Westwerk war, das sich zweifellos an Vorbildern orientiert haben muß, läßt sich nicht abschließend beantworten. Westwerke und auch die Westchöre sieht Lobbedey in der Karolingerzeit als "Prototypen, innovative Lösungen, keine Regelformen. Erst im 10. und 11. Jahrhundert werden daraus Bautypen, die das Bild der Architektur ihrer Zeit prägen" (S. 191).

Nachbarn und Teilreiche

Die Wirtschaftsgeschichte beleuchtet Michael McCormick in seinem Beitrag über "Charlemagne and the Mediterranean World: Communications, Arab Coins and Commerce at the Time of the Paderborn Meeting". Anhand der "movements of things", in diesem Fall arabische Münzen, überprüft er die Reichweite des fränkischen Handels, bei dem auch Sklaven in den arabischen Raum verkauft wurden. Eine zwischen 767 und 786 gefertigte arabische Münze wurde 1994 nur 25 km von Paderborn entfernt gefunden; einer von insgesamt 55 Fundplätzen solcher Münzen im Frankenreich. Sie verteilen sich zwischen 760 und 840 schwerpunktartig auf drei Gebiete: 1. Sardinien und Spanien, 2. den Nordrand des Karolingerreiches, 3. Marseille und den Rhone-Korridor. Der Höhepunkt des Handelsaustausches mit den Arabern fällt also in die Zeit Karls des Großen. Räumlich deckt er sich mit den wichtigsten Kommunikationskorridoren. Anders als die zahlreicheren skandinavischen Funde arabischer Silbermünzen, stieß man im Frankenreich überwiegend auf Goldmünzen.

Zeitlich weit gestreckte Vergleiche bemüht Bernard S. Bachrach in seinem Beitrag "Charlemagne's Military Responsibilities am Vorabend der Kaiserkrönung". Karl habe eine Langzeitstrategie verfolgt, um das weströmische Reich weitestgehend wiederherzustellen. Doch nie habe er geplant, Gebiete außerhalb des ehemaligen römischen Reiches zu erobern, wie z. B. England, das Kaiser Honorius (+ 423) aus dem römischen Imperium freigegeben habe. Die Feldzüge jenseits der Elbe etwa seien rein defensive Maßnahmen gewesen. Die Eingliederung Sachsens hingegen habe schon der römische Feldherr Varus (+ 9) versucht. Schließlich habe Karl über drei Königreiche geherrscht, nach frühmittelalterlicher Auffassung genug, um nach der Kaiserkrone zu greifen, allerdings nach dem Motto des Augustus: >festina lente< (S. 255).

Unter dem Titel "Zwischen Paderborn und Barcelona. König Ludwig von Aquitanien und die Auseinandersetzung des Karlsreichs mit dem Islam" blickt Ernst Tremp auf das Verhältnis des Thronfolgers, der seit 781 als Unterkönig in Aquitanien herrschte, zu Spanien, wo Karl selbst nach der Niederlage bei Roncevalles von 778 nicht mehr eingriff. Vor allem dem Drängen spanischer Flüchtlinge schreibt Tremp die fränkische Eroberung Barcelonas 801 zu. Obwohl sie keine Christen verfolgten, gewann Ludwig der Fromme ein negatives Bild von den Muslimen. Das habe letztlich zu einer Verhärtung der Fronten und anstelle eines Nebeneinander zu einem Gegeneinander der Religionen geführt.

In "Le città in età carolingia" wendet sich Renato Bordone insbesondere den italienischen Städten zu und zeigt ihre kirchliche Konnotation auf. So konnte bspw. >civitas< nicht nur die Stadt, sondern bisweilen auch die ganze Diözese bezeichnen. Weiterhin läßt sich nur in wenigen Fällen nachweisen, daß die Grafen in den Städten residierten. Dadurch wurden die Bischöfe, die eng mit den Königen zusammenarbeiteten, zu den wichtigsten Vermittlern zwischen Stadt und Reich. Ein Kennzeichen der Karolingerzeit ist aber auch die Verkleinerung des städtischen Umlands, das nur noch in einem Umkreis von 8 bis 10 km von der Stadt beschützt werden konnte. Uneingeschränkt davon blieb aber das Hauptcharakteristikum der Städte, ihre Funktion als Handelsplatz, was sich im 8. und 9. Jahrhundert besonders gut an den Beispielen Piacenza, Venedig und Cremona beobachten lasse.

Geschichte und Gesellschaft

In ihrem Beitrag "499–799: Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen" zeigt Verena Epp gegen die ältere Auffassung von Heinz Löwe, 9 daß sich Karl schon vor seiner Kaiserkrönung auf den großen Ostgotenherrscher berief und bereits 786 / 87 Säulen aus dessen Palast nach Aachen hatte holen lassen. Zahlreiche Parallelen zwischen dem Laurentiusschisma (498–502) und der Rehabilitation Leos III. (799) weisen auf die Vorbildfunktion des Ostgoten für den Franken hin: Wie einst Theoderich so wurde auch Karl um die Entscheidung gebeten, die in beiden Fällen Untersuchungskommissionen einsetzten, Synoden abhielten und sogar selbst nach Rom kamen, wobei ihr jeweiliger >adventus< geholfen habe, den Konflikt im Konsens beizulegen. Wesentlicher Baustein in Epps Argumentation ist Alkuin, der die ostgotische Überlieferung wie Ennodius und Cassiodor noch aus York kannte und 801 Angilbert von St. Riquier sogar um die Gotengeschichte des Jordanes bat. Daß auch Karl das Interesse an der Ostgotenzeit teilte, belegt die Namenwahl für einen seiner illegitimen Söhne: Er nannte ihn Theoderich.

Zum selben Themenbereich gehört auch der Beitrag von Roger Collins über "Frankish Past and Carolingian Present in the Age of Charlemagne", in dem der Autor die fränkischen Geschichtswerke hinsichtlich des Legitimitätsproblems der karolingischen Herrschaft untersucht. Sie suggerieren zwar für die 720er Jahre eine merowingische Herrschaftsschwäche, doch tun sie das aus der historischen Rückschau der 820er Jahre. Möglicherweise sei also die historische Aufzeichnung manipuliert. Daß die Annalen dabei eine so große Übereinstimmung aufweisen, führt Collins auf die Diskussionen auf dem Märzfeld zurück und plädiert nachdrücklich dafür, die Untersuchung der fränkischen Geschichte nicht nur auf jene Handschriften zu stützen, die z. B. Gregor von Tours oder den sogenannten Fredegar sauber von einander getrennt überliefern, sondern auch die Mischtexte, die Kompilationen und Ableitungen zu berücksichtigen.

Von den Schwierigkeiten mit der Vergangenheit leitet Régine Le Jan mit ihrem Beitrag "Der Adel um 800: Verwandtschaft, Herrschaft, Treue" zu den politischen Notwendigkeiten in Karls Gegenwart über. Ausgehend von der Vielzahl von Bindungen, in denen ein fränkischer Adliger zu Zeiten Karls des Großen stand, konstatiert sie am Ende des 8. Jahrhunderts eine Neudefinition der Konturen einer Adelsgruppe und eine deutlichere Trennung zwischen weltlichem und geistlichen Stand. Vor allem dem Totengedenken der Karolingerzeit schreibt sie die Stärkung des kollektiven Bewußtseins zu und sieht dabei ein System des konkurrierenden Austauschs am Werk, in dem Gruppen und Einzelpersonen um Macht und Ansehen gerungen haben. Mit dessen Hilfe habe Karl der Große das Einverständnis verschiedener Gruppen zu seiner Kaiserkrönung erwirkt.

Regelungen mußte Karl auch innerhalb seiner Familie treffen. Zu recht fragt deshalb Janet L. Nelson in Anspielung auf das Karlsepos: "Charlemagne – pater optimus?" Unter Berufung auf Jack Goody untersucht sie das Spannungsverhältnis zwischen den drei erbberechtigten Söhnen Karls des Großen, der während seiner Regentschaft verschiedene Nachfolgeregelungen aufstellte. Nachdem beim Paderborner Treffen von 799 möglicherweise die innerfamiliären Streitigkeiten beigelegt wurden und die Nachfolge des ältesten gleichnamigen Sohnes Karl beschlossen war, habe Karl der Große den Kaisertitel gewollt, weil er die Koexistenz zweier fränkischer Könige aus verschiedenen Generationen abgelehnt habe.

Fazit

Alles in allem bietet der durch ein Autorenverzeichnis und ein Register von Cornelia Neustadt beschlossene Band ein breites Spektrum höchst unterschiedlicher Untersuchungen teils positivistischer, teils überlieferungskritischer, teils mentalitätsgeschichtlicher Art. Er trägt zahlreiche neue Erkenntnisse zur Karolingerzeit bei. Welche der generalisierenden Deutungen sich langfristig bewähren werden, muß die weitere Forschung zeigen. Nicht alle werden uneingeschränkt nebeneinander bestehen können. Als Konsens zeichnet sich jedoch in den meisten Beiträgen ab, daß die Kaiserkrone für Karl den Großen im September 799 in Paderborn längst beschlossene Sache war und vermutlich deshalb von den Quellen auch nicht besonders betont wird. Das ermöglichte es, sich am Vorabend der Kaiserkrönung vor allem mit dem Schicksal Papst Leos III. zu befassen.


Sascha Käuper
Universität Bonn
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Karoline Hornik.


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Anmerkungen

1 Wolfgang Braunfels u. a. (Hg.): Karl der Große. Lebenswerk und Nachleben. 5 Bde. Düsseldorf: Schwann 1965–1968.   zurück

2 Roger Collins: Charlemagne. Basingstoke: Macmillan 1998. – Franco Cardini: Carlomagno. Un padre della patria europea. Mailand: Rusconi 1998. – Matthias Becher: Karl der Große. München: Beck 1999 (3. Aufl. 2002). – Dieter Hägermann: Karl der Große. Berlin / München: Propyläen 2000 (als TB 2003). – Jean Favier: Charlemagne. Paris: Fayard 1999.   zurück

3 Franz-Reiner Erkens (Hg.): Karl der Große und das Erbe der Kulturen. Berlin: Akademie 2001. – Max Kerner: Karl der Große. Entschleierung eines Mythos.
2. Aufl. Köln u. a.: Böhlau 2001.   zurück

4 Joseph Brockmann (Hg.): Karolus magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799 (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 8) Paderborn: 1966.   zurück

5 Christoph Stiegemann / Matthias Wemhoff (Hg.): 799 – Kunst und Kultur der Karolingerzeit. Karl der Große und Papst Leo III. in Paderborn. 3 Bde. Mainz: Zabern 1999. – Wilhelm Hentze (Hg.): De Karolo rege et Leone papa. Der Bericht über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser (Studien und Quellen zur westfälischen Geschichte 36) Paderborn: Bonifatius 1999.   zurück

6 Manfred Balzer: Paderborn im frühen Mittelalter (776–1050). Sächsische Siedlung – Karolingischer Pfalzort – Ottonisch-salische Bischofsstadt. In: Jörg Jarnut (Hg.): Paderborn. Geschichte der Stadt in ihrer Region 1: Das Mittelalter. Bischofsherrschaft und Stadtgemeinde. Paderborn u. a.: Schöningh 1999, S. 2–118.   zurück

7 Johannes Fried: Papst Leo III. besucht Karl den Großen in Paderborn oder das Schweigen Einhards. In: Historische Zeitschrift 272 (2001), S. 281–326.   zurück

8 Arnold Angenendt: Libelli bene correcti. Der richtige Kult als ein Motiv der karolingischen Reform. In: Peter Ganz (Hg.): Das Buch als magisches und als Repräsentationsobjekt. Wiesbaden: Harrassowitz 1992, S.117–135.   zurück

9 Heinz Löwe: Von Theoderich dem Großen zu Karl dem Großen. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 9 (1952), S.353–401.   zurück