Keim über Wallace / Tate / Labroisse: Heiner Müller

IASLonline


Katharina Keim

Brückenschläge zwischen
"Eiszeit" und "Kommune" —
Der Tagungsband zum Heiner
Müller-Symposion in Bath 1998

  • Ian Wallace / Dennis Tate / Gerd Labroisse (Hg.): Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Bath-Symposion 1998. (Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Band 48) Amsterdam — Atlanta, GA: Rodopi 2000. 531 S. € 46,53.
    ISBN 90-420-1561-6.


Dieser Sammelband geht aus einem im September 1998 stattgefundenen Symposion an der University of Bath hervor. In der Pluralität seiner Beiträge und Positionen bietet er ein eindrucksvolles Panoptikum zum momentanen Stand der Heiner Müller Forschung. Die frühere Klassifikation in unterschiedliche Werkphasen wird nun aus der zeitlichen Distanz heraus abgelöst zugunsten einer wesentlich homogeneren Deutung des Gesamtwerks und der politischen Standortbestimmung des Autors Müllers: die Kluft zwischen dem "postmodernen" Müller der "Eiszeit" und dem der "Kommune" scheint sich verkleinert zu haben.

I. Nachmoderne Ästhetik in den Theatertexten
seit den 1970er Jahren

Bildbeschreibung" — ein exemplarisches Modell
für Müllers Schreibpraxis und Wirkungsästhetik

In seinem Essay "Zwischen Monolog und Chor. Zur Dramaturgie Heiner Müllers" skizziert Hans-Thies Lehmann noch einmal die seit den 1960er Jahren konsequent weiter entwickelte Ästhetik der Fragmentierung Müllers. In diesem postdramatischen "Theater der Stimmen" vollzieht sich "eine Demontage der Einheit der Fiktion durch die Montage heterogener Textformen" (S. 13), so dass der kulturell-politische Horizont der wahrnehmenden Leser / Zuschauer selbst ins Zentrum des Textes bzw. des Bühnengeschehens rückt. Eben dieses Verständnis von Textualität (und damit verbunden auch von Theatralität) als einem kommunikativen Prozess zwischen Bühne und Zuschauer bzw. Leser und Text findet sich in "Bildbeschreibung" exemplarisch textuell inszeniert. Müller schließt sich in diesem "Autodrama" unübersehbar an Brechts "Lehrstückmodell" an. Allerdings radikalisiert er die Idee einer theatralen "Versuchsanordnung": Die exemplarische Trennung zwischen ästhetischer Produktion und Rezeption ist hier nicht nur als Spielmodell entworfen, sondern bildet das eigentliche (post)dramatische Konfliktpotential des Textes. Nicht zuletzt deswegen eignet sich dieser, von Müller gleichermaßen als "Höhepunkt" wie als "Nullpunkt" 1 einer bestimmten Schreibpraxis ausgewiesene Text in besonders prägnanter Weise zur Charakterisierung von Müllers "nachmoderner" Theatertextästhetik.

So unternimmt Imre Kurdi in seinem Artikel Versuche, Heiner Müllers "Bildbeschreibung" zum Sprechen zu bringen. Seine primär rhetorisch ausgerichtete >Re-Lecture< vollzieht den "Prozeß der Zirkulation von potentiellen Bedeutungen" (S. 62) nach und legt dabei die Metaphorisierungsprinzipien als textuelle Strategie frei.

Auch Axel Schalk beleuchtet "Bildbeschreibung" im Vergleich mit Brechts "Galilei" unter dem Aspekt der ästhetischen Darstellbarkeit apokalyptischer Visionen im Zeitalter der Atombombe. Die (literatur-)programmatische Inkommensurabilität von Müllers Text ist für Schalk Anlass, auf ein immer noch bestehendes, fundamentales Defizit der Literaturwissenschaft im Umgang mit Müllers Werk hinzuweisen: Nach wie vor behaupte diese ein Instrumentarium von festen Begrifflichkeiten "gegen den Text" (S. 159). Schalk bringt damit ein Problem auf den Punkt, mit dem zahlreiche Beiträge — wie auch die Müller-Forschung ganz generell — ringen: nämlich die nur zögerlich voranschreitende Entwicklung von neuartigen Analysekritierien und einer modifizierten Terminologie, die dieser veränderten Schreibweise Rechnung tragen könnten. Diese Barrieren sind allerdings von Müller intendiert und können vielleicht sogar als Indikator seiner ungebrochenen Aktualität angesehen werden: Bereits 1975 im "Brief" an Martin Linzer formuliert der Autor spitzbübisch: "Kunst legitimiert sich durch Neuheit = ist parasitär, wenn mit Kategorien gegebner Ästhetik beschreibbar." 2

Nachmoderne Textästhetik und marxistische Dialektik

Das Schwinden traditioneller dramatischer Formen bei Müller "zugunsten von monologischen und chorischen Theater- und Textformen" (S. 19) gründet für Lehmann (wie übrigens fast einhellig auch für alle anderen Autoren dieses Bandes) in der Erfahrung einer gewandelten politischen Realität: Die linke Tradition (und mit ihr natürlich auch Brecht) war letztendlich der Idee eines die Gegensätze befriedenden kollektiven Volkswillens verpflichtet. Angesichts einer völlig zersplitterten politischen Realität tritt nun die Unauflösbarkeit des gesellschaftlichen Konflikts, der sich bei Müller bevorzugt durch das Subjekt selbst zieht, in den Vordergrund.

Von dieser Warte her erklärt sich auch Müllers Interesse an Carl Schmitts "Begriff des Politischen" mit seiner konstitutiven Spaltung in Freund und Feind. Neben Lehmann weist auch Bettina Gruber in ihrem Beitrag "Politik und Mythos. Heiner Müller als Gespensterdramatiker" ( S. 89ff.) auf diesen Tatbestand hin und führt ihn weiter aus: Sie vertritt die These, dass Müllers "Wende zur Postmoderne" nur eine scheinbare sei: "die Auflösung großer Narrationen wird niemals wirklich vollständig von ihm vollzogen." (S. 91) Das Mythische in Müllers Werk erweist sich laut Gruber bei näherer Betrachtung als eine ideologische, geschichtsphilosophische Kategorie. Diese wird als solche nicht hinterfragt, sondern im Werk primär konzeptuell aus ästhetischem Interesse benutzt und mündet so in eine "Mythisierung des Politischen" (S. 97). Der Mythos von Müller als einem >politischen Autor< erhält aus dieser Perspektive einen gefährlichen Riß: inszeniertes Geschichtsbild und politische Realität klaffen hier auseinander. Eben diese Enthistorisierung des Politischen durch den Rückgriff auf geschichtsphilosophische Konzepte sowie die damit einhergehende Ausblendung des Realpolitischen in seinem Werk veranlasst Gruber, ihn vielmehr als einen "Konzeptdramatiker" zu titulieren, der "ästhetisches Kapital vorrangig [...] aus der Verarbeitung und theatralischen Reinszenierung intellektueller Konzepte schlägt" (S. 94f.). Müllers Erfolg im Westen kann demgemäß auch als spiegelbildlicher Effekt der Legitimationsdefizite der westlichen Demokratien, also der fehlenden ästhetischen Inszenierung ihrer eigenen Wertekategorien, gedeutet werden: Die eigene "Bilderlosigkeit" findet ihr Surrogat in Müllers "Fixierung aufs Erhabene, und sei es in Gestalt eines Verfallsprojektes" (S. 98).

Auch David Barnett weist in seinen Ausführungen "Collective Dramaturgy. A Marxist Challenge to the Modern Stage" nach, dass Müllers spätere Theatertexte zutiefst von marxistischer Dialektik mit ihrem Prinzip der Negation des Bestehenden durchdrungen seien und lediglich deren Geschichtsteleologie zurückweisen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren geht Barnett nun aber von der Prämisse aus, dass Müllers späte Dramaturgie vor allem fürs Theater, also für die öffentliche Aufführung bestimmt ist. Ihre Inkommensurabilität und potentielle Verselbständigung innerhalb des >Produktionsprozesses Theater<, der sowohl Regie, Schauspieler als auch das Publikum umfaßt, ist ganz programmatisch als ein (im marxistischen Sinne zu verstehender) Gegenentwurf zur kapitalistischen Warenkultur zu lesen. 3

Norbert Otto Eke unternimmt in seinem Beitrag "Körperspuren im Theater der Geschichte. Heiner Müllers Anthropologie des Körpers" unter Rückgriff auf die entsprechenden Theorien von Nietzsche über Kamper / Wulf bis hin zu Butler eine Aufarbeitung der verschiedenen Körperkonzepte in Müllers Theatertexten. Dieser, schon in Klaus Teichmanns Dissertation "Der verwundete Körper" von 1986 in Ansätzen behandelte Aspekt des Werkes wird von Eke hier unter den — an der Werkchronologie orientierten — Gesichtspunkten "Sozialismuskritik", "Zivilisationskritik" und "Der revolutionäre Körper" aufgearbeitet und systematisiert. Im Hinblick auf die Thesen der Theaterwissenschaftler Lehmann und Barnett hätte sich nun aber vielleicht gerade hier ein kurzer Verweis auf die Problematik der theatralen Umsetzung eben dieser Körperkonzepte angeboten: ihre Relevanz ist nicht allein in ideologischen Positionsbestimmungen zu suchen, sondern stellt auch im Zusammenhang mit ihrer theatralen >Performanz< eine große Herausforderung dar, die den fundamentalen Einfluss von Müller auf die Entwicklung des Theaters in Westeuropa und den USA seit den 80er Jahren hätte beleuchten können.

Bildbeschreibung — der Vorteil des ungenauen Blicks

Intermediale Bezüge ganz anderer Art versucht hingegen Helen Fehervary in ihren Ausführungen "Mannerism, Modernism, Müller" herzustellen: Müllers Ästhetik wird aus der Perspektive der manieristischen Malerei Tintorettos kunst- und literaturhistorisch verortet. Der Manierismus wird hier gedeutet als übersteigerte ästhetische Manifestation eines nur noch schwer fassbaren oder gar schon verlorenen Gehaltes (S. 43). Mit der Last des >unvollendeten Projekts der Moderne< auf den Schultern versehen, kann Müller somit als direkter Nachfahre von Brecht und der historischen Avantgarde ein angemessener Platz im Mausoleum der engagierten Kunst des 20. Jahrhunderts zugewiesen werden.

Diese Folgerungen Fehervarys sind an sich zwar zutreffend, beruhen jedoch ironischerweise auf einer falschen Bildvorlage: Ihre Argumentation stützt sich im wesentlichen auf eine >Bildbeschreibung< von Tintorettos "Markuswunder" von Müller im Brief an Bob Wilson vom 23.02.1987. Müller verkehrt hier die Vision der Auferstehung des Toten ähnlich wie in seinem Theatertext "Bildbeschreibung" ins Ausweglose: "der Kopf des Toten liegt verdreht, wie um der segnenden Vaterhand auszuweichen. (...) der Himmel ist unten." 4 Fehervarys Interpretation bezieht sich nun aber auf ein ganz anderen Tintoretto-Gemälde mit einer ziemlich >klassischen< Erlösungsszenerie. Damit relativiert sich ihre Beweisführung unfreiwilligerweise zugunsten eben jener >postmodernen< Dimensionen, von der sie Müllers Werk gerade abzugrenzen suchte. Der aber hätte an diesem produktiven Missverständnis ganz sicher seine helle Freude gehabt. Wie heißt es doch in dem Brief an Bob Wilson über das "Markuswunder": "Das hat den Vorteil des ungenauen Blicks, wie manchmal ein schlechter Platz in Deinem Theater." 5

II. Politische Aussagen im Werk

Die Beiträge im II. Teil wenden sich erfreulicherweise überwiegend dem ansonsten eher wenig beachteten Frühwerk Müllers sowie vorwiegend den nicht-dramatischen Texten zu.

Vorbilder, Leitbilder, Vaterbilder

Dass Heiner Müller bereits mit seiner frühen Dramatik im Grunde immer quer zu allen politischen Trends lag, weist Jost Hermand in seiner Analyse von "10 Tage, die die Welt erschüttern" nach. Müllers aus Anlass des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution verfasste (und mit den Mitteln des Polittheaters der 1920er Jahre inszenierte) Stück plädiert gegenläufig zur Stimmung in der damaligen >Tauwetterperiode< gerade "für einen verschärften Leninismus" (S. 106) im Sinne einer Akzentuierung der Klassengegensätze. Geschrieben für ein revolutionäres Publikum, das zwar zur Zeit Lenins in der Sowjetunion existierte, aber in der eher bürgerlichen Kulturpolitik der DDR kaum vorhanden war, konnte ihm weder in seiner Entstehungszeit noch später in der DDR der Erfolg beschieden sein.

Die Auseinandersetzung mit politischen Leitbildern steht auch bei Carlos Guimarães im Mittelpunkt. Verwiesen wird hier anhand einer Fülle von Textbeispielen auf die Ambiguitäten in der Darstellung von Trotzki, Luxemburg und Stalin im Gesamtwerk. Sie fungieren hier weniger als historische Figuren denn als archetypische Gestalten, deren Stellenwert sich jeweils nur situativ bestimmen lässt.

Auch Andy Hollis' originelle Analyse von "Der Vater" entlarvt das in diesem gleichnamigen, nur scheinbar autobiographischen Text entworfene Vaterbild als eine literarische Fiktion. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte in der NS-Zeit und der frühen DDR-Ära erweist sich hier (wie auch im "Bericht vom Großvater") als eine dezidierte politische Positionsbestimmung des Erzähler-Ichs zugunsten der KPD und SED. Gleichwohl verbirgt sich unter dieser politischen Maskierung zumindest in Ansätzen aber auch der doppelbödige Versuch der Auseinandersetzung mit dem Verrat am eigenen Vater im Sinne einer jeweils politisch oktroyierten Abwendung und zwar sowohl in der NS-Zeit wie auch in der DDR-Ära.

Vernachlässigte Verwandte: Fragmente, Reden, Interviews

In seinem kurzen Beitrag "Müllers Wunde Woyzeck" weist Joachim Fiebach darauf hin, dass nicht nur Müllers Theatertexte, sondern auch seine sonstigen Äußerungen, insbesondere die Büchnerpreisrede, in hohem Maße von der Form der >dramatischen Performance< geprägt seien. Diese schließen sich an die monologische a-kausale Form der Theatertexte an, durchkreuzen ebenso wie jene historische Fluchtpunkte und bringen ihre eigenen Bilderwelten zum Implodieren.

Ähnliche Textstrategien liegen auch Müllers in der Reihe "Gesammelte Irrtümer" veröffentlichte Interviews zugrunde, in denen Malcolm Humble >theatralische Züge< (S. 173) feststellt. Zwar nimmt der Verfasser die Vereinnahmung Müllers durch die Medienindustrie nach den Zusammenbruch seines Weltbildes 1989 zur Kenntnis. Doch im Gegensatz zur Talk-Show-Kultur formieren sich die Splitter von Müllers Interview-Aussagen von den 1970er bis zu den 1990er Jahren zu einem "fundierten und konsequent entwickelten Weltbild" (S. 186). Somit bestätigt diese Analyse die in den anderen Beiträgen immer wieder hervorgehobene Kontinuität von Müllers Werk nun auch im Spiegel seiner Selbstzeugnisse.

Ebenfalls an Fiebachs Lesart der "dramatischen Performance" (S. 124) knüpft Theo Buck in seiner Interpretation der "Quadriga"-Fragmente an. Der wenig bekannte, nur aus Szenenanweisungen bestehende und bislang nicht aufgeführte Text funktioniert mit seinem puppenhaften und clownesken Figurenarsenal (Germania, Hitler, Vater und Sohn, Statisten) als eine Art "Spielmaschinerie" (S. 133) der >deutschen Misere< und vermag so "eine Geschichtslektion ersten Ranges" (S. 137) zu vermitteln.

III. Einzelaspekte in den dramatischen Werken

Während im I. Teil der gesellschaftskritische Impetus von Müllers Stücken insgesamt eher skeptisch beurteilt wurde, werden hier in einer Reihe von Einzelanalysen und motivgeschichtlichen Untersuchungen vorwiegend soziale und historische Dimensionen ins Visier genommen.

Rolf Jucker zeigt in seinem Vergleich der "Macbeth"-Bearbeitung mit der Schlegel / Tieck-Übersetzung auf, wie Müller den sozialen Kontext, in den sich Shakespeares Stücke einschreiben, vor allem durch seine Sprachästhetik bloßlegt und mit kritisch-distanziertem Blick revidiert.

Auch Joon-Suh Lee geht in seinem Beitrag zum Komikverständnis in "Quartett" von der zivilisationskritischen Ausrichtung der späteren DDR-Literatur aus. Komik wird hier zunächst ganz allgemein als Resultat des Scheiterns und Versagens bestimmter Verhaltens- oder Weltmodelle gedeutet. In seinem — prinzipiell durchaus angebrachten — Versuch der Historisierung komischer Strukturen verfängt sich der Verfasser jedoch vorschnell im terminologischen Dickicht der Komik-Theorie und deren Abgrenzung zur Tragödie.

Im Hinblick auf die von Axel Schalk (S. 153ff.) geäußerten Bedenken hinsichtlich der Anwendbarkeit traditioneller literaturwissenschaftlicher Analysekriterien auf Müllers Texte ist es fraglich, ob das traditionelle Oppositionsschema der >Komik der Herabsetzung< bzw. der >Heraufsetzung< der Erfassung dieser doppelbödigen Travestie überhaupt gerecht werden kann. Vielleicht verhält es sich doch eher so, dass — um abermals ein Bonmot Müllers zu zitieren — "das Lachen eine Kapitulation des Denkens" 6 ist.

Drama als Totenbeschwörung

Horst Domdey und Heinz-Peter Preußer beleuchten in ihren Beiträgen Müllers Auffassung vom Drama als >Totenbeschwörung<.

Domdey bindet das Motiv des "Bergens der Toten" (S .263) an den, in Müllers Werk zwar nicht literarisch verarbeiteten, aber gleichwohl präsenten Antigone-Mythos an. Hierbei begibt er sich unterschwellig in argumentative Nähe zu Hegels Interpretation des Mythos als Konflikt zwischen dem Bereich des Privaten bzw. Individuellen und des Staats. Im Kreuzfeuer zwischen den Polen gesellschaftlicher Fortschrittsutopie und des Gedenkens all jener Toten, die die Einlösung solcher Utopien in Kauf nimmt, erweist sich der "Gestus des Bergens" (S. 275) als ein ethisches Prinzip des "Recht[s] auf Erinnerung" (S. 263) über alle ideologischen Fronten hinweg.

In eine ähnliche Richtung zielt Preußers Untersuchung des "Erinyen"-Mythos bei Müller und Volker Braun. Während die Rachegötter in der antiken Dramatik zu "Eumeniden" befriedet werden, bleiben sie als Chiffre des Vorrationalistischen und der Zivilisationskritik — bei Müller und Braun vor allem im Motiv der Landschaft präsent. In ähnlicher Weise deutet auch Lothar Köhn Müllers Texte als eine (gesellschaftliche) "Ars memoriae", konstatiert dann allerdings im lyrischen Spätwerke eine Dominantenverschiebung hin zur "Ars moriendi (des einzelnen)". (S. 429)

Intertextuelle und intermediale Bearbeitungen

Francine Maier-Schaeffer nimmt Müllers monologischen Text "Landschaft mit Argonauten" aus der intertextuellen Perspektive des belgischen Autors und Theatermachers Jan Fabre ins Visier. Dessen Theaterarbeit der 1980er und frühen 1990er Jahre wird hier "als eine Art Konkretisierung der Idealvorstellungen Müllers" betrachtet (S. 255). Die von beiden Schriftstellern verwendete Form des >monologischen Fragments< und des "Autodramas" ist als eine spezifische Variante des Brechtschen Lehrstückmodells zu sehen. Doch ist nun die von Brecht anvisierte Veränderung der Kommunikationsstrukturen bei Müller als ästhetisches Organisationsprinzip im Text selbst wirksam: "Bewirkt Brechts (Lehrstück-)Strategie das Verschwinden des Autors aus dem Text, so demonstriert Landschaft mit Argonauten das Verschwinden des Autors im Text." (S. 254).

Vor allem das jüngere Publikum Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre machte mit Müllers Texten nicht allein durch Lektüre oder im Theater Bekanntschaft, sondern auch durch die Vertonungen der Band "Einstürzende Neubauten". Andy Spencer zeichnet die längst überfällige — von der Forschung bislang kaum zur Kenntnis genommene — Geschichte der Zusammenarbeit zwischen der von Blixa Bargeld (eigentlich: Christian Emmerich) 1980 in Berlin gegründeten Gruppe und Müller nach. Noch zu DDR-Zeiten produzierte die Gruppe die Radiohörspiele "Bildbeschreibung" und "Hamletmaschine", 1989 / 90 lieferte sie die Bühnenmusik zu Müllers "Hamlet / Maschine"-Inszenierung. Aber auch ihre späteren Produktion, wie etwa die "Faustmusik" mit und nach Texten von Werner Schwab, oder "Deutsche Krieger", eine "Hördokumentation" der Schlüsselereignisse der deutschen Geschichte, lassen noch den nachhaltigen Einfluss der Zusammenarbeit mit Müller erahnen.

IV. Das lyrische Spätwerk

"Oder die glücklose Landung..."

"Müllers Engel haben aufgehört zu fliegen, ihre Vorgeschichte als erhoffte Utopie ist beendet." (S. 314) Mit dieser lakonischen Feststellung charakterisiert Frank Hörnigk, Herausgeber der Heiner Müller-Werkausgabe, dessen späte Lyrik, in der die alten Bilder geradezu manisch immer wieder aufgerufen und in Frage gestellt werden.

Gemeinsamer Tenor der in diesem Kapitel versammelten Beiträge ist das Auflösen des in Müllers früheren Texten zentralen Gegensatzes zwischen der individuellen Zeit des historischen Individuums und der Zeit der Geschichte zugunsten der Einsicht in das Scheitern der Utopien innerhalb der eigenen Lebenszeit vor dem Hintergrund der politischen Entwicklung nach 1989 / 90.

Die Auseinandersetzung Müllers mit dem fehlgeschlagenen Geschichtsmodell mündet zum einen in den späten, oftmals in klassizistischen Versen verfassten "Traumtexten" angesichts der tödlichen Krankheit in eine authentische Auseinandersetzung mit sich selbst; in einen Versuch "seiner eigenen Geschichte >ins Weiße im Auge zu sehen<" (S. 320). Zum anderen führt sie zu einer autoreflexiven Textstrategie der poetischen Befragung der eigenen Motive und Themen früherer Werke, als "ein Schreiben für sich als Widerstand gegen die Wirklichkeit" (S. 314).

Während sich Müller als Dramatiker noch hinter der (Sprach-)Maske seiner (selbst schon ziemlich brüchigen) Rollenfiguren verbergen konnte, tritt in den 1990er Jahren die erste Person schon rein formal durch die lyrische Ich-Instanz in den Vordergrund. Trotzdem geht es auch hier, wie Jutta Schlich in ihrer Untersuchung zu "Heiner Müllers Engel[n]" aufzeigt, nicht um das (persönliche) "Benennen", sondern um die Bewältigung "historischer Erfahrungen" (S.344 / 346).

In ähnlicher Weise interpretieren auch Anthonya Visser und Hans-Christian Stillmark sowie Anna Chiarloni verschiedene, meist auf Motive früherer Texte rekurrierende Gedichte des Spätwerks im Spannungsfeld zwischen poetologischer Selbstverständigung und historischer Identitätsbestimmung.

Im Steinschlag der Denkmäler

Michael Ostheimer zeigt hingegen auf, wie Müller in dem Langgedicht "Ajax zum Beispiel" den Europa-Mythos in seiner Bearbeitung "dem definitiven Ende zuführt" (S. 396) und deutet ihn als ein "melancholisch-pathetisches Schlußwort zur DDR-Literatur" (S. 399).

Ein solches >Schreiben ins Leere< versucht Bernhard Greiner anhand des Poems "Mommsens Block" mit den Methoden der "Archäologie des Wissens" von Michel Foucaults zu hinterfragen. Foucaults Behandlung historischer Zeugnisse als >diskursive Ereignisse< wird hier als ein fundamentales Prinzip für jenes literarische Schaffen, das auf dem Charakter von historischen Ereignissen als "Material" insistiert, angesehen. Für den Interpreten steht damit weniger die Suche nach der >Bedeutung< der zitathaften Texte Müllers im Vordergrund als vielmehr deren serielles Organisationsprinzip an sich. In der hier vorgeführten konkreten Anwendung wird leider noch nicht ganz deutlich, inwiefern Greiners methodischer Vorschlag tatsächlich über die Intertextualitätstheorie Kristevas und die literaturwissenschaftliche Diskurstheorie hinausweisen könnte.

V. Aspekte der interkulturellen Werk-Rezeption

Müllers Werk ist nach wie vor eine Domäne der Germanistik. Eine Untersuchung seiner Texte aus komparatistischem oder (interdisziplinär orientiertem) kulturwissenschaftlichem Blickwinkel steht bislang noch weitgehend aus. Vielleicht nicht zuletzt deshalb haben die Herausgeber im Abschlusskapitel jene Untersuchungen versammelt, die einen >fremden Blick< auf das Werk zu werfen suchen.

So gibt Hugh Rorrison einen Überblick der Rezeption von Müllers Stücken auf den Bühnen in Flandern und den Niederlanden in den Jahren 1969 bis 1996 und dokumentiert auch im Anhang sämtliche belegte Inszenierungen. Dabei wird deutlich, welche enorme Rolle Müller für die Entwicklung des Sprech- wie auch des Tanztheaters in diesen, seit den 1980er Jahren an der Spitze der europäischen Theateravantgarde stehenden Ländern inne hatte.

Postkoloniale Perspektiven

Alle anderen Beiträge befassen sich vor allem mit jenem Text Müllers, in dem die interkulturelle Sichtweise auf die Revolution selbst inhaltlich verhandelt wird, nämlich mit "Der Auftrag". Gerhard Fischer dokumentiert die international beachtete und auch in Deutschland gastierende australische Bearbeitung "The Aboriginal Protesters..." von Mudrooroo aus dem Jahre 1996. Projiziert in die zeitgenössische Welt der (als Spieler bzw. als Ko-Autor fungierenden) indigenen Australier erweist sich Müllers Revolutionskonzept als ein eurozentristisches bzw. von der (ihrererseits europäisch geprägten) frankophonen "négritude" beeinflusstes Muster. Die Inszenierung begegnet dem mit einer "Stück-im-Stück"-Dramaturgie, in der Müllers Werk wie ein Brechtsches >Lehrstück< in einer Probensituation inszeniert aber schließlich als kulturelles Modell für eine geplante zukünftige Aufführung verworfen wird.

Quasi als Antwort auf diese theatrale Lesart unternimmt Florian Vaßen eine differenzierte Verortung des Stückes zwischen den (die Interkulturalitätsdebatte bekanntlich bestimmenden) Polen der >Projektion< und der >Alteritä<. Die Besonderheiten dieses Textes ergeben sich gerade aus der Abgrenzung von der >realistischen Literatur< etwa einer Anna Seghers, der die Motive entnommen sind. "Der Auftrag" inszeniert die Revolution lediglich im Gedächtnis, als eine Art theatrales >Denk-Bild<. Hier werden weniger Parallelen zwischen Erster, Zweiter und Dritter Welt vorausgesetzt, sondern vielmehr eine "Blickverschränkung" von Projektion, Alterität und Erinnerungsarbeit anvisiert (S. 494f).

Das westliche kulturelle Koordinatensystem wird in José Galisi Filhos Vergleich zwischen Müller und dem brasilianischen Avantgardisten Oswald de Andrade (1893—1954) schließlich auf den Kopf gestellt. Dieser postulierte in seinem "Anthropophagischen Manifest" von 1928 "einen >ontologischen< Nationalismus durch die buchstäbliche >Einverleibung des Anderen<" (S. 507). Die naive kannibalistische Metapher bedient sich des — auch von Müller favorisierten — Prinzips der Negation: Sie übt Kulturkritik auf den Trümmern der Kolonisation, indem sie deren Ausbeutungsprinzipien in die primitive Menschenfresserei übersteigert und zum eigenen nationalen Gründungsmythos (v)erklärt. So wie Müller seinerseits mit der Behauptung der "Kessel von Stalingrad zitiert Etzels Saal" 7 das Abschlachten zum mythischen Fundament der deutschen Geschichte(n) erhebt, wird hier aus visionärer postkolonialer Perspektive die Kannibalisierung der Historie als letzter Akt der totemistischen Befreiung der Menschen gedeutet.


Dr. Katharina Keim
Ludwig-Maximilians-Universität
Department für Kunstwissenschaften
Institut für Theaterwissenschaft
Ludwigstr. 25
D-80539 München

Ins Netz gestellt am 29.01.2002
IASLonline

Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof.Dr. Norbert Otto Eke. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück ]



Anmerkungen

1 Heiner Müller: Gesammelte Irrtümer. Frankfurt / M.: Verlag der Autoren, 1986, S. 184.   zurück

2 Heiner Müller: Theaterarbeit. Berlin: Rotbuch, 1975, S. 124.    zurück

3 Barnett weist in diesem Zusammenhang allerdings (in Anm.9, S.51f.) darauf hin, wie sehr Müllers Selbstvermarkung der eigenen Person sein eigenes Theaterverständnis konterkariert habe und somit von ihm zu trennen sei.   zurück

4 Heiner Müller: Brief an Robert Wilson. In: Wolfgang Storch (Hg.): Explosion of a Memory. Heiner Müller DDR. Ein Arbeitsbuch. Berlin: Edition Hentrich, 1988, S. 70f. Hier findet sich auch eine Reproduktion des Tintoretto-Gemäldes "Die Auffindung des Leichnams des Hl. Markus" (um 1563—64) abgedruckt. Müller hat dieses Gemälde übrigens auch als Vorlage für einen Bühnenprospekt in seiner Inszenierung "Hamlet / Maschine" am Deutschen Theater 1989 / 90 verwendet. (Das Gemälde, das Fehervary fälschlicherweise als das im Brief an Wilson beschriebene ansieht, findet sich auf der 1. Bildtafel des Tagungsbandes.)   zurück

5 Ebd.   zurück

6 Heiner Müller: Die Kröte auf dem Gasometer. In: H. M.: Rotwelsch. Berlin: Merve, 1982, S. 125—127, hier S. 125.   zurück

7 Heiner Müller: Drei Punkte zu Philoktet. In: H. M.: Mauser. Berlin: Rotbuch, 1978, S. 72.   zurück