Köhler über Hey'l: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter - Preprint

Astrid Köhler

Bettina Hey’l: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. Lebenskunst und literarisches Projekt. (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 81) Tübingen: Niemeyer 1996. 167 S. Kart. DM 54,-.



Wissenschaftliches Schattendasein des Briefwechsels

Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit einer Korrespondenz, die - so Bettina Hey’l - in der bisherigen Rezeptions- und Editionsgeschichte eher stiefmütterlich behandelt wurde. Besonders auffällig sei das im Vergleich mit dem Goethe-Schillerschen Briefwechsel und mit Eckermanns Gesprächen mit Goethe, zwei Publikationen, die im gleichen Zeitraum erschienen waren. Die Ursache dafür sieht Hey’l im Zusammentreffen eines »gattungstheoretischen und eines persönlichen Präjudiz« (S.10). Gattungstheoretisch meint, daß einem Briefwechsel mit seiner heterogenen Textqualität, der Vielfalt der Anlässe, Situationen und Tonlagen des Schreibens selten ein Werkcharakter zugeschrieben werde. Ein Blick auf die Forschungslandschaft bestätige das: »Nach wie vor ist die Briefforschung nur ausnahmsweise Briefwechselforschung« (S.11). Persönlich meint hier Zelters Reputation als mediokerer Komponist, der zudem seinen Maurerberuf nie abgelegt hat. Beides kombiniert sich dann zur Annahme, daß »der Dichterfürst Goethe und der Handwerker Zelter« »zu unterschiedlich« (S.11) gewesen seien, um in ihrer Korrespondenz eine gewisse inhaltliche und formale Kohärenz erkennbar werden zu lassen.1 Somit verwundere nicht, daß sich die Editions-2 und Rezeptionsgeschichte dieses Briefwechsels zu einem Gutteil auf die Wahrnahme des Goetheschen Anteils und da wiederum auf das ‘Herauspicken’ der ‘schönen’ und ‘literarisch wertvollen’ Stellen beschränkt.

Autobiographie und Literarische Anthropologie

Erwartungsgemäß nimmt Bettina Hey’ls Buch einen Bruch mit dem beschriebenen Vorurteilskomplex und ein Anschreiben dagegen für sich in Anspruch. Und in der Tat präsentiert sich die Arbeit in erster Linie als Aufwertungs- und Rettungsversuch dieses Briefwechsels: Aufwertung vom Ruf des unstrukturierten, den Zufällen des Lebens unterworfenen Zwiegesprächs zum bewußt entwickelten Medium von Selbst- und Welterkenntnis. Rettung des Zelterschen Anteils daran aus Ignoranz und Geringschätzung. Diesem Anspruch wird das Buch durchaus gerecht. Etwas aufgesetzt wirkt dagegen die Behauptung, dies auf der Grundlage neuerer Forschungen zur Autobiographie und Anthropologie zu tun.

Es ist die Goethe brennend interessierende Frage nach der erfolgreichen Umformulierung des Biologischen ins Biographische, die anthropologische Frage nach dem, was sich von der Natur des Menschen in Worten überliefern läßt. Goethe und Zelter sind dieser Frage gemeinsam jahrzehntelang nachgegangen; ihr Briefwechsel - das wird hier vorausgesetzt - zeugt davon, daß sie es nicht vergeblich getan haben (S.5),

schreibt Bettina Hey’l. Nun hätte sie eben das wohl nicht voraussetzen, sondern beweisen sollen, oder - und auch das hätte dem Buch durchaus wohlgetan - dem     »Modewort«3 ‘Literarische Anthropologie’ schlicht widerstehen mögen. Zweifellos ist der Arbeit eine anthropologische Perspektive inhärent, aber nur insofern diese aus gegenwärtiger Literaturwissenschaft ohnehin kaum wegzudenken ist. Besonders die Einleitung des Buches ist dagegen gespickt mit anthropologischer Hardcore-Terminologie, die für die Textarbeit selbst dann kaum relevant wird.4 Neben dem autobiographischen Aspekt sind es die Dialogizität und Prozessualität des Goethe-Zelterschen Briefwechsels, die hier vor allem verhandelt werden. Im Kapitel »Die Symbolik eines Goethebriefes im Kontext« arbeitet die Verfasserin an einem der bekannteren Texte des Briefwechsels: Goethes Brief an Zelter zum Tod des Großherzogs Karl August im Juli 1828. Hey’l entwickelt ihre Interpretation im Bezug auf eine Arbeit von Albrecht Schöne, die sie in vielfacher Hinsicht als vorbildlich versteht.5 Schöne liest Goethes Beschreibungen der Dornburger Landschaft (denn dort wurde der Brief verfaßt) auf der Folie seiner Farbenlehre und kann auf diese Weise Goethes Flucht vor den Trauerfeierlichkeiten um Karl August in Weimar als Bekenntnis zum tätigen Leben und zum Angedenken an einen Toten über die fortdauernden Resultate seiner Lebenstätigkeit begreifen. Der Brief wird hier sowohl als ein in sich geschlossenes Kunstwerk als auch als Teil des Goetheschen Gesamt(kunst)werkes gesehen. Hey’l möchte die inhärente Auffassung vom monologischen Charakter des Briefes aufbrechen und statt dessen seine Dialogizität nachweisen. Auf der Ebene des historisch-biographischen Kontexts gelingt ihr das durch Verortung der Lebenssituationen von Absender und Adressat in der Geschichte der Goethe-Zelterschen Freundschaft. Mittels Text- und Situationsvergleichen über den gesamten Briefwechsel hinweg gelangt sie zu dem Ergebnis: »Zelters Anteil an diesem Brief ist also gesichert, lange bevor er ihn in Händen hält und liest« (S.32).

Goethes Symbolik, Zelters Humor - Mitteilungen vom Tod

Goethes Symbolik wird im Folgekapitel Zelters Humor gegenübergestellt. Die Betrachtung mehrerer Mitteilungen Zelters von Todesfällen in seiner Umgebung zeigt dessen Neigung zur kurzen, streng organisierten Erzählform, sehr oft - und darin macht Hey’l den Humor fest - der Anekdote. Die Verfasserin führt uns eine Reihe solcher Anekdoten, geordnet nach ihrer »Literarität« (S.54) vor. Das Ordnungsprinzip erscheint mir eher fragwürdig (und im Kontext anthropologischer Betrachtung im übrigen wenig relevant); entscheidend aber ist, daß die Textpassagen desto straffer und geformter daherkommen, um so weniger der jeweils berichtete Tod Zelter selbst betrifft bzw. zur Gefahr werden kann. Der Charakter des Anekdotischen nimmt spürbar ab, wenn der Tod auch an Zelters Tür zu klopfen droht (so während der Choleraepidemie in Berlin im Jahre 1831) und erhebt sich dann zur Meisterschaft, wenn von Fällen berichtet wird, in denen das Leben den Tod noch einmal besiegt hat. Ganz eigener Art und durchaus nicht in die vorgegebenen Schemata passend ist Zelters Traumerzählung, mit der er das Ende der Choleraepidemie beschreibt:

Der Tod aber will seine Ursache haben wie das Leben. Bin ich ja selber in dieser Nacht der Todesgefahr nur ganz wunderbar entgangen. Mir träumte: es sollten alle gehängt werden, die des Diebstahls angeklagt worden. Eine Menge Exekutionen waren abgetan, und nun kam es an mir. Meine Ankläger wurden aufgerufen, ihre Anklage zu wiederholen und zu bekräftigen: diese aber hingen schon.6

Hey’ls Interpretation, der Brief zeige »die überstandene Angst als psychophysisches Phänomen und ihre metaphorisch-sprachliche Einkleidung als Selbsttherapie« (S.62), scheint mir zu eindimensional. Diese Traumszene (von wahrhaft moderner ‘Literarität’) artikuliert die einander widersprechenden Gefühle der Befreiung nach überstandener Gefahr und der anhaltenden Omnipräsenz des Todes als zusammengehörig.

Hey’l zeigt mehrere Fälle auf, in denen Goethes Antwortschreiben sich nicht auf den berichteten Tod selbst, sondern auf die Textverfaßtheit von Zelters Bericht beziehen. Im Wechsel der Briefe wird die Erfahrung existentieller Bedrohung in literarische Produktivität verwandelt. Konsequent verweist die Verfasserin hier auf eine Beobachtung Goethes nach einem Zelterschen Besuch:

Wir wollen uns hierüber so ausdrücken: der Abwesende ist eine ideale Person, die Gegenwärtigen kommen sich einander ganz trivial vor. Es ist ein närrisch Ding, daß durch das Reale das Ideellle gleichsam aufgehoben wird; daher mag es denn wohl kommen, daß den Modernen ihr Ideelles nur als Sehnsucht erscheint.7

Abwesenheit wird hier als Voraussetzung für Korrespondenzqualität benannt.

Pläne der Autoren zur Veröffentlichung des Briefwechsels

Die Veröffentlichung des Briefwechsels wurde von seinen Autoren selbst seit 1824 beabsichtigt und vorbereitet. »Der Prozeß«, schreibt Hey’l, »der die Korrespondenz zum autobiographischen Werk qualifizieren soll, ist also in den Briefen mit dokumentiert« (S.24). Dafür bringt sie detaillierte Nachweise. Das Verhältnis von Publikations- und Erkenntnisinteresse der Autoren (»die anthropologische Frage nach dem, was sich von der Natur des Menschen in Worten überliefern läßt« S.5) bedürfte jedoch einer intensiveren Diskussion. Wo koinzidieren, wo widersprechen beide Intentionen einander und warum?8 Hinzu kommt ein Drittes: Goethe hat die Herausgabe des Briefwechsels intensiv vorbereitet, letzte Instanz war freilich nicht er, sondern Famulus Riemer.

Goethe besorgte selbst, in Gemeinschaft mit dem Herausgeber, die Durchsicht und Collationierung der Abschrift nach dem Original, deutete vorläufig mehreres an, was entweder ganz wegfallen, oder wenigstens gemildert werden sollte; anderes jedoch, und nicht der kleinste Theil, sollte dem Ermessen des Herausgebers, nach Zeit und Umständen, anheimgestellt bleiben.9

Die Textabwandlungen und -selektionen nicht nur der Autoren, sondern auch des Herausgebers haben womöglich Eingriffe in die Korrespondenz verursacht, die das überlieferte Textkorpus selbst betreffen und damit auch durch akribischste Neueditionen nicht zu kompensieren sind. Die Lektüre des Briefwechsels als »Autobiographik in Dialogform« (S.63) läßt einen Vergleichsbedarf mit anderen autobiographischen Textformen entstehen, dem nur ansatzweise entsprochen wird.

Altersbriefwechsel - Reflexionen über den Tod

Zurecht wird unter dem Blickwinkel der Autobiographik der Charakter des Altersbriefwechsels betont. Hauptthemen der Korrespondenz sind denn auch das Altern, der Tod und das Bewußtsein von der Unzeitgemäßheit der eigenen Existenz, die ihre Wurzeln in einer vergangenen historischen Epoche hat. Sehr überzeugend wird die Bedeutung von Schillers Tod 1805 nicht als Initial-, wohl aber als Intensivierungsmoment für Freundschaft und Korrespondenz Goethes und Zelters herausgestellt. War Zelter in dieser Situation eine enorme Stütze für Goethe, so wurde dieser nach dem Selbstmord von Zelters Stiefsohn 1812 jenem zum Halt. Das Band zieht sich fort über die Tode Christianes und Augusts von Goethe, von Zelters Frau, aber auch zahlreicher Freunde und Bekannter in Weimar, Berlin und anderswo. Auf den ersten Blick, so Bettina Hey’l, fallen Zelters Pragmatik und Goethes schon sprichwörtliche Neurose dem Tod gegenüber ins Auge. Gemeinsam sei beiden Männern aber die Entfaltung rastloser Tätigkeit im Angesicht des Todes sowie die »Stimmung des Befremdens und der Entrückung fast mehr als der Trauer« (S.48).

Man darf sich daher über das Ausmaß der Unterschiede im Verhalten nicht täuschen; wenn Zelter im Briefwechsel den Tod unerschrocken, ja, dreist benennt, so handelt es sich um Abwehr so gut wie bei Goethes Verdrängung. Der eine leugnet [Hervorhebung AK]10 durch Besprechen, der andere durch Verschweigen (S.48).

Trotz mancher offener Fragen gehören diese Abschnitte zu den überzeugendsten des Buches.

Anthropologie

Deutlich mangelt es dem letzten Kapitel: »Die Sprache der Natur und Kunst. Zur Anthropologie des Briefwechsels« (S.135-159) an Kohärenz. Der Anspruch desselben ist freilich sehr hoch gesetzt:

Das Natürliche [wird hier] gedacht als ein latentes Strukturprinzip. Wenn das Individuum der phänomenalen Natur zugerechnet wird, so manifestieren sich in ihm folgerichtig auch die Prozesse, die dem Naturkonzept analog sind (S.141).

Zunächst wird anhand zahlreicher Beispiele Natürlichkeit im Sinne von Leiblichkeit im Zelterschen Sprachgebrauch nachgewiesen. Das genau sei es, was Goethe so an Zelters Briefen fasziniere.11 Es fällt auf, daß in diesem Zusammenhang kein Vergleich mit dem Goetheschen Sprachgebrauch vorgenommen und also das Prinzip der Dialogizität methodisch gebrochen wird. Etwas angehängt wirkt das Nachdenken Bettina Hey’ls »über die Mittlerstellung der Stimme und der Sprache zwischen Geist und Körper« (S.141) anhand von Briefen beider Korrespondenten, die sich mit der lautlichen Qualität von Sprache beschäftigen. Auch die Zwischenstellung des Briefes selbst zwischen gesprochenem und geschriebenem Sprachgebrauch wird lediglich angerissen.

Im Ganzen haben wir es mit einem Buch zu tun, das alle Chancen hat, den Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter aus seinem Schattendasein in der Goetheforschung heraus, in eine neue, interessante Diskussion zu bringen. Die Autorin leistet gewinnbringende Textarbeit, verfolgt ihren Ansatz allerdings eher sporadisch als konsequent. Durchgängig waltet eine gewisse Oberflächlichkeit, hinter der sich einiger Reflexionsbedarf verbirgt.


Dr. Astrid Köhler
Queen Mary and Westfield College, University of London
Mile End Road
London E1 4NS
England

Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 28.06.1999.

Copyright © by the author. All rights reserved.


Auf der Liste neuer Rezensionen und der alphabetisch geordneten Liste weiterer Rezensionen finden Sie andere Besprechungen, die als Preprint zugänglich, im Druck aber noch nicht erschienen sind.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASL rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | Neue Rezensionen | Weitere Rezensionen ]




Anmerkungen

1 »Während der Gleichberechtigung Goethes und Schillers die Form des Briefwechsels wohl ansteht und Eckermann mit der Gesprächsform großes Geschick im Umgang mit dem Überlegenen bewies, schlägt der Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter den für den Leser unbequemen Mittelweg [...] ein.« Hey’l, S.11.   zurück

2 Hey’l bezieht sich neben den einschlägigen wissenschaftlichen Ausgaben von Goethes Werken auf die Briefwechseleditionen von Gerhard Fricke, Nürnberg: Carl 1949. Werner Pfister, Zürich, München: Artemis 1987, Hans-Günter Ottenberg, Leipzig:Reclam 1887. Ludwig Geiger, Leipzig: Reclam 1902-1904. Max Hecker, Leipzig: Insel 1913-1918. Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin: Duncker und Humblot 1833/34.   zurück

3 Vgl. Helmut Pfotenhauer in Hans-Jürgen Schings: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994, S.555.   zurück

4 In krassem Widerspruch dazu steht z.B. auch die Dürftigkeit der Literaturverweise: Hey’l gibt lediglich zwei Standardwerke an, Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte - am Leitfaden des Leibes. Stuttgart: Metzler 1987, sowie Hans-Jürgen Schings (Hg.) (Anm. 3). Zumindest Wolfgang Riedels Überblick: »Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. Skizze einer Forschungslandschaft.« In: IASL Sonderheft 6 (1994), S.93 - 157, hätte einer Fußnotenerwähnung verdient, erweist er sich doch als ausgesprochenen sachdienlich.   zurück

5 Albrecht Schöne: »Regenbogen auf schwarzgrauem Grunde.« Goethes Dornburger Brief an Zelter zum Tod seines Großherzogs. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins Bde. 81-83 (1977-79), S.17-35.   zurück

6 Zelter an Goethe vom 14. Februar 1832. Zitiert bei Hey’l, S.62.   zurück

7 Goethe an Zelter vom 19. Oktober 1829. Zitiert bei Hey’l, S.55.   zurück

8 Vgl. hier die Beiträge Ursula Geitners und Stefan Goldmanns in Hans-Jürgen Schings (Hg.) (Anm. 3), S. 629-659 und 660-675.   zurück

9 Friedrich Wilhelm Riemer (Hg.): Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1796 bis 1832. Erster Theil, die Jahre 1796 bis 1814. Berlin: Duncker und Humblot 1833. Vorbericht des Herausgebers, S.VIII.   zurück

10 Derartige Ungenauigkeiten in der Benennung treten im Buch gehäuft auf; in diesem Fall war es doch das Anliegen der Verfasserin zu zeigen, wie der Tod thematisiert, nicht etwa daß er geleugnet wird.   zurück

11 »Um die Präsenz des Körperlichen, die als Garant gegen Ideologie und Entfremdung angesehen wird, ist es Goethe offenbar zu tun, wann immer er sich der Familie und Bekannten gegenüber begeistert über Zelters Briefe äußert« (S.144).   zurück