Kindt über Vietta/Kemper: Germanistik der 70er Jahre

Tom Kindt

Siebzig verweht? Annäherungen an ein ereignisreiches Jahrzehnt germanistischer Literaturwissenschaft

  • Silvio Vietta / Dirk Kemper (Hg.): Germanistik der 70er Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie. München: Wilhelm Fink Verlag 2000. 344 S. Kart. DM 78,-.
    ISBN 3-7705-3538-3.


Nietzsche zufolge handelt es sich bei Historikern um Menschen mit einer "angeborenen Grauhaarigkeit", deren Bestreben es sei, schon die Gegenwart als Geschichte zu sehen, sie "durch analytische Betrachtung am Weiterwirken zu hindern und [...] endlich zur >Historie< abzuhäuten". 1 Zumindest den Historikern, die sich mit der Geschichte der Germanistik beschäftigen, läßt sich dies nicht vorwerfen. Seit ihrer Abkehr von der Ideologiekritik vor rund zehn Jahren hat die germanistische Wissenschaftsgeschichtsschreibung ihre Aufmerksamkeit zwar auf viele Phasen und zahlreiche Aspekte der Entwicklung des Faches ausgeweitet; dessen jüngste Vergangenheit wurde dabei jedoch zumeist taktvoll ausgespart. Selbst eine für die Geschichte der Germanistik – wie auch für die ihrer Historiographie – so wichtige Phase wie die 1970er Jahre blieb ein Vierteljahrhundert wissenschaftshistorisch so gut wie unberücksichtigt. Der von Silvio Vietta und Dirk Kemper herausgegebene Band Germanistik der 70er Jahre. Zwischen Innovation und Ideologie, der die Vorträge einer im Herbst 1998 an der Universität Hildesheim veranstalteten Tagung präsentiert, unternimmt nun erstmals den Versuch einer umfassenderen Untersuchung jenes fachgeschichtlich ereignisreichen Jahrzehnts.

Von Vorschlägen,
Vereinnahmungen und "Verwerfungen"

Der Sammelband nähert sich der Germanistik der 70er Jahre in zwölf Beiträgen von recht unterschiedlicher Länge, 2 die sich zwei thematischen Blöcken zuordnen lassen: Die ersten sechs Aufsätze geben einen Überblick über die Fachgeschichte im Untersuchungszeitraum, über konzeptionelle und institutionelle Entwicklungen der Germanistik, über ihre Stellung im Wissenschaftssystem und ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit; in den weiteren sechs Beiträgen werden diese allgemeinen Darstellungen durch detailliertere Rekonstruktionen zu einzelnen Themen und Formen der Literaturforschung illustriert und konkretisiert.

Eingeleitet wird der Band von Silvio Vietta, der durch die Untersuchung materialistisch ausgerichteter Literaturgeschichten und die Auswertung der Lehrpläne der neugegründeten Universitäten in Westdeutschland zu zeigen versucht, zu welchen "Kanon- und Theorieverwerfungen" (S. 9) die Ideologisierung der Germanistik geführt habe. Der anschließende Beitrag Rolf Grimmingers stellt die Entwicklung im Untersuchungszeitraum in einen größeren fachgeschichtlichen Zusammenhang; als entscheidende "Hinterlassenschaft" der Literaturwissenschaft der 70er Jahre ist nach Grimminger der stete Wechsel von Krisenstimmung und Innovationsanstrengung anzusehen, der seit etwa einem Jahrzehnt mit einem "Öffentlichkeitsverlust" (S. 65) des Faches einhergehe. Eine nicht historische, sondern "staatliche" Ausweitung des Blickfeldes liegt der Untersuchung Rainer Rosenbergs zugrunde; sie versucht, die theoretischen Debatten in der west- und der ostdeutschen Literaturwissenschaft in ihren Beziehungen und Eigenheiten zu charakterisieren.

Die Beiträge von Bernd Zymek, Jürgen Mittelstrass und Manfred Briegel ergänzen die Selbstbesichtigungen der Literaturwissenschaft um Außenansichten des Faches: Zymek zeichnet nach, wie sich die Zahl der Germanistikstudierenden, -dozenturen und -professuren in den 70er Jahren entwickelt hat, um zu dem Ergebnis zu gelangen, daß die Disziplin seinerzeit "beispiellos >einflußreich< " (S. 102) gewesen sei. Mittelstraß erinnert an Vorschläge jenes Jahrzehnts, die Erneuerung der Wissenschaft durch eine Reform der Universität zu realisieren; in diesen Versuchen sieht er heutige Anstrengungen vorgebildet, die "wissenschaftsfeindliche [...] Struktur" (S. 139) der Hochschulen durch transdisziplinäre Kooperationen zu überlisten, die für ihn den Weg zu einer neuen – nicht wissens-, sondern forschungsbezogenen – Einheit der Universität weisen (s.S. 143). Und Briegel beschreibt die Entwicklung der Instrumentarien zur Forschungsförderung, die mit den radikalen Veränderungen des Bildungssystems in den 70er Jahren einherging, von den konzeptionell so agilen Vertreter(inne)n der Literaturwissenschaften aber erst mit einiger Verzögerung angenommen wurde.

Die exemplarisch ausgerichteten Studien eröffnet Dirk Kempers Beitrag zur wissenschaftlichen Goethe-Rezeption im untersuchten Dezennium; in der intensiven Auseinandersetzung, zu der Goethe auch in den 70er Jahren herausforderte, macht Kemper das wissenschaftsrevolutionäre Bemühen aus, die Deutungshoheit über den Gegenstand zu gewinnen, an dem das Fach sein methodisches und gesellschaftliches Selbstverständnis einst ausgebildet und nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergewonnen habe. Ähnliche ideologische Vereinnahmungsversuche zeigen die Aufsätze von Bernhard Böschenstein und Walter Schmitz in der Hölderlin- und der Büchner-Forschung auf. Böschenstein weist darauf hin, daß die innovative Literaturwissenschaft der 70er Jahre zumindest an der germanistischen Tradition festhielt, Hölderlin zum "Verkünder [des] jeweiligen Zeitgeistes" (S. 202) zu stilisieren. Und Schmitz arbeitet am Beispiel Büchners heraus, mit welchen Strategien und Instrumenten sich eine neue Sicht auf einen alten Gegenstand etablieren und legitimieren läßt, indem er diesen Vorgang aus dem Zusammenspiel von "fachlicher", "studentischer" und "kulturell interessierter Öffentlichkeit" zu erklären sucht (S. 222f.). Die Brecht-Forschung des Untersuchungszeitraums war, so führt Detlev Schöttker aus, demgegenüber nicht durch einen Bruch mit der Vergangenheit gekennzeichnet; mit der Korsch-Kontroverse, der Brecht-Lukács-Debatte und der Lehrstück- Diskussion führte man hier Auseinandersetzungen der 60er Jahre weiter, die der "Feinabstimmung" innerhalb des Spektrums kritischer Literatur und Literaturwissenschaft dienten.

Auf die rezeptionsgeschichtlichen Fallstudien folgen abschließend zwei Skizzen zu Umgangsweisen mit Literatur: Dagmar von Hoff zeichnet die Entstehung der feministischen Literaturwissenschaft und ihre Differenzierung in verschiedene Forschungsrichtungen nach, und Reinhard Baumgart sucht am Beispiel seiner selbst die Literaturkritik der 70er Jahre zu charakterisieren.

Zwischen Beteiligung und Beobachtung

Es muß wohl nicht betont werden, daß ein Vorstoß in fachgeschichtliches Neuland, wie ihn der vorliegende Sammelband wagt, nur Ansätze und Anregungen zu liefern vermag. Selbstverständlich ist die Diskussion zur Germanistik in den 70er Jahren, wie die Herausgeber einleitend erläutern, "noch unabgeschlossen und offensichtlich kontrovers" (S. 7). Die Uneinheitlichkeit der Beiträge läßt sich weitestgehend durch die Publikationsform des Sammelbands rechtfertigen, viele Vorläufigkeiten und Unausgewogenheiten in der Auswahl und Bearbeitung der Themen durch den Mangel an Vorarbeiten entschuldigen.

Doch wie ein vergleichender Blick auf die fachgeschichtliche Forschungslage einige Schwächen der Beiträge verzeihlich erscheinen läßt, so läßt er andere erst hervortreten: Während der Sammelband nämlich historisch über den gegenwärtigen Stand der germanistischen Wissenschaftsgeschichte zumeist hinausgeht, bleibt er historiographisch oft hinter ihm zurück. Mag die Geschichtsschreibung zur Literaturwissenschaft auch von einem einheitlichen Programm oder gar einer ausgereiften Konzeption noch immer weit entfernt sein, so liegen doch mittlerweile eine Reihe von beachtenswerten theoretischen Überlegungen und praktischen Beispielen zu dem Problem vor, wie und zu welchem Zweck die Geschichte historisch-philologischer Disziplinen geschrieben werden sollte. Vor allem in den Beiträgen von Repräsentanten der untersuchten Wissenschaft hat dies jedoch – von gelegentlichen institutionengeschichtlichen Exkursen einmal abgesehen – kaum Spuren hinterlassen.

Welche Gefahren eine Historie mit sich bringt, die für Fragen der Historiographie kaum Interesse aufbringt, kommt beispielhaft in dem Gebrauch von Thomas S. Kuhns bekanntem Begriff des "Paradigmas" zum Ausdruck, der viele Beiträge des Bandes prägt. Entscheidend ist dabei nicht, daß hier bedenkenlos auf ein Konzept zurückgegriffen wird, dessen Verwendung in der Historiographie der Naturwissenschaften ebenso grundlegend kritisiert worden ist wie seine Übertragung auf die Geschichtsschreibung zu den Geisteswissenschaften. 3 Die Verwendung des Kuhnschen Begriffs ist vielmehr deshalb als symptomatisch anzusehen, weil sie auf einen Mangel an Distanz zum Objekt der Untersuchung hinweist: Mit dem Begriff des "Paradigmas" wird eine Kategorie zur historischen Rekonstruktion genutzt, die seit der untersuchten Zeit zugleich der rhetorischen Selbstinszenierung literaturwissenschaftlicher Richtungen dient.

In ähnlicher Weise wird in den Beiträgen des Bandes die Grenze zwischen Beobachtung und Beteiligung häufiger undeutlich, gehen wissenschaftshistorische Rekonstruktionen in schlichte Forschungsberichte über und werden die Debatten der 70er Jahre nicht untersucht, sondern weitergeführt. Vietta etwa hält der materialistischen Literaturtheorie noch immer vor, daß sie "die Literatur selbst" (S. 30) und mithin den Gegenstand des Faches verfehle, und Böschenstein sieht sich nach wie vor genötigt, den einstigen politischen Interpretationen von Hölderlins Hymne Der Rhein eine philologisch genauere Lektüre gegenüberzustellen (S. 209f.).

Desiderata

Die Fortsetzung vergangener Debatten ist zweifellos der deutlichste, keineswegs jedoch der einzige Ausdruck einer mangelnden Distanz zum Untersuchungsgegenstand. Subtiler zeigt sich die Befangenheit einiger Beiträger(innen) in einer Form von Wissenschaftsgeschichte, in der all das ausgeblendet oder doch vernachlässigt wird, was sich nicht auf der Ebene der fundamentalistischen Kontroversen zwischen Richtungen wie dem Strukturalismus, der Sozialgeschichte, der Rezeptionstheorie oder der marxistischen Literaturwissenschaft abgespielt hat. Das gilt für generelle Entwicklungstendenzen wie die Versuche einer Verwissenschaftlichung der Disziplin ebenso wie für spezielle Veränderungen in Bereichen wie der Erzähl-, Gattungs- und Editionstheorie. 4 Es betrifft zugleich viele der Aspekte der Wissenschaft und ihrer Entwicklung, deren Untersuchung seit einigen Jahren unter dem Begriff der "Wissenschaftsforschung" 5 zusammengefaßt wird: So fehlt es an Aufmerksamkeit für den Wandel der sozialen Aspekte geisteswissenschaftlicher Forschung, der Organisations- und Kommunikationsformen, der Arbeits- und Darstellungsweisen des Faches. Nur unzureichend wird schließlich auch der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen erhellt, obgleich die Herausgeber in ihrer Vorbemerkung noch ausdrücklich darauf hinweisen, daß "die Krisensituation der Germanistik der siebziger Jahre symptomatisch für die kulturgeschichtlichen Umbrüche jener Zeit" (S. 7) sei.

Ausblick:
polyperspektivische Wissenschaftsgeschichte

Auf welche Weise und vor allem mit welchem Gewinn sich diese wissenschaftshistorischen Problemstellungen berücksichtigen und überdies miteinander verknüpfen lassen, deutet sich in Schmitz' Beitrag zur Büchner-Forschung der 70er Jahre an, der statt der Aufbereitung vergangenen Wissens eine Bestimmung der genauen Bedingungen seiner Entstehung, Etablierung und Legitimierung zu liefern versucht. Sein Vorschlag, die Umbrüche der Büchner-Kritik aus der Interaktion verschiedener "Öffentlichkeiten" (s.o.) zu erläutern, 6 führt nicht nur material, sondern auch konzeptionell über den gegenwärtigen Stand germanistischer Fachhistoriographie hinaus. Indem Schmitz das Bild einer polyperspektivischen Wissenschaftsgeschichte entwirft, die sich gleichwohl nicht mit dem Zusammentragen disparater Ergebnisse begnügen will, zeigt er die Richtung an, in der die im vorliegenden Band geleisteten Vorarbeiten weitergeführt werden sollten.


Tom Kindt
Forschergruppe Narratologie
Institut für Germanistik II
Von-Melle-Park 6
D-20146 Hamburg

Ins Netz gestellt am 08.05.2001

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Anmerkungen

1 Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. In: F.N.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2. Aufl. München: dtv 1988, S.243-334, hier S.305.   zurück

2 Die längste Untersuchung umfaßt 48 Seiten, die kürzeste 15.   zurück

3 Vgl. dazu noch immer Kurt Bayertz: Wissenschaftstheorie und Paradigmabegriff. Stuttgart: Metzler 1981. Zur Übertragung des Begriffs auf die Geschichtsschreibung zu den Geisteswissenschaften vgl. Lutz Danneberg/Jörg Schönert: Belehrt und verführt durch Wissenschaftsgeschichte. In: Petra Boden/Holger Dainat (Hg.): Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwissenschaftlichen Germanistik im 20. Jahrhundert. Berlin: Akademie Verlag 1997, S.13-57, hier S.41: "Die notorische Vagheit und Unschärfe zentraler Begriffe der 'neuen' Wissenschaftstheorie haben sie für eine breite Verwendung gerade für Disziplinen prädestiniert, mit denen sie zunächst wenig zu tun haben, in denen jedoch unstillbare Theorie-Sehnsucht durch Slogans befriedigt zu werden pflegt – wie etwa in den Literaturwissenschaften."   zurück

4 Zu diesen verschiedenen "Ebenen" der Wissenschaftsentwicklung vgl. Hans-Harald Müller: Identitätsstiftung und Traditionskritik. Die konstruktiven Aufgaben einer Geschichte der Germanistik. In: Frankfurter Rundschau, Nr. 200 (29.8.2000), Forum Humanwissenschaften, S.20.   zurück

5 Zur Wissenschaftsforschung der Geisteswissenschaften vgl. Peter J. Brenner (Hg): Geist, Geld und Wissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 sowie jetzt Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung. DFG-Symposion 1998. (Germanistische Symposien, Berichtsbände XXI) Stuttgart, Weimar: Metzler 2000.   zurück

6 Ähnlich schon in Walter Schmitz: Legitimierungsstrategien der Germanistik und Öffentlichkeit. Das Beispiel "Kriegsgermanistik". In: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. 1910 bis 1925. Frankfurt/M.: Fischer 1993, S.331-339. Zum Problem einer "öffentlichkeitstheoretischen Betrachtung" der Germanistik vgl. auch Malte Stein/Tom Kindt: Zum Wandel germanistischer Reflexionsöffentlichkeit. Entwicklung eines Analysemodells. In: Werner Faulstich/Knut Hickethier (Hg.): Öffentlichkeit im Wandel. Neue Beiträge zur Begriffsklärung. (IfAM-Arbeitsberichte, Bd. 18) Bardowick: Wissenschaftler-Verlag 2000, S.296-312.   zurück