Jörg Krämer
Michael Walter: "Die Oper ist ein Irrenhaus." Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar: Metzler 1997. VIII, 360 S. Geb. DM 78,-.
Die Opernforschung, lange Jahre ein wenig bearbeitetes Gebiet im Grenzbereich von Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft, kommt allmählich, je mehr die eng gefaßten Fachgrenzen der akademischen Disziplinen durchlässiger werden, in Bewegung. Die Erkenntnis, daß die Oper lange Zeit in der Theaterpraxis die einflußreichste und wirkungsvollste dramatische Gattung bildete, ohne die auch z.B. ein Verständnis der >Sprechdramatik< und ihrer Bedingungen nur unvollständig möglich scheint, zeichnet sich allmählich auf breiterer Ebene ab.1
Die Situation der heutigen Forschung ist dabei durch gravierende Defizite der älteren Vorarbeiten gekennzeichnet. Während sich die (deutsche) Musikwissenschaft der Oper überwiegend im Sinne einer als autonom postulierten Kompositionsgeschichte näherte, galten Opernlibretti in der deutschen Literaturwissenschaft lange als ästhetische minderwertige Gebrauchskunst, deren Erforschung nicht lohnenswert erschien.2 Auch soziologisch wurde die Oper, die meist undifferenziert als Luxusspielzeug konservativer Oberschichten begriffen wurde, kaum erforscht. Bis heute bestehen daher große Lücken in der Erforschung der außermusikalischen Faktoren, die das multimediale Phänomen der Oper bestimmen.
Diese Forschungslücke geht jetzt der Musikwissenschaftler Michael Walter mit einem ausdrücklich sozialgeschichtlich ausgerichteten Überblick über die Mechanismen des Opernbetriebs im 19. Jahrhundert an - und widmet sich damit einem Bereich, der gerade in der deutschen Opernforschung bisher weitgehend vernachlässigt wurde. Der Band ist weniger auf eine enge wissenschaftliche Fachöffentlichkeit konzipiert, sondern richtet sich (auch in der Aufmachung und Verlagsstrategie) an eine breitere Leserschicht.
Daraus erklärt sich, daß Walter eher auf einen zusammenfassenden Überblick über den bisherigen Forschungsstand zur Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert zielt als auf die Entwicklung neuer Perspektiven oder auf methodische Reflexion. Dies ist angesichts der problematischen Ausgangsposition als legitim anzuerkennen, führt aber insgesamt dazu, daß Walter mehr die unbefriedigenden Forschungsstände abbildet, als daß er Forschungslücken schlösse.
Walter beschränkt seinen Band auf die Opernkultur in drei Sprachräumen: Italien, Frankreich und Deutschland. Als pragmatische Begrenzung kann man dies akzeptieren, da es sich bei diesen drei Kulturräumen um die operngeschichtlich entscheidenden des 19. Jahrhunderts handelt. Allerdings ist schade, daß gerade das im späten 19. Jahrhundert so wichtige Aufkommen der Oper in den anderen europäischen Kulturen, das Spannungsfeld zwischen Nationalisierung und Europäisierung, überhaupt keine Erwähnung findet. Die unterschiedlichen Außenwirkungen der italienischen, französischen und deutschen Oper wären auch sozialgeschichtlich einen Blick wert gewesen.
Nach drei umfangreichen einleitenden Kapiteln, die der unterschiedlichen Struktur und Organisation der Oper in Italien, Frankreich und Deutschland gelten, untersucht Walter in drei weiteren Kapiteln die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und soziokulturellen Bedingungen der Librettisten, Opernsänger und Opernkomponisten, geht anschließend den Entwicklungen des Urheberrechts und ihren Auswirkungen auf die Veränderungen des Werkbegriffs nach, behandelt schließlich politische Aspekte sowie die Rolle der Zensur und fragt abschließend nach dem Publikum der Oper. Der Leser erhält insgesamt einen zuverlässigen, material- und perspektivenreichen Überblick über all diese Aspekte. In einigen Fällen gelingt es Walter, bisher wenig beachtete Zusammenhänge plastisch herauszuarbeiten; etwa wenn die hohe Attraktivität und Ausstrahlung von Paris auf die Komponisten aus ganz Europa nicht nur auf die hohen Etats der dortigen Bühnen zurückgeführt wird, sondern auf das neuartige Urheberrecht in Frankreich, das den Komponisten von in Frankreich uraufgeführten und gedruckten Opern erheblich höhere Einnahmen ermöglichte als in allen anderen Ländern. (Ähnliches weist Walter auf kleinerer Ebene für die Rolle Neapels innerhalb Italiens nach.) Überzeugend ist auch die differenzierte Darstellung der Zensurpraxis in Italien, bei der Walter zeigen kann, daß es "die Hauptaufgabe der Zensoren [war], Opern zu genehmigen, nicht sie zu verbieten" (S. 290), schon wegen der immensen wirtschaftlichen Bedeutung des Opernbetriebs. Deutlich arbeitet Walter die Verflechtung politischer, ästhetischer und dramaturgischer Aspekte in der Tätigkeit der Zensoren heraus sowie die Funktion der Zensur als allgemein akzeptierter Kontrollinstanz der angestrebten Trennung von Bühnenwirklichkeit und realem Leben. (Bezeichnend ist, daß sich die Komponisten weder in Frankreich noch in Italien gegen die Zensur als solche wenden, sondern lediglich in Einzelfällen gegen das Vorgehen einzelner Zensoren. Verdi setzte z.B. bei Un ballo in maschera die Forderungen der neapolitanischen Zensur offenbar ganz bewußt als Hebel gegen seinen Librettisten ein [S. 293 ff.].3) Bemerkenswert ist auch Walters Analyse der Rolle der Verleger in Italien, die sowohl den Übergang vom stagione- zum Repertoire-System befördern (weil sich erst dann die Verlagstätigkeit und der Notendruck wirtschaftlich lohnen) als auch à la longue eine Standardisierung der bislang für jedes Theater neu angepaßten Fassungen eines Werks erzwingen (vgl. S. 246 ff.). Der Übergang des Werkbegriffs von der variablen Aufführungsgrundlage zur unveränderlich fixierten, autonomen Werkgestalt erscheint hier nicht als innerästhetischer Prozeß, sondern verflochten mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und juristischen Entwicklungen. Ihm entspricht der Wandel der Vertragspraxis zwischen Komponisten und Theatern: von der einmaligen Honorierung aus dem Verkauf einer materiellen Partitur (und damit aller Rechte am Werk) zu den langwährenden Ansprüchen aus einem immateriellen geistigen Eigentumsbegriff. Dabei wird zugleich deutlich, daß der Aufstieg der Verleger in Italien die Abhängigkeit der Komponisten von den Impresari verringert. Zudem entfallen damit zunehmend eine Reihe externer Faktoren, die die Komposition einer Oper bis dahin bestimmten: etwa die Bindung an einen konkreten Ort, konkrete Sänger, konkrete Publikumserwartungen.4 Dafür steigt nun die Bedeutung interner Faktoren (etwa ästhetischer und dramaturgischer Art), was sich direkt im Kompositionsprozeß niederschlägt: An die Stelle der bis dahin meist üblichen Komposition einzelner, je nach Situation immer wieder veränderbarer Werkteile (S. 194 ff.) tritt nun, beim mittleren Verdi oder bei Wagner, das Verfahren der kompletten Verlaufsskizze ganzer Akte (S. 250); die ästhetische Selbstbezüglichkeit und Dichte der musikalischen Schicht steigt.
Solche Darstellungen der Interdependenzen von Werkbegriff, ästhetischer Faktur, sozialen, wirtschaftlichen und juristischen Entwicklungen gehören zu den Stärken von Walters Buch. Ein regelrechtes Kabinettstückchen gelingt ihm bei der Darstellung des Dialogs der Königinnen in Donizettis Maria Stuarda (S. 304 ff.). Daß sich hier nicht nur die Zensoren am Text stießen, sondern auch Sängerinnen sich während der Proben in die Haare gerieten und das Publikums bei den Aufführungen irritiert reagierte (worauf die Oper schließlich in Mailand wie zuvor in Neapel verboten wurde), ist heute aus der ästhetischen Gestalt der Stelle allein kaum verständlich. Walter aber führt die heftigen Reaktionen darauf zurück, daß "hier eine hermetisch-geschlossene Bühnenwirklichkeit so aufgebrochen [wurde], daß ein Kontakt zwischen dieser und der alltäglichen Realität entstand" (S. 307 f.): z.B. textlich durch die Verwendung alltagssprachlicher Lexeme statt des üblichen >Opernitalienisch<, musikalisch in einer rezitierenden, nahe an der gewöhnlichen Sprachmelodie liegenden Vertonung.
All dies sind Beispiele für die Leistungsfähigkeit des sozialgeschichtlichen Ansatzes gegenüber dem üblichen, rein werkbezogenen Vorgehen.5 Walters Buch führt freilich auch die Grenzen der sozialgeschichtlichen Methode vor Augen. Es geht Walter mehr darum, aus bestimmten sozialen oder wirtschaftlichen Prozessen Bedingungen und Eigentümlichkeiten der Kunstwerke zu erklären, als die Oper selbst als institutionalisierte kulturelle Praxis einer Gesellschaft zu untersuchen. Diese Bedeutung der Oper des 19. Jahrhunderts als Schnittpunkt von Lebens- und Kommunikationsformen, als (privilegierte) Wahrnehmungs- und Darstellungsweise einer Kultur kommt dabei nur bedingt in den Blick, fällt eher der Bevorzugung struktureller Erklärungsmuster zum Opfer - hier etwa der Jurifizierung via Urheberrecht, den Thesen von der zunehmenden Autonomisierung des Kunst-Werks, von der Kapitalisierung und der Verbürgerlichung der Oper usw. Walter erwähnt z.B. die quasi vorprogrammierten Spannungsverhältnisse an den deutschen Hoftheatern zwischen (vom Hof eingesetzter) Intendanten und den eigentlichen Theaterproduzenten, auch die Konflikte zwischen Repräsentationspflichten und Publikumsanspruch, analysiert diese Spannungen jedoch nicht, weil es ihm primär um die unterschiedlichen Organisationsstrukturen von deutschem und italienischem bzw. französischem Theatersystem und um ihre Auswirkungen auf die Opernkomposition geht. Dabei stellen diese Spannungsverhältnisse ein deutliches Indiz für differierende Wahrnehmungen und Funktionen der Oper seitens der Theaterträger, der Theaterproduzenten und des Publikums dar. Diese aber werden erst erkennbar, wenn man die sozialgeschichtliche Methode um kulturalistische Fragestellungen nach den Wahrnehmungs- und Handlungskontexten, nach den Wert- und Bedeutungsgefügen erweitert (wie es etwa Ute Daniel beispielhaft zum deutschen Hoftheater unternommen hat).
Hinzu kommt, daß der generalisierende Untertitel "Sozialgeschichte der Oper im 19. Jahrhundert" denn doch mehr verspricht, als das Buch halten kann. Walters Buch spiegelt in erster Linie die unterschiedlichen Forschungsstände: Während die Forschungen zur italienischen Oper in sozialgeschichtlicher Hinsicht am weitesten gediehen sind 6 und zur französischen Oper zumindest einige eindrucksvolle Leistungen vorliegen,7 ist der Bereich der deutschen Oper sozial-, kultur- und wirtschaftsgeschichtlich noch schlecht erforscht. Der Schwerpunkt von Walters Werk liegt daher weitgehend auf der gut erforschten italienischen Situation, wobei besonders Donizetti und Verdi im Vordergrund stehen, während insbesondere der deutsche Bereich überwiegend im Dunkeln bleibt. Gerade hier, wo sich einer Sozialgeschichte der Oper dringliche Aufgaben geboten hätten, zieht sich Walter auf vage Vergleiche mit der Romania zurück. Wenn bei der deutschen Librettistik des 19. Jahrhunderts nur auf Simon Mosenthal näher eingegangen (S. 146) und ansonsten betont wird, deutsche Librettisten hätten sich selten "zu höherem Dichterischen berufen" gefühlt (147), dann ist das einfach zu wenig für ein Buch von diesem Anspruch: Statt die spezifischen Bedingungen und Funktionen der Librettistik in Deutschland zu analysieren, erneuert Walter hier gängige Klischees aus den Zeiten der Autonomieästhetik. (Der für die deutsche Situation aufgrund der starken Tradition der Goethezeit so charakteristische Typus der Personalunion von "Dichter" und Komponist [Lortzing, Wagner, Draeseke, Cornelius] bleibt völlig unerwähnt.) Auch in anderen Kapiteln erscheint Deutschland weitgehend unterbelichtet: Bei der Zensur geht Walter nur auf die Situation im habsburgischen Österreich ein, beim Werkbegriff und beim Publikum fehlt Deutschland völlig. Dabei stellt sich gerade in diesen Bereichen manches ganz anders dar, als Walter in seiner primär auf Italien fixierten Darstellung entwickelt. Walter korrigiert die Defizite der Forschung nicht, sondern gibt den unterschiedlichen Forschungsstand wieder.
Natürlich wäre es gerade angesichts dieser Forschungsprobleme ein falscher Anspruch, hier Vollständigkeit zu erwarten. Dennoch weckt Walter zunächst höhere Erwartungen als er dann erfüllen kann. Dies betrifft nicht nur die relative Vernachlässigung der deutschen Situation, sondern z.B. auch die temporale Verteilung. Bei der Darstellung der französischen Oper dominiert z.B. eindeutig die Zeit der Grand Opéra (Auber, Meyerbeer) bis hin zu Berlioz. Die spätere Entwicklung wird kaum noch gestreift - Namen wie Gounod, Bizet, Massenet etc. sucht man (mit Ausnahme einer aufzählenden Passage) vergebens. Und auch gattungsbezogen ist Walters Buch eher eng gehalten; er favorisiert überwiegend die großen, ernsten Opernformen, während die komischen Formen nur am Rande erscheinen. Die deutschsprachige Operette fehlt völlig. Gerade hier jedoch hätte Walter seine Hauptthese von der zunehmenden Trennung von autonomer Bühnenrealität und Lebenswelt des Publikums differenzieren müssen: Die komischen Formen des Musiktheaters blühen ja gerade auch deshalb im 19. Jahrhundert neu auf, weil sie diese Trennung nicht mitvollziehen.8 (Von einer Sozialgeschichte hätte ich diese Ausgrenzung der >niederen< Formen am wenigsten erwartet.)
Nimmt man den sozialgeschichtlichen Ansatz beim Wort, dann fallen weitere Lücken auf. Während Walter ausführlich auf die >Schöpfer< (Komponist, Librettist) und den >Überbau< (Theaterleitungen, Regulierungsbehörden) der Oper eingeht, fehlt weitgehend der eigentliche >Produktionsapparat<, der ja durch seine schiere Größe die Institution Oper bis heute so entscheidend prägt, im positiven wie im negativen Sinn. Kaum ein Wort findet sich zu den an der Bühne Tätigen wie den Bühnenarbeitern, Dekorateuren etc., dem Bühnenpersonal, Orchestermusikern, Kapellmeistern; lediglich die Sänger werden (bezeichnenderweise im kürzesten Kapitel) behandelt, wobei sich auch einige wenige Seiten zur (finanziellen) Situation der Chorsänger (S. 156-158) finden. Auch die Perspektiven der Verwaltungen und der eigentlichen Bühnenträger bleiben weitgehend unklar. Die Unterschiede in den Ausbildungssystemen zwischen Deutschland und Italien bzw. Frankreich werden nicht berührt, und auch über Italien erfährt man hauptsächlich, daß es keine geregelte Ausbildung für Oper gegeben habe (S. 188 ff., was kaum typisch für das italienische 19. Jahrhundert ist, sondern im Grunde bis heute so ist). In all diesen Punkten hätte man sich von einer Sozialgeschichte mehr erwartet. Besonders unbefriedigend bleibt schließlich das Kapitel über das Opernpublikum: Es ist zu allgemein gehalten und bleibt in den entscheidenden Punkten viel zu diffus. Walter betont hauptsächlich, daß die aristokratischen Eliten des 18. Jahrhunderts im Lauf des 19. Jahrhunderts von bürgerlichen Oberschichten abgelöst worden seien, während Unterschichten nach wie vor kaum Zugangsmöglichkeiten zur Oper gehabt hätten.9 Dieser Prozeß verlief freilich in den drei Kulturräumen sehr unterschiedlich, worauf Walter kaum eingeht. In Deutschland etwa ist durch die nach wie vor führende Rolle der Hoftheater der aristokratische Einfluß viel länger bestimmend als in Frankreich oder Italien; zugleich tragen gerade die Hoftheater in Deutschland im 19. Jahrhundert erheblich zu einer Amalgamierung bürgerlicher und aristokratischer Verhaltensweisen bei.10 Vor allem aber hatten die bei Walter als diffuse Einheit erscheinenden bürgerlichen Oberschichten nun keineswegs identische Perspektiven, Standpunkte oder Interessen. Es gab sowohl breite bürgerliche Segmente, die der Oper skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, als auch innerhalb der operntragenden bürgerlichen Eliten deutliche Differenzen in Erwartungshaltungen und Bewertungen, etwa zwischen der >verstaatlichten< Intelligenz der Beamten bzw. Verwaltungsangehörigen und dem Wirtschaftsbürgertum.11 Die Feststellung einer >Verbürgerlichung< oder >Verstädterung< der Oper im 19. Jahrhundert allein ist für eine moderne Sozialgeschichte zu wenig.
Das Kapitel über "Oper und Politik" (S. 252-277) zeigt schließlich ein weiteres typisches Problem der Opernforschung. Trotz seines gegenteiligen Problembewußtseins (vgl. S. 252) geht Walter fast ausschließlich textfixiert vor (eine Ausnahme bilden nur die Ausführungen zu Berlioz S. 270). Der politische Gehalt von Opern wird lediglich auf der ideologischen Ebene der Texte gesucht, während die multimediale Aufführungssituation kaum Beachtung findet. (An anderer Stelle des Buchs [S. 312-314], anhand der in der jüngeren Forschung mehrfach untersuchten La Muette de Portici von Auber, zeigt Walter genau das Gegenteil: wie eine direkte politische Wirkung von Oper gerade unabhängig von der Textintention aus der Aufführungssituation und ihrem Kontext entstehen kann.) Auch in diesem Kapitel fehlt die deutsche Situation gänzlich, obwohl doch Werke wie Lortzings Regina hier spannendes Anschauungsmaterial hätten bieten können.
Das lebendig geschriebene Buch ist auch seitens der Herstellung ansprechend gestaltet. Es finden sich, was für wissenschaftliche Publikationen wegen des Abbaus des Lektorats heute leider meist die große Ausnahme darstellt, fast keine Druckfehler oder Versehen.12 Das Layout wendet sich an eine breitere Leserschicht und geht daher mit Abbildungen mitunter mehr dekorativ als inhaltsbezogen um (vgl. etwa S. 274 und 323; die beiden Abbildungen S. 172/173 schließlich stehen in gar keinem Bezug zu dem sie umgebenden Text und lassen sich allenfalls vage auf S. 251 beziehen). Doch dies ist wohl mehr der Verlagsstrategie geschuldet, ebenso wie die Tatsache, daß Anmerkungen und Bibliographie auf ein Minimum eingeschränkt worden sind.
Der im Vorwort gestellte Anspruch Walters, "Forschungsergebnisse, die dem deutschen Leser nicht oder nur schwer zugänglich sind, zumindest in den Grundzügen und in allgemein verständlicher Form zu vermitteln" (S. VIII), wird von dem Buch weitgehend bravourös erfüllt. Dennoch bleibt beim Lesen immer wieder Bedauern darüber, daß Walter selten darüber hinausführende Fragen aufwirft und daß er nicht öfter statt referierenden Passagen und Inhaltsangaben sein analytisches Können einsetzt, das in manchen Passagen (besonders bei Donizetti) so eindrucksvoll aufblitzt.
PD Dr. Jörg Krämer
Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München
Preprint der im Internationalen Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) erscheinenden Druckfassung. Ins Netz gestellt am 02.02.1999.
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Anmerkungen
1 Vgl. z.B. zur Barockoper Bernhard Jahn: Das Libretto als literarische Leitgattung am Ende des 17. Jahrhunderts? Zu Zi(e)glers Roman Die Asiatische Banise und seinen Opernfassungen. In: Eleonore Sent (Hg.): Die Oper am Weißenfelser Hof. Rudolstadt 1996, S. 143-169; zum 18. Jh. das Material bei Reinhart Meyer: Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. [...] 2. Abteilung: Einzeltitel. Tübingen 1993 ff. [bislang 9 Bde.]; zum 19. Jahrhundert Ute Daniel: Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, bes. S. 270-445. zurück
2 Ansätze einer Korrektur dieser Einschätzung finden sich erstmals explizit bei Klaus Jürgen Just: Das deutsche Opernlibretto. In: Poetica 7 (1975), S. 203-220. zurück
3 Daß Verdi beim Ballo die Änderungswünsche der neapolitanischen Zensur aufbauschte und ablehnte, ähnliche Vorschläge der römischen Zensur aber erfüllte, richtete sich in der komplizierten Rechtssituation Italiens auch gegen den Verleger Teodoro Cottrau, der bei einer Uraufführung in Neapel das Recht zum Verlegen des Werks erhalten hätte, was dem Verleger Ricordi (und damit auch Verdi) direkt wirtschaftlich geschadet hätte. Die Zensur bildet in diesem berühmten Fall, ganz anders, als es die traditionelle Verdi-Mythologie will, also nur einen vorgeschobenen Grund, hinter dem sich handfeste wirtschaftliche Interessenkollisionen abzeichnen. Vgl. a. Birgit Pauls: Giuseppe Verdi und das Risorgimento. Ein politischer Mythos im Prozeß der Nationenbildung. Frankfurt a. M. 1996. zurück
4 Daß es sich dabei nicht einfach um einen >Fortschritt< handelt, sondern um einen dialektischen Prozeß, bei dem neue Möglichkeiten auch durch Verluste erkauft werden, hätte deutlicher gemacht werden können. zurück
5 Man vergleiche etwa Walters Ausführungen zu Donizettis Anna Bolena (S. 180-184) mit der rein werkbezogenen Darstellung von Philip Gossett (Anna Bolena and the Artistic Maturity of Gaetano Donizetti. Oxford 1985). Gossett versucht in konventioneller Weise, Donizettis Änderungen am Werk auf rein ästhetische Überlegungen zurückzuführen, während Walter eindrucksvoll die Interdependenz sozialgeschichtlicher und ästhetischer Faktoren analysiert und damit zu wesentlich plausibleren und differenzierteren Einsichten gelangt. zurück
6 Lorenzo Bianconi/ Giorgio Pestelli: Storia dell'Opera italiana. Parte II: I Sistemi. Bd. 4: Il sistema produttivo e le sue competenze. Torino 1987 (dt. Laaber 1990); Bd. 5: La spettacolarità. Torino 1988 (dt. Laaber 1991); Bd. 6: Teorie e Tecnice. Immagini e fantasmi. Torino 1988 (dt. Laaber 1992). Neben diesem Standardwerk stammen wichtige jüngere Beiträge aus der angloamerikanischen Forschung, etwa von John Rosselli oder John Black. zurück
7 Frédérique Patureau: Le Palais Garnier dans la société parisienne 1875-1914. Liège 1991; Anselm Gerhard: Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar 1992. zurück
8 Vgl. Volker Klotz: Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München/Zürich 1991, bes. S. 48-65. zurück
9 Walters These von der Homogenität des Oberschichtenpublikums scheint mir freilich nicht so ohne weiteres haltbar zu sein. 1839 betont etwa der Artikel "Publicum" im Allgemeinen Theater-Lexikon genau umgekehrt die Heterogenität des Theaterpublikums: "Welch ein Abstand von dem Studenten, der nach sorgfältiger Vorbereitung durch wiederholtes Lesen einer klassischen Dichtung mit dem Buche in der Hand der Darstellung im Parterre folgt, bis zu dem Vornehmen, der nach einem glänzenden Diner gähnend in den Logen des 1. Ranges verdaut; von dem Handwerker, der Sonntags seine Familie mit den Ersparnissen der Woche auf die Galerie führt, bis zu dem Musikkenner, der, den Klavierauszug in der Hand, die Leistung des Orchesters und der Sänger beurtheilt. Die höchste geistige Bildung neben der rohesten Vergnügungssucht, der Glanz und die Behaglichkeit der bevorrechteten Stände neben dem Mangel und der niedrigen Neigung!" (Zit. nach Sybille Maurer-Schmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert. Tübingen 1982, S. 119 Anm. 2). zurück
10 Vgl. Ute Daniel: Hoftheater [wie Anm. 1], bes. S. 115-179. zurück
11 Vgl. dazu die Fallstudie von Rolf Straubel: Kaufleute und Manufakturunternehmer. Die Herausbildung des >Wirtschaftsbürgertums< in den preußischen Kernlanden (1763-1815). Stuttgart 1995. zurück
12 Einige Kleinigkeiten, die bei einer Neuauflage korrigiert werden sollten: S. 91 Z. 7 "Einnahmen" statt korrekt Ausgaben; S. 151 Anm. 3: Der Autor heißt nicht "A. Paul", sondern Paul Adolph; S. 164 widerspricht das Slezak-Zitat der Behauptung Walters, die Partie des Stolzing werde von Slezak nicht genannt (vgl. Z. 4 mit Z. 31); S. 257 schwankt die Schreibweise zwischen "Titzikan" und "Tizikan" (ähnlich S. 163 zwischen "Van Dyk" und "Van Dyck"); S. 270 fehlt im Satz vor dem Zitat ein Verb. Druckfehler finden sich auf S. 187 ("Vensuberg"), S. 203 ("Instumentation") und S. 276 ("entprechend"); gelegentlich begegnen falsche Akzentsetzungen im Französischen (S. 214, Abb. S. 321).
Auffällig und störend ist das häufige Fehlen von Kommata bei Appositionen und Relativsätzen (z.B. S. 138, 140, 148, 152, 155, 162, 169, 177, 189, 206, 236, 250, 255, 264, 267, 284, 294, 295, 299, 323). zurück
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