Von Keitz über Kaes: M.

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Ursula von Keitz

"Hier sitzen lauter Sachverständige
in Rechtsfragen...": Krisenerfahrung
und Verbrechen in Fritz Langs Film
M — eine Stadt sucht einen Mörder

  • Anton Kaes: M. (bfi film classics, ed. by Rob White) London: British Film Institute 2000. 87 S. 46 Abb. Kart. € 15,41.
    ISBN 0-8517-0370-4.


Eine ambitionierte Reihe

Es darf als ein europaweit einmaliges, ebenso verdienstvolles wie ehrgeiziges Projekt gelten, das das British Film Institute mit seiner Reihe "BFI Film Classics" seit einigen Jahren in Angriff genommen hat: Im Bewusstsein der Fragilität des Mediums, seiner Anfälligkeit für Schäden und Zerstörungen aller Art, werden von 360 Schlüsselwerken der Filmgeschichte gesicherte und optisch exzellente Vorführkopien gezogen, die dann in einem Jahresturnus im National Film Theatre in London gezeigt werden sollen.

Eine ähnliche Programmidee realisiert zwar gegenwärtig auch das Berliner Arsenal-Kino nach seinem Umzug an den Potsdamer Platz, um so ein Repertoire der künstlerisch wichtigsten Werke der nationalen Kinematographien einem Publikum präsent zu halten, das immer weniger Filmgeschichte auf der Leinwand vorfindet. Das Engagement des BFI für das filmische Erbe reicht allerdings etwas weiter: Seine Neuedition von Filmen, die zu einem Basiskanon, einer verbindlichen Gesprächsbasis über die Kunst des Kinos werden können, wird begleitet von einer Reihe handlicher kleiner Bücher, deren Autoren und Autorinnen von einer lebendigen und höchst produktiven Beziehung zwischen Archiv respektive Kinemathek, Filmkritik und universitärer Filmwissenschaft künden.

Erschienen sind in dieser Reihe u. a. Frieda Grafes Aufsatz zu Mankiewicz' The Ghost and Mrs. Muir und Geoffrey Novell-Smiths Essay zu Antonionis L'Avventura; Richard Dyer schrieb über Leans Brief Encounter, Laura Mulvey über Welles' Citizen Kane, Salman Rushdie über Minellis The Wizard of Oz und Thomas Elsaesser über Langs Metropolis. 1

Ein Film sowie ein sorgsam illustriertes Bändchen, das nicht nur die Produktionsgeschichte des jeweiligen Films aufarbeitet und ihn im zeitgenössischen politisch-sozialen Kontext verankert, sondern auch Raum genug lässt für die sorgsame Analyse seiner ästhetischen Verfahren: Diesem Konzept ist die Reihe verpflichtet, und sie entgeht damit jener, für zahlreiche filmgeschichtliche Gesamtdarstellungen so charakteristischen Aporie zwischen Korpusbeschreibung und Detailanalyse einzelner herausragender Filmwerke. Die Bändchen der Reihe sind als einführende Literatur für Studierende zu empfehlen, als Schärfung der Wahrnehmung ebenso wie als Einladung, sich mit den Interpretationen auseinanderzusetzen. In konzentrierten Texten erhält so eine >Höhenkamm<-Filmgeschichte in Einzelwerken Kontur, deren Analysen aber vor allem eins im Blick haben: neugierig zu machen auf die Werke selbst.

M — ein Krisenfilm

Anton Kaes, der an der University of California in Berkeley German and Film Studies lehrt, ein profunder Kenner des Films der Weimarer Republik, 2 hat ein close reading von M — eine Stadt sucht einen Mörder, Fritz Langs erstem Tonfilm von 1931, vorgelegt, der nach einer repräsentativen Umfrage von 1995 als bester je produzierter deutscher Tonfilm gilt. 3 Neben der Analyse seiner narrativen Ökonomie, der höchst komplexen Kombinatorik von Bild und Ton auf Szenen- und Sequenzebene skizziert der Autor zunächst die politischen Verhältnisse im Deutschland der Jahre 1930 und 1931, in welche Vorbereitung und Produktion des Films fallen. Erste Drehbuchentwürfe lagen im Juni 1930 vor — in einer Phase, in der die Weltwirtschaftskrise Deutschland massiv erfasst hatte, in der die Kriminalität stark anstieg und sich die soziale Frustration in zahlreichen politischen Unruhen niederschlug. Bei den Septemberwahlen 1930 legte die NSDAP von 12 auf 107 Reichstagsmandate zu, im Januar und Februar 1931 erlebte Berlin Streiks und Massendemonstrationen, lieferten sich linke und rechte Gruppierungen Straßenschlachten.

M sollte ursprünglich Mörder unter uns heißen, doch Lang etablierte hier nicht, wie in seinen beiden Stummfilmen Dr. Mabuse, der Spieler (1922) und Dr. Mabuse — Inferno des Verbrechens (1924), einen Meister-Kriminellen, sondern mit dem Kindermörder eine Figur, welche die Stadt gerade durch ihre Unauffälligkeit in Angst und Schrecken versetzt. Der agile junge Produzent Seymour Nebenzahl, Chef der Nero AG, lässt M, um Produktionskosten für die teure Tobis-Klangfilm-Lizenz zu sparen, zu zwei Dritteln stumm drehen. Der größere Teil des Tons wird später nachproduziert. Zu den Charakteristiken der Tongestaltung des Films gehört, dass Lang die Atmosphäre der Stadt, inspiriert von Walther Ruttmanns Weekend, 4 nicht primär durch die gebauten Räume, sondern durch die Collagierung von Tönen und Geräuschen evoziert.

Neben diesem Klangteppich stellt die Inszenierung, wie Kaes herausarbeitet, durch abgebildete Datumsangaben oder Plakate zu gerade laufenden anderen Filmen, einen unmittelbaren Gegenwarts- und Ortsbezug zum Berlin der Jahre 1930 / 31 her. Mit Gustav Gründgens als Unterweltchef Schränker, Otto Wernicke als Kommissar Lohmann und Theodor Loos als dessen Assistent sowie Peter Lorre als Kindermörder Beckert ist M mit Schauspielern der Berliner Theaterelite besetzt. Bert Brecht hatte Peter Lorre 1929 in einer Inszenierung von Marieluise Fleißers Pioniere in Ingolstadt entdeckt. Während der Dreharbeiten zu M stand Lorre abends in Brechts Mann ist Mann auf der Bühne. Sein Spiel changiert "zwischen Phlegma und hysterischem Ausbruch" (Kurt Pinthus).

Bereits die Exposition des Filmes verweist mit dem Blick in einen Berliner Hinterhof auf die soziale Krisensituation, in der sich die Verbrechen ereignen, von denen die Geschichte handelt. Elsie Beckmann, das Opfer, ist die Tochter einer Waschfrau, ein vaterloses Kind, das auf dem Nachhauseweg von der Schule einem freundlichen Mann begegnet, der es mit kindlich-weicher Stimme anspricht. Eine Schlüsseleinstellung für die komplexen Bildkompositionen Langs, für seine Informationsökonomie zwischen Bild und Text, Bild und Ton ist jene, die zeigt, wie Beckerts Schatten sich zu Elsie herunterbeugt und dabei auf ein Litfasssäulenplakat fällt, auf dem nach einem Kindermörder gefahndet und die Bevölkerung um Mithilfe gebeten wird. Dadurch kann der Zuschauer antizipieren, dass Beckert der Täter ist. Eine >auktoriale< Kamera, die an einigen Stellen selbst die Rolle eines Verfolgers übernimmt, verschafft dem Zuschauer gegenüber der ermittelnden Polizei zwar einen Wissensvorsprung, dennoch liefert die Diegese an keiner Stelle einen direkten Beweis für die Täterschaft Beckerts. Die Erzähltechnik des Films ist nicht am klassischen Whodunit-Prinzip von Detektivgeschichten orientiert, Lang und die Drehbuchautorin Thea von Harbou entfalten mit der Kriminalhandlung vielmehr das Bild einer von Massenhysterie heimgesuchten Stadtbevölkerung.

Die Topik der Serialität

Besonderes Augenmerk richtet Kaes in seiner Filmlektüre auf den Komplex der Serialität, die den Film nicht nur thematisch dominiert — der Kindermörder ist ein Serientäter — , sondern auch insgesamt grundiert. Der Serienmord ist das zeitgemäße Verbrechen in einer von Serienkultur umgebenen Gesellschaft: während Elsie Beckmann ermordet wird, erhält ihre Mutter an der Wohnungstür die letzte Fortsetzung eines Kriminalromans — die dargestellte Medienwelt nährt sich, wie der Autor an Hand dieser alternierenden Montage herausarbeitet, von der trivialen Serienfiktion, und so imprägniert nimmt eine von politischen wie ökonomischen Krisen geschüttelte Gesellschaft reges Interesse an medial vermittelten >wirklichen Kriminalfällen< und ihrer Aufklärung.

Kaes beschreibt die Serialität als Grundstruktur des Films, die sich nicht nur in der Form seiner Diegese, in der Durchbrechung der klassischen continuity, in der Aufgabe von Ursache-Wirkungszusammenhängen zu Gunsten der enumeratio, der Illustration und Alternation artikuliert, sondern auch semantisch-topologisch (S. 26—38): der Abzählreim der Kinder im Hinterhof, "Warte, warte nur ein Weilchen...", dessen erste Periode zu hören ist, als auf der Leinwand noch Schwarzfilm erscheint, bildet vor jeder bildlichen Information den Auftakt zum Phänomen >Mord in serieller Form<, das in der dargestellten Welt schon das halbbewusste Kinderverhalten prägt. Jede Zählreimperiode mündet in eine tödliche Logik: "...Du bist raus!" Wen >es< trifft, der muss weg.

Nicht nur besteht eine fatale Parallele zwischen kindlicher Spielorganisation und der (scheinbar unmotivierten) Zufallsauswahl eines kindlichen Opfers durch den pathologischen Täter, die Serialität bestimmt insgesamt die Form des Verbrechens in einer von Massenproduktion und -konsum geprägten Gesellschaft. Das organisierte Verbrechen begeht Diebstähle in Serie (Paul Kemp verdeutlicht dies als wunderbar komischer Dieb auf der nächtlichen Ringvereinsversammlung mit den, wie eine Wildstrecke aufgereihten, gestohlenen Taschenuhren), und diese bildet das Maß seiner Professionalität. Wegen der rationalen Professionalität, die den Gegenpol zur zwangsverhafteten Praxis des Serientäters bildet, kann sich hier auch eine Parallelgesellschaft entwickeln, die über weite Strecken erfolgreichere Fahndungsmethoden anwendet als die Polizei. Denn sie, so zeigt der Film, ist auf der Straße präsenter als die Polizei mit ihren erkennungsdienstlichen Methoden (Daktyloskopie und Graphologie).

Schränker's plot to catch the child murderer is to occupy the city with an invisible army of spies, enlisting them to observe all citizens at all times. He says: >Every square inch must be under constant surveillance. No child may take an unnoticed step.< Instead of resolving after it is committed, which is the method of the police, the underworld opts for crime prevention. The prize, of course, is high: total surveillance and mobilisation, a voluntary fascism motivated by fear of violence. (S. 46)

Mit der Serialität als Wiederholung verbunden ist die Parallelität als visuelles Ordnungsprinzip: Am deutlichsten zeigt sich dies in den Strategiesitzungen von Polizei und Ringverein, die beide ein gemeinsames Ziel verfolgen, nämlich den Kindermörder zu fassen. Das Maß ihrer Anstrengungen verkörpert sich im stetig zunehmenden Zigarrenqualm, der die beiden Sitzungsräume am Ende erfüllt, im gleichgerichteten, nervösen Umkreisen der Tische und schließlich im gebieterischen Gestus der Kartenarbeit. Allerdings differieren hier die strategischen Prinzipien: Während die Polizei konzentrisch mit dem Zirkel den Kreis der Fahndungsaktivität vom Tatort aus erweitert, legt sich, einen Schlagschatten werfend, die schwarz behandschuhte Hand des Schränkers über Stadtviertel — das "Netz" von Spionen, mit dem der Ringverein das Viertel überzieht, erweist sich als wirkungsvoller. Im Verweis auf Foucaults Überwachen und Strafen, gemäß dem die Autorität (Blick-)Macht durch eigene Unsichtbarkeit gewinnt, beschreibt Kaes die Blickmacht bei Lang gerade als Notwendigkeit, selbst sichtbar zu sein:

For Foucault, the perfect disciplinary apparatus enables a single panoptic gaze to see everything at all time. For Lang, however, even a single panoptic gaze could not comprehend, let alone discipline and contain, the psychopathological Beckert. While Lang examines the nexus between total mobilisation, surveillance and social control, he also insists on an unknowable remainder, a resistant scintilla which defies categorisation. (S. 49)

Schränkers >kalte< Phantasie ist die totale Kontrolle über die Stadt, während sein von menschlicher Wärme nicht unberührter Kontrahent Lohmann väterlich ebenso wie derb-proletenhaft agieren kann.

Die Vorbilder: Haarmann und Kürten

Während Fritz Lang und Thea von Harbou die aktuelle politische Situation der Jahre 1930 / 31 allenfalls atmosphärisch andeuten, bezieht der Stoff von M sehr konkrete Anregungen von zwei berühmten Fällen der Weimarer Kriminalgeschichte: dem Fall Haarmann und dem Fall Kürten.

Im November 1929 begeht der Düsseldorfer Serienmörder Peter Kürten seine letzte Tat. Das Drehbuch zu M ist abgeschlossen, ehe Kürten im Mai 1930 verhaftet wurde. Seine psychiatrische Untersuchung erstreckt sich von Oktober 1930 bis Januar 1931, sein Prozess vom 13. bis 22. April 1931. Kürten wird wegen neunfachen Mordes zum Tod verurteilt. Am 29. April lässt die Berliner Filmprüfstelle M ohne Schnittauflagen zu, am 11. Mai, drei Wochen nach Kürtens Hinrichtung, hat der Film Premiere. Der Fall Kürten, so stellt Kaes in einem längeren Exkurs zum zeit- und mediengeschichtlichen Umfeld von M heraus (S. 30—35), ist einer der ersten konsequent publizistisch begleiteten Kriminalfälle in Europa.

Anders als im Fall des Hannoveraner Massenmörders Fritz Haarmann von 1924, über den noch im selben Jahr ein (vermutlich nicht überlieferter) Film entstand, 5 berichten 30 bis 40 Journalisten aus mehreren Ländern ständig aus dem Düsseldorfer Gerichtssaal. Die Berliner Presse ist präsent, als hätten sich die Düsseldorfer Vorgänge vor der eigenen Haustür ereignet. Auch der charismatische Berliner Kriminalist Ernst Gennat, Vorbild für den von Otto Wernicke gespielten Kommissar Lohmann (S. 31), ist in die Ermittlungen zum Fall Kürten involviert.

Das Drehbuch übernimmt charakteristische Motive dieses Falles, so Kürtens Selbstbezichtigung in Form eines Bekennerschreibens an die Presse, das diese faksimiliert abdruckt. Historisch hat die Veröffentlichung von Kürtens Bekennerschreiben zahlreiche >Trittbrettfahrer< provoziert; neben diesen falschen Selbstbezichtigungen gehen massenhaft Verdachtsbekundungen ein (vgl. S. 32 f.). Stoffanregungen bezieht das Drehbuch auch aus einem Artikel, den Gennat in den Kriminalistischen Monatsheften veröffentlicht hat. Der Kriminalist beschreibt die "psychotischen Attacken" des Publikums nach bekannt gewordenen Mordtaten, die sich als "Verschwundene-Personen-Psychose" und im Fall Kürten als "Brief-Psychose" artikuliert hat. Letztere entspricht dem narzisstischen Wunsch der Schreiber, sich als Pseudotäter ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu bringen (vgl. S. 33).

Der >innere Krieg< des Kindermörders

Im Film liegt der Schwerpunkt auf zweierlei Pathologien: Lang und von Harbou >analysieren<, subtil-realistisch und gestützt auf Gennats Erkenntnisse, die sich an die Mordserie anschließende Kollektivpsychose der Bevölkerung als massenmedieninduzierten Effekt, die im Verdacht >Jeder könnte der Mörder sein< gipfelt. Das "Trittbrettfahrer"-Phänomen haben Lang und von Harbou nicht aufgegriffen, sie fokussieren stattdessen den Irrationalismus wahlloser Verdächtigungen, die die Polizeiarbeit irritieren und die Ermittler als Repräsentanten operativer Vernunft nahezu an die Grenzen ihres eigenen Verstandes bringen.

Ebenso präsent wie die medial induzierte Massenhysterie ist im Film M die Frage nach dem geistigen Zustand des Täters, ein analytisches Interesse, dem insbesondere der ungeschnittene Monolog des Kindermörders in der Schlusssequenz entspricht. Sie ist Kern der Humanität des Films ebenso wie seines impliziten Lehrplans: >Lerne zu unterscheiden zwischen zu verantwortender Kriminalität und Krankheit, die ein anderes als (nur) strafendes Vorgehen erfordert.< Gerade der Körper des Schauspielers hat hier — ein unauflösbares Paradox filmischer Inszenierung — Garant einer Wahrheit des Leidens am Selbst zu sein, sein Pathos die Qual der Ich-Spaltung und des Verfolgtseins von inneren Zwängen glaubwürdig zu machen und in der Diegese keinen Verdacht auf das bloße Simulieren eines pathologischen Charakters aufkommen zu lassen.

Das Phänomen der Ich-Spaltung, das in diesem fast fünfzehnminütigen, der theatralen Form verpflichteten und deshalb dem gesamten Auflösungs- und Montagestil des Films kontrastierenden Monolog ausgefaltet wird, besteht im Antrieb zu einer Tat, die der eine Ich-Anteil verurteilt, zu dem der andere jedoch anstachelt. Es findet in Freuds Analyse der Kriegsneurosen von 1918 eine diskursiv-empirische Fundierung und Anknüpfung an jene Widersprüche, denen die soldatische männliche Psyche im Ersten Weltkrieg ausgesetzt war: mit dem befohlenen Töten tut sich psychisch ein double bind auf, die Spaltung, in die das zwischen dem >Friedens-Ich<, das nicht töten will, und dem >Kriegs-Ich<, das töten muss, hin- und hergerissene Subjekt gerät (S. 68 f.). Diese Spaltung gibt das Modell für die Spaltung des Kindermörders vor, dem die Tat als temporäre Lösung seines psychischen Konflikts erscheint. Lang hatte ursprünglich, wie Kaes aus Archivmaterial rekonstruiert, eine retrospektive Szene vorgesehen, die den Mörder Beckert schwer traumatisiert im Krieg zeigt, diese jedoch nicht gedreht, was zur Folge hat, dass die Genese des pathologischen Charakters seines Protagonisten eine Leerstelle bleibt.

Kaes hebt die doppelte Markierung der Figur hervor: sie ist kriminell und pathologisch zugleich, die Wahl des jüdischen Schauspielers Peter Lorre, der als einziger im Film süddeutsch gefärbt spricht, ist funktional und verstärkt die Außenseiterpersönlichkeit des Täters (S. 53 f. und 69 f.). Die Pathologie der Figur Beckert wird konturiert durch zwei physiognomische Schulen, die Gesichtsphysiognomie (in der Tradition Lombrosos und Galtons) und die Graphologie (in der Tradition Klages'), deren Grundannahmen die biologische Prädestination zum Verbrechen bilden. Diesem Biologismus widerspricht der Film: "The criminal physiognomy does not exist, according to Lang, >serial killers like Großmann and Haarmann could live next door to their neighbors without raising even a trace of suspicion<" (S. 56).

Lorre zeigt in seinem Spiel einen effeminierten, kindlichen, oralfixierten Mann, der den Reizen einer ästhetisierten Warenkultur nicht als Käufer oder Konsument erliegt, sondern sie spezifisch >missinterpretiert<: Kaes analysiert die Schaufensterszene, die der Identifikation und Brandmarkung Beckerts mit dem "Kreide-M" unmittelbar vorausgeht, als Umkehrung der Relation von Mensch und Dingen (S. 59—61): Aus dem Haushaltwarengeschäft heraus, in das Schaufenster hinein gefilmt, erscheint Beckert doppelt kadriert und fixiert: durch die primäre Kadrage der Kamera und durch die sekundäre, um 90 Grad gedrehte Kadrage der rautenförmig dekorierten Messer, die sich in der Scheibe spiegeln und in deren Zentrum Beckerts Kopf situiert ist. Mit der quasi-hypnotischen Fixierung seines Bewusstseins auf die Messerformation und dem zufälligen Dazutreten eines kleinen Mädchens wird seine Tötungslust geweckt, die Messer sind zu Quasi-Akteuren geworden, die ihn beherrschen. Beckerts wiederholtes Pfeifen der Melodie "In der Halle des Bergkönigs" aus Edvard Griegs Peer Gynt-Suite vollendet die Identifizierung.

Die Pervertierung des Gerichts

Dieser zunächst rein visuell gedeuteten Pathologie spricht der Film allerdings keine Exkulpierung im Sinne des >Unzurechnungsfähigkeits-Paragraphen< 51 des Reichsstrafgesetzbuches zu: ironischerweise thematisiert gerade der durch seine >kalte< Grausamkeit gezeichnete Schränker die Unangemessenheit dieses Paragraphen für das Serientäter-Phänomen: eine Nicht-Verurteilung wegen Unzurechnungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Tat birgt die Gefahr, dass nach der Freilassung des Täters dieser neue Taten begeht, dem Zwang des Seriellen erliegt. Die Lynchjustiz-Atmosphäre, in der Schränker dies jedoch vorträgt, diskreditiert sich in der Perspektive des Films indes selbst, denn Lang und von Harbou stellen die Tatsache, dass hier Kriminelle zu Gericht sitzen, als Perversion der rechtsprechenden Institution dar: nicht die Wahrheit soll in diesem Tribunal ans Licht kommen, sondern der Mörder soll eliminiert werden — eine utilitaristische Lösung, damit die ständigen Polizeirazzien unter den organisierten Kriminellengruppen aufhören.

Im vorverurteilenden Gestus des Tribunals, dem vor allem der wichtigste Teil des Prozessrituals, die Beweisaufnahme, fehlt, kommt in der Diegese eine weitere elementare Regel des filmischen Lehrplans von M zum Tragen: Der Zuschauer bekommt keine direkten Beweise für die Schuld Beckerts vor Augen geführt, wird weder selbst qua filmischer Anschauung Zeuge der Tat, noch kann eine der Figuren als direkter Tatzeuge dienen. Nur das Geständnis Beckerts, das in einer akuten Bedrohungssituation artikuliert wird, garantiert, dass ihm die Morde zugeschrieben werden können. Der "Verteidiger", dessen Ruhe und Ernst einen Kontrapunkt zu dieser Mob-Stimmung setzt, findet eine Lösung, die beiden, dem Serientäter als potentieller Gefahr für die Gesellschaft wie seinem Leiden, entspricht: als >kranke< Person muss der Täter in eine Anstalt eingewiesen werden.

Ob diese in der Perspektive des Films >gerechte< Lösung auch in der dargestellten Welt Wirklichkeit wird, bleibt freilich unerzählt, das Erscheinen der Polizei, ihr Eindringen in den Keller, in dem der zur Farce geratene Prozess stattfindet, ist dramaturgisch nahezu als deus-ex-machina-Intervention zu qualifizieren. Gerade noch, so lässt sich gemäß Kaes' Analyse der Schluss von M lesen (S. 74 f.), können die staatlich legitimierten, demokratischen Instanzen die Ordnung wiederherstellen, welche die durch Schränker repräsentierte Parallelgewalt und die Lynchjustiz in ihre Schranken weisen. Kommissar Lohmanns Ausruf bei der Erstürmung des Kellers, "Im Namen des Gesetzes!", folgt in der Überblendung in einen nur auf der Richterbank besetzten, ansonsten leeren Gerichtssaal die Formel "Im Namen des Volkes". Wie über Beckert Recht gesprochen wird, zu welchem Urteil diese Richter kommen, bleibt eine Leerstelle, besagt lediglich, dass die Legitimität einer höheren Autorität wiederhergestellt ist.

Das letzte Wort haben in diesem Film charakteristischerweise die "Mütter", Elsies Mutter und zwei weitere, die sich direkt ans Publikum wenden — auch hier wählt Lang wiederum eine theatrale Form der Adressierung: "Das bringt uns unsere Kinder auch nicht wieder. Wir müssen halt besser acht geben auf die Kleinen." Das antikisierende, ikonenhafte Schlusstableau der drei trauernden, schwarzgekleideten und direkt zur Kamera gewandten Frauen, die Kaes als Parzenfiguren interpretiert und dem Einfluss insbesondere von Harbous auf das semantische Fundament des Films zuschreibt (S. 76), schließt den Zirkel, indem es auf die soziale Lage derjenigen verweist, deren Kinder zu Opfern werden können.

Ein kurzer Verweis auf Josef Loseys amerikanisches Remake von 1951 und die Wiedergabe einer schließlich gekürzten Szene (die in der Uraufführungsfassung vom 11. Mai 1931 noch enthalten war) beschließen den Band.


Ursula von Keitz
Universität Zürich
Seminar für Filmwissenschaft
Plattenstraße 54
CH-8032 Zürich

Ins Netz gestellt am 15.01.2002
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Anmerkungen

1 Die vollständige Liste ist über die — auch ansonsten empfehlenswerte — Website des British Film Institutes zugänglich, http://www.bfi.org.uk/ (14.12.2001)   zurück

2 Anton Kaes ist, zusammen mit Wolfgang Jacobsen und Hans-Helmut Prinzler Mitherausgeber der Geschichte des deutschen Films, Stuttgart / Weimar: Metzler 1993 und hat in diesem Band den Abschnitt Film in der Weimarer Republik verfasst.    zurück

3 Vgl. hierzu die CD-ROM Die deutschen Filme, hg. vom Deutschen Kinematheksverbund 1999. Die CD enthält neben der Datenbank "Deutsche Filmografie 1895—1998" die Edition "Top 100". Darin finden sich Daten und Materialien (Szenenfotos, Set Designs, Drehbuchauszüge, Kostümentwürfe, Kritiken und Kopienstandorte) zu 100 deutschen Filmen aus gut 100 Produktionsjahren, die in den Archiven des Verbundes gesammelt wurden.    zurück

4 Weekend, bei dem die Tonspur auf Schwarzfilm aufgebracht wurde, wurde 1930 als Radiostück gesendet.   zurück

5 Der Film hieß Der Kriminalfall in Hannover. Überliefert ist ein Zensurdokument der Film-Oberprüfstelle Berlin, Sign. O. 386 vom 17.09.1924. Der einaktige dokumentarische Streifen (erstzensiert am 26.07. d.J.) hatte eine Länge von 450 m und zeigte "eine Reihe von Bildern der Stadt Hannover, dazwischen die Wohnstätte des Mörders Haarmann, seine Wirtin und einen jungen Mann nebst Angehörigen, den Haarmann vergeblich anzulocken versucht hatte." Der Film wurde verboten, weil er "entsittlichend und verrohend" und geeignet sei, "auf die niedrigen Sensationsinstinkte des Publikums zu wirken." Das Urteil ist als Faksimile publiziert in: Deutsches Filminstitut DIF (Hg.): Die Zensurentscheidungen der Film-Oberprüfstelle Berlin 1920—1938. Internet-Edition, betreut von Ursula von Keitz und Jürgen Keiper. Frankfurt am Main 1999—2001, http: //www.deutsches-filminstitut.de/dframe12.htm (29.12.2001).   zurück