Nina Ort über Killius: Antiqua-Fraktur Debatte

Nina Ort

Christina Killius: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Bd. 7) Wiesbaden: Harrassowitz 1999. 488 S. 72 Abb. Kart. DM 168,-.



Mit ihrer Dissertation legt Christina Killius eine umfangreiche und sorgfältig recherchierte Studie über die historische Debatte um die beiden Schriftgattungen Antiqua und Fraktur vor - eine Debatte, die durch den "Normalschrifterlaß" von 1941 durch die Nationalsozialisten, der die Fraktur als "Schwabacher Judenletter" diffamiert, abrupt beendet wurde. Die historische Distanz, aus der das Schriftbild der Fraktur heute wahrgenommen wird, erlaubt es, die Debatte um Antiqua und Fraktur, die sich über Jahrhunderte hinzog, aus einer objektiven Perspektive zu rekonstruieren. Bemerkenswert ist dabei, welche Bedeutung dieser Schriftdebatte zukam und welche Vielfalt gesellschaftlicher und weltanschaulicher Fragen mit ihr transportiert werden konnten.

Dies ist möglich, da typographische Gestaltungsmittel synästhetisch wahrgenommen werden und somit offen sind für semantische Aufladungen und metaphorische Überfrachtungen. Typographische Gestaltungsmittel verfügen über kein eigenes Beschreibungsinventar; deswegen werden stattdessen Eigenschaften aus verschiedenen Wahrnehmungsfeldern auf sie übertragen. Wenn Lettern beispielsweise mit Attributen wie 'seriös', 'heiter', 'statisch' oder 'unruhig' beschrieben werden, so handelt es sich hierbei um Metaphern, nicht jedoch um tatsächliche Eigenschaften dieser Lettern. Solche Eigenschaftszuschreibungen ziehen dann sekundäre Charakterisierungen nach sich, mit denen regelrechte Charakterologien oder Psychogramme für Lettern und Schriftbilder entworfen werden können. Die Wahl einer Schrift bedeutet dann nicht mehr die Wahl beispielsweise dieser Serifen oder jener Oberlängen, sondern die Entscheidung für oder gegen bestimmte Charaktereigenschaften. 1 In der Debatte um die Vorzüge oder Nachteile von Fraktur oder Antiqua konnten daher nicht nur didaktische oder ästhetische, sondern auch politische und weltanschauliche Diskussionen mitgeführt werden.


Zur historischen Herleitung der Schriftdebatte

Killius stellt gleich in der Einleitung die "Analyse der geistesgeschichlichen Hintergründe" (S.11) 2, die zu dieser Schriftdebatte führten und diese trugen, und deren "Einbettung in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen" (S.11) in Aussicht und macht den Leser neugierig auf eine sozialgeschichtliche Rekonstruktion. Daß Killius den Schwerpunkt ihrer Studien dabei auf den Zeitraum um 1800 legt, legt die Vermutung nahe, daß diese Debatte an der historischen Schwelle zur Moderne einen gewissen qualitativen Höhepunkt erreicht. Ein Überblick über die historische Entwicklung der beiden Schriftgattungen scheint zur Fundierung der Voraussetzungen für ihre Polarisierung und einer Debatte um sie sinnvoll.

So nimmt die historische Herleitung der Schriftdebatte dann immerhin auch die ersten 200 Seiten des Buchs ein; die Geschichte einzelner Schriftfamilien wird ausgehend vom 14. Jahrhundert rekapituliert. Hier erfährt der Leser zum Beispiel, daß die Fraktur in der Tradition der gotischen Kursivschriften steht (vgl. S.40): "Die Fraktur, eine Schriftschöpfung der Renaissance aus den ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts, hat ihre Wurzeln in der gotischen Schrifttradition. Als ihre direkten Vorläufer gelten die böhmische und die burgundische Bastarda." (S.68) 3 Damit stellt sich für den Leser die Frage, wie die Fraktur, die nur eine, und zudem eine relativ spät entwickelte Variante der gebrochenen Schrifttypen ist, überhaupt in eine solche Konkurrenzsituation zur Antiqua treten konnte, wie sie zu der gebrochenen Schrift avancieren konnte. 4 Antworten auf Fragen wie diese, dies sei vorneweg angemerkt, wird der Leser allenfalls zwischen den Zeilen der Arbeit lesen können.

Killius trägt in den Kapiteln zur historischen Herleitung der Antiqua-Fraktur Debatte nämlich vor allem zahlreiche Details zusammen - Informationen rund um die Geschichte des Buchhandels gewissermaßen. Interessant sind dabei die Erläuterungen über orthographische Entwicklungen, wie beispielsweise die Einführung der Großschreibung von Substantiven, wobei für die Minuskelschriften erst passende Majuskeln entwickelt werden mußten. Interessant sind gleichermaßen die vielen Einzelheiten aus der Geschichte der Schriftentwicklungen, die Killius anspricht: die im Frühneuhochdeutschen oft noch fehlende Unterscheidung bei der Verwendung des Typenmaterials zwischen Konsonanten und Vokalen, daß also zum Beispiel "der Kleinbuchstabe v [...] für f wie auch für u" (S.118) stehen konnte, und etliche vergleichbare Beispiele, die Schlaglichter auf Stationen der typographischen Evolution einzelner Schriftgattungen werfen. Spannend sind außerdem die Schilderungen der Umstände, unter denen sich im 17. Jahrhundert Normen für die deutsche Sprache entwickelten: "Jeder Grammatiker setzte andere Schwerpunkte, dazu kamen dann die übermächtigen lokalen Gewohnheiten der Setzer und Drucker, die weitaus prägender waren als die Grammatiken." (S.119)

Die eigentlichen Hinweise auf die Entwicklung der Schriftdebatte oder gar des Schriftstreits zwischen Antiqua und Fraktur gehen zwischen diesen Darstellungen einzelner historischer Aspekte der Schriftkultur allerdings unter. Nur häppchenweise und sehr kursorisch fallen entsprechende Anmerkungen etwa in folgender Form:

Nachdem der Gebrauch der Bastarda und der Rotunda zunächst nicht von den jeweiligen Sprachen abhing, trat im Laufe der Zeit eine Differenzierung des Schriftgebrauchs ein. Die Rotunda galt als Schrift für lateinische Texte, während die Schwabacher für deutsche Text verwendet wurde. (S.40)

Diese typographische Konvention, der zunächst keine Wertungen zugrundeliegen, kann gleichwohl als Nährboden für die nachfolgenden Dichotomisierungen und entsprechende Semantisierungen zwischen den gebrochenen Schrifttypen und Antiqua angesehen werden. Mögliche Zusammenhänge über diese Entwicklungen muß der Leser allerdings selbst rekonstruieren. Denn nur allmählich und nur fragmentarisch erhält er Hinweise auf die Differenzierungen zwischen lateinischer und deutscher, wissenschaftlicher (gelehrter) und alltagssprachlicher Schrift oder konfessionell bedingten Konventionen im Schriftgebrauch und der damit verbundenen allmählichen Polarisierung zwischen den Antiqua- und Frakturschriften. Die Wertungen, die mit solchen Polarisierungen einhergehen und die erst die Grundlage bilden, auf denen ein Streit entstehen und ausgefochten werden kann, werden von Killius nur ansatzweise besprochen.


Sozialgeschichtliche Rahmenbedingungen um 1800

In dem Maße, in dem das Interesse an Deutschland, einer deutschen nationalen Identität und Kultur wächst, können diese typographischen Konventionen zum Material weltanschaulicher Debatten werden. Denn die deutsche Identität wird natürlich durch Abgrenzungsversuche gegen andere Nationalstaaten zu erreichen versucht. Die Frage lautet: was ist typisch deutsch und was nicht? Und unter diesem Vorzeichen geht es dann auf einmal um das Lateinische als das Nicht-Deutsche und um die lateinischen Lettern im Gegensatz zu den "gotischen" und mithin als deutsch hypostasierten. Allein die Konvention deutsche Texte in Fraktur zu setzen, ermöglicht den Irrtum, die gebrochenen Schriften als genuin oder typisch deutsche Schriften anzusehen.

Die Semantisierungen der beiden Schriftgattungen dokumentieren die historischen gesellschaftlichen und weltanschaulichen Konflikte und Themen, die das um 1800 entstehende, bürgerliche Deutschland bewegt, wobei die konservativen, reaktionären oder gar nationalistischen Stimmen stets die Fraktur als die deutsche Schrift schlechthin verteidigen - ganz abgesehen davon, was dann als typisch deutsch bezeichnet wird und je nachdem wogegen "das Deutsche" sich verteidigen muß.

So spiegelt sich in der Fraktur angeblich die Würde deutsch-gotischer Kultur wider, oder es bildet die dichte Textur der Fraktur den "deutschen Charakter" in seiner Tiefe und Dunkelheit ab. Demgegenüber macht die Antiqua mit der französischen Fremdherrschaft im 18. Jahrhundert Negativkarriere als "welsche Letter", die Helligkeit ihrer Textur spiegelt entsprechend die Seichtigkeit derer wider, die sie verwenden. Im Nationalsozialismus schließlich wird die Fraktur zum Symbol des "Deutschen" schlechthin stilisiert: aufgrund dieser Semantisierung ist folglich jede andere Schrift zumindest "undeutsch" - und somit allen semantischen Konnotationen ausgesetzt, die unter dieser Dichtomie aus kulturellen, sozialen, politischen oder weltanschaulich-ideologischen Gründen subsumiert werden sollen.

All dies wird bei Killius nur am Rande beachtet. Gerade an solchen Semantisierungen könnte indessen eine 'Einbettung in den gesamtgesellschaftlichen Rahmen' und die 'Analyse der geistesgeschichlichen Hintergründe' ansetzen. 1800 böte hierbei einen tatsächlich markanten historischen Zeitpunkt. Killius weist in bemerkenswert gründlicher Detailarbeit auf zeitgenössische Fragen und Themen hin, die sich einer derartigen Analyse anbieten:

Noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts rang man nach einer einheitlichen, in jeder Region Deutschlands anerkannten hochdeutschen Sprache, um im westeuropäischen Sprachenkanon gleichberechtigt bestehen zu können. 1751 hatte Diderot in einer Charakterisierung der prägnantesten Eigenschaften der verschiedenen westeuropäischen Sprachen das Deutsche nicht einmal genannt. (S.185 f.)
Man darf vermuten, daß sich die Bemühungen um eine nationale Identität und Kultur auch auf die Debatte um eine "deutsche" Schrift ausdehnten. Diese wird bei Killius in erster Linie im Zusammenhang des sich ausdifferenzierenden Erziehungssystems und Schulwesen wahrgenommen: "Angesichts der unbefriedigenden Schulsituation des 17. Jahrhunderts wurde von Seiten der Pädagogen Kritik laut. Nicht mehr Latein sollte die erste zu erlernende Sprache sein, sondern die Muttersprache selbst." (S.106). Eingehendere Analysen der sozialgeschichtlichen Hintergründe gegen Ende des 18. Jahrhunderts unterbleiben jedoch. Killius faßt ebenso kurz wie lapidar zusammen:
Im Bereich der gelehrtern Literatur kam es seit etwa 1740 zu weitreichenden Veränderungen. Die festumgrenzten, traditionellen Gebiete der Gelehrsamkeit wurden durchlässiger und verloren alte Gültigkeiten. Gebiete wie Staatswissenschaften, Erziehungswesen, praktische Handreichungen und Naturwissenschaften traten stärker in den Vordergrung des Interesses. (S.143)
Für den zeitlichen Kernbereich der Studie - 1800 - heißt es dann:
Dem Repräsentationsbedürfnis der barocken Kanzlei stehen am Ende des 18. Jahrhunderts und vort allem im 19. Jahrhundert eine sich vergrößernde Beamtenbürokratie und eine Weiterentwicklung im kaufmännischen Bereich gegenüber. Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht normierte die Schrift und führte auch schließlich zu einer Starrheit. (S.89)
An dieser Stelle würde der Leser doch gerne ein wenig detaillierter über die Zusammenhänge zwischen typographischen Entwicklungen und einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft und ihrer damit verbundenen Alphabetisierung und Bürokratisierung erfahren. Auch, was man sich konkret unter "einer Starrheit" der Schrift vorzustellen habe, muß aus den entsprechenden Hinweisen aus den einzelnen Kapiteln erarbeitet und rekonstruiert werden.

Die Vagheit der Argumente in diesem Beispiel und die fehlende Abstraktion von historischen Einzeldaten auf sozialgeschichtliche Zusammenhänge der sich um 1800 ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft, für die die Entwicklung der Beamtenbürokratie und des Schulwesens nur symptomatische Beispiele sind, fallen an der Arbeit von Killius immer wieder auf. In dieser Form befriedigt sie die Ansprüche an eine Darstellung sozialgeschichtlicher Hintergründe der Schriftdebatte um 1800 nur ungenügend.


Buchhandel um 1800

Das enger gefaßte Thema des Buchhandels um 1800 hingegen bearbeitet Killius mit großer Sorgfalt. Man kann beinahe sagen, statt der projektierten Einbettung der Schriftdebatte in den "gesamtgesellschaftlichen Rahmen" wird vielmehr ihre Rekonstruktion aus buchhandelsgeschichtlicher Perspektive geleistet. Die Argumente in der Schriftdebatte werden hier am Beispiel der buchhändlerischen ästhetischen und wirtschaftlichen Kalkulationen sowohl auf Autoren- wie auf Verlegerseite aufgezeigt:

Erste emanzipatorische Bestrebungen in den Jahren von 1748 bis 1767/68 gingen von Klopstock in Kopenhagen, Gleim in Halberstadt und Lessing in Berlin aus. Sie warfen dem deutschen Buchhandel im wesentlichen vor, zu geringes Honorar zu bezahlen, im Bereich der Ausstattung und des Drucks der Bücher unsorgfältig zu sein, die Autorenrechte kaum zu beachten und allgemein den Literaturbetrieb nicht nachdrücklich genug zu fördern. (S.145)
Gerade die entstehende Nationalliteratur bietet die Gelegenheit, die kontrovers geführte Schrift-Debatte akzentuiert darzustellen. Denn einerseits wird mit dem Argument für die Verwendung der Antiqua geworben, daß hierdurch der Anreiz für ausländische Leser steigen würde, die deutsche Sprache zu erlernen und deutsche Literatur zu lesen; Befürworter der Fraktur können demgegenüber, ebenfalls unter Berufung auf die Bedeutung der "Nationalliteratur", argumentieren, die Fraktur unterstreiche noch den nationalen Charakter der deutschen Literatur. Killius läßt in diesem Zusammenhang viele Zeitgenossen zu Wort kommen - dadurch, daß die Meinungen der unterschiedlichsten Autoren, Verleger, Grammatiker mit unterschiedlichen, nämlich (gesellschafts- oder erziehungs-)politischen, (lese-)ökonomischen oder ästhetischen Argumenten, nebeneinander widergegeben werden, wird ein Überblick über die laufende Debatte allerdings erschwert.

Interessant sind die Darstellungen des Buchhandels aus verlegerischer Perspektive. Killius geht dabei von der "Rückständigkeit Deutschlands im wirtschaftlichen Bereich" (S.210) aus; unter dieser Perspektive erscheinen Verleger-Persönlichkeiten wie Friedrich Justin Bertuch aus Weimar, Johann Gottlob Immanuel Breitkopf aus Leipzig oder auch Johann Friedrich Unger aus Berlin nicht nur als engagierte und fortschrittlich denkende Unternehmer, sondern auch als Vorreiter der Industrialisierung Deutschlands. Diesen drei Verlegern widmet Killius denn auch besondere Aufmerksamkeit.

Eingehend dargestellt wird Ungers Engagement für die Verbesserungen von Schriften, seine Bemühungen um eine Genehmigung, die Schriften des französischen Schriftgießers Didot einzuführen, aber zum Beispiel auch dessen Entwicklung der "Unger-Fraktur". Göschen wird insbesondere wegen seiner Verdienste um drucktechnische Verbesserungen sowie wegen seines Engagements für die Antiqua-Ausgaben der deutschen Klassiker (vgl. die Ausgabe der "Sämmtlichen Werke" Wielands bei Göschen) ausführlich besprochen. Bertuch wird als vielseitiger Unternehmer vorgestellt, der nicht nur eine Druckerei, sondern auch eine Kunstanstalt und Illuminiererei, eine Schleifmühle zur Herstellung der benötigten Farbe und des Papiers führte, die 1791 zu einem "Industrie-Comptoir" zusammengefaßt wurden. (vgl. S.343).

Killius stellt Verleger wie auch Autoren um 1800 als ästhetisch, wirtschaftlich und weltanschaulich besonnene und kalkulierende Persönlichkeiten dar 5. So wird beispielsweise über Bertuch mehrfach wiederholt, er sei "kein verlegerisches Riskio" (381 et passim) eingegangen. Entscheidungen über die jeweils zu verwendende Schriftgattung fielen vorwiegend aufgrund der technischen Voraussetzungen (Papierqualität und -verfügbarkeit, Möglichkeiten der Schriftgießereien und -schneider etc.) aber auch aufgrund wirtschaftlich kalkulatorischer Überlegungen: oft wurde die eine Auflage eines Werkes in Antiqua, die andere hingegen in Fraktur gesetzt, da Autoren und Verleger damit rechneten, auf diese Weise ein breiteres Publikum zu erreichen. Ästhetische Argumente zur Schriftwahl werden um 1800 zum einen durch die Idee der Nationalliteratur beeinflusst - im Sinne des edlen Wettstreits der Nationen und der (typographischen) Konkurrenzfähigkeit mit dem Ausland wird dann der Antiqua der Vorzug gegeben - zum anderen durch den Mittelalterkult der Romantiker: hier wird die als "gotische" Schrift stilisierte Fraktur vorgezogen. Die eher ökonomische denn ästhetische oder weltanschauliche Perspektive spiegelt sich in der Haltung des Verlegers Bertuch deutlich wider:

Der weitaus größte Teil seiner Druckwerke erschien in der einem breiten Lesepublikum gewohnten Fraktur. Gemäß seiner pädagogischen Absicht, bereits Kinder an die Antiqua zu gewöhnen, ließ er sein 'Bilderbuch für Kinder' in der lateinischen Schrifttype setzen. Die 'Allgemeine Literatur-Zeitung', ein Rezensionsorgan für das gebildete Lesepublikum, erschien ebenfalls in Antiqua, während das populäre, weit verbreitete Modemaganzin 'Journal des Luxus und der Moden' oft sehr unsorgfältig in der gewöhnlichen gebrochenen Schrifttype gedruckt wurde. (S.359)
Auch wenn man sich wohl über die Ermahnungen der Mutter Goethes an diesen amüsieren mag, die die Fraktur mit der deutschen Sprache identifiziert - "Beym Römischen carneval da mags noch hingehen - aber sonst im übrigen bitte ich dich bleibe deusch auch in den Buchstaben [...]" (S.259) - fallen vergleichbare Äußerungen über weltanschauliche Semantisierungen im Antiqua-Fraktur-Streit von seiten des Buchhandels nur selten. Das kaufmännische Abwägen zwischen den Schriftgattungen, das für den Buchhandel um 1800 im Vordergrund steht, läßt nur wenig aufschlußreiche Annahmen zu der Debatte zu. Dieses Ergebnis ist im Grunde nicht überraschend. Will man etwas über den Schriftstreit erfahren, so wird man dort suchen müssen, wo er vermutlich ausgetragen wurde - kaum anzunehmen ist allerdings, daß dies in den verlegerischen Überlegungen der fortschrittlichsten Persönlichkeiten des Buchhandels dieser Zeit stattfindet.


Ein Buch zum Schmökern

Es ist wohl zugleich das Verdienst wie das Dilemma historischer Darstellungen, zu manchen Fragen keine eindeutigen Antworten, sondern nur eine Fülle von Einzeldaten liefern zu können. Das Verdienst der Arbeit von Killius ist dabei, das recherchierte Material nicht auf suggestive Weise so aufzubereiten, daß sich eine deutliche Tendenz in der Schrift-Debatte abzeichnet. Die Debatte um Antiqua und Fraktur kann, dies zeigt die Arbeit von Killius deutlich auf, nicht auf einige wenige, einander gegenüberstehende Argumente reduziert werden. Zumindest für den Zeitraum um 1800 kann man davon ausgehen, daß der Streit auf komplexen Niveau stattfand. Häufiger als eindeutige Positionen in dieser Debatte sind relativierte Haltungen, die die Bevorzugung der einen vor der anderen Schrift situativ entscheiden und von mehreren Faktoren abhängig machen.

Liefert aber die Geschichte keine plausiblen Gründe für die Darstellung klarer Dichtomisierungen der beiden Schriften, so zeigt sich um so dringlicher die Notwendigkeit, das vorhandene Material nach Ordnungskriterien zu selegieren und aufzubereiten, damit der Leser trotz vieler Bäume den Wald noch erkennen kann.

Die Schwierigkeiten, die die Lektüre der Arbeit von Killius bereitet, liegen in einer solchen Organisation. In der Überfülle historischer Daten und der Kompilation von Einzelaspekten und Einzelstimmen geht die Übersicht über die Entwicklung der Schriftdebatte verloren. Denn das Ordnungsprinzip des Buches ist der stets zwischen 'Fraktur' und 'Antiqua' abwechselnde Blick, unter dem verschiedene Fragestellungen linear-historisch abgehandelt werden; auf diese Weise ist der Leser gezwungen, innerhalb oft nur weniger Seiten die Entwicklungslinien bestimmter Aspekte über mehrere Jahrhunderte hinweg nachzuvollziehen. Dieses wenig abstrakte Ordnungsprinzip wirkt auch dort unübersichtlich, wo Entwicklungstendenzen skizziert werden. Ich fasse Beispiele aus einer Passage zusammen:

Die in Dichterkreisen rege begonnene Diskussion über die Verwendung der lateinischen Schrifttype für deutschsprachige Veröffentlichungen ebbte bald wieder ab. Erst in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts begann man erneut, sich intensiver mit typographischen Gestaltungsfragen zu beschäftigen. (S.170)

Wenn auch in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts einige Antiquaausgaben herauskamen, war doch die Diskussion über die Verwendung der Fraktur oder Antiqua für deutschsprachige Veröffentlichungen wieder verebbt. Erst in den achziger Jahren entflammte sie unter geänderten Vorzeichen erneut. (S.171)

Das eifrige Eintreten der Autoren für die Verwendung der lateinischen Type ebbte bald wieder ab. [...] Auch wenn seit den fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts immer wieder deutschsprachige Veröffentlichungen in Antiqua herausgegeben wurden, sollte die Schriftfrage erst wieder in den achziger Jahren eine Kontroverse entfachen. (S.184)
Zusammen mit der hierbei verarbeiteten Materialfülle wird dann häufig dort eine vertiefte Beschreibung unmöglich, wo eine solche wünschenswert wäre:
Wie bei den gotischen Kathedralen galt auch für diese Schrift [die frühgotische Minuskel, N.O.] das aufwärtstrebende Prinzip der Vertikalität. Zu der gotischen Minuskelschrift entstand in mehreren Entwicklungsschritten ein an frühere Vorbilder angelehntes Majuskelalphabet, das aber ein eigenes, an dem Schriftgeschmack der Zeit orientiertes Gepräge erhielt. (S.30)
Über die Bedeutung der Vertikalität, über den zeitgenössischen Schriftgeschmack oder über die Zeitdimension die mit "früher" wohl gemeint ist, erfährt der Leser aber nichts Näheres.

Die Studie ist daher eher ein Buch zum Schmökern: wer einen systematischen, schnellen Einstieg in die Debatte sucht, ist mit dieser Arbeit jedoch nicht gut beraten. Informationen werden häppchenweise verabreicht - eine systematische Gliederung ist m.E. nicht gelungen. Vielmehr nimmt Killius in jedem Kapitel einen erneuten Anlauf, einzelne Aspekte und Daten zur Debatte um Antiqua und Fraktur herauszuarbeiten, aus denen sich dann mosaikartig ein Gesamteindruck zusammenfügen soll.

Aufgrund des hier präsentierten, äußerst umfangreichen und sorgfältig recherchierten Materials, ist es um so bedauerlicher, daß der Arbeit eine theoretische Grundlage fehlt. Eine theoretisch fundierte und dadurch luzider strukturierte Bearbeitung des Materials würde auch die Lektüre erleichtern. Insbesondere bei der Zielsetzung, die Rekonstruktion der Schriftdebatte in einen gesamtgesellschaftlichen Rahmen zu stellen, wäre es sicher sinnvoll gewesen, hierzu relevante verfügbare Literatur, etwa von Friedrich Kittlers "Aufschreibesystemen" bis hin zu Siegfried J. Schmidts grundlegender Arbeit "Die Selbstorgansiation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert" 6 zu konsultieren.


Dr. Nina Ort
Institut für deutsche Philologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
Schellingstr. 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 28.04.2000.

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Anmerkungen

1 Vergleiche die instruktive Arbeit von Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 69). Tübingen: Niemeyer 2000.     zurück

2 Killius, Christine: Die Antiqua-Fraktur Debatte um 1800 und ihre historische Herleitung (Mainzer Studien zur Buchwissenschaft, Bd. 7) Wiesbaden: Harrassowitz 1999. Zitate aus der rezensierten Publikation werden im fortlaufenden Text durch Seitenangaben markiert.    zurück

3 Populärer als die Fraktur, die insbesondere als Auszeichnungsschrift verwendet wurde, war bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts die Schwabacher. Erst durch den Druck einer Lutherbibel um 1560 in Fraktur avancierte diese Schrift zur beliebtesten Textschrift. (vgl. S. 79)    zurück

4 Als weitere Kandidaten stünden beispielsweise, zumindest später, die Groteskschriften zur Verfügung.    zurück

5 Natürlich handelt es sich hierbei um einen exklusiven Kreis hervorragender Schriftsteller und Verleger. Auch die um 1800 vorübergehend ansteigende Popularität der Antiqua für 'klassische' Werke gilt also nur für ein recht kleines, elitäres Segment des Buchhandels.     zurück

6 siehe: Kittler, Friedrich A.: Aufschreibsysteme 1800/1900. 1. Aufl. 1985. 3., vollst. überarb. Aufl. München: Fink 1995. sowie: Schmidt, Siegfried J.: Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989.     zurück