Krotz über Wich-Reif: Entstehung und Funktion von Textglossen

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Elke Krotz

Entstehung und Funktion von Textglossen

  • Claudia Wich-Reif: Studien zur Textglossarüberlieferung. Mit Untersuchungen zu den Handschriften St. Gallen, Stiftsbibliothek 292 und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek St. Peter perg. 87. (Germanistische Bibliothek 8) Heidelberg: Winter 2001. 383 Seiten. 3 Abb. Kart. EUR (D) 46,-.
    ISBN 3-8253-1151-1.


"Textglossare sind Glossare, aus deren Lemmata man einen zugrundeliegenden Werktext ermitteln kann" (S. 356). Diesem Typus Glossar widmet Wich-Reif ihre Dissertation, im übrigen die erste (!) Einzelstudie zu dieser Thematik, was alleine schon ein erhebliches Defizit der altgermanistischen Glossenforschung erhellt. Diese weigert sich zum Teil bis heute, über den Tellerrand einer Philologie des Deutschen hinauszublicken und in Glossaren mehr zu sehen als Rohmaterial für Wörterbücher des Althochdeutschen. Daß die sogenannten lateinisch-deutschen Glossare in der erdrückenden Überzahl aus lateinisch-lateinischen Glossen bestehen, ist ein Befund, der seit Steinmeyers Glosseneditionen geradezu systematisch ausgeblendet wird. Äußerst erhellend sind hierzu die Ausführungen, die Wich-Reif auf S. 244–247 ihrer Studie macht, sowie die sich daran anschließenden Bemerkungen zur Entstehung und Funktion von Textglossaren, die die ganze Unsicherheit der Forschung hinsichtlich dieses Typus referieren.

Annäherung an den Gegenstand

Als exemplarisches Studienobjekt hat Wich-Reif zwei Handschriften ausgewählt, die eine Vielzahl von Textglossaren enthalten: St. Gallen, Stiftsbibliothek 292, und Karlsruhe, Badische Landesbibliothek St. Peter perg. 87. Ziel der vergleichenden Studie ist es, Textsortenmerkmale des Typs Textglossar herauszuarbeiten. "Von den Schreibern und Abschreibern wurden die Wortlisten in althochdeutscher Zeit als glossarium oder glossae collectae bezeichnet" (S. 60). Zu diesem etwas mythischen, aber gängigen Entstehungsmodell werden in der Forschung neuerdings kritische Töne laut. 1 Als Beschreibungskriterien dienen Wich-Reif die Sprache (ein- oder zweisprachig), das Erscheinen der volkssprachigen Einträge innerhalb der Glossare (interlinear, marginal oder im fortlaufenden Glossartext), die Anlage des Glossars (abgesetzte Zeilen oder fortlaufend), der Typ (textfolgebezogen oder alphabetisch), die Lemmata (mit oder ohne Fremdeinträge) und die Wortformen (wie im Text oder lemmatisiert).

Exemplarische Analysen

Vorangestellt werden sorgfältige, selbständige Beschreibungen beider Handschriften, die durchaus Neues zutage fördern, etwa ein (lateinisch-lateinisches) Glossar zu Priscian, das in den bisherigen Beschreibungen nicht als eigener Abschnitt erkannt, sondern dem darauffolgenden Donat-Glossar zugerechnet wurde (S. 72–73 und 83). Da beide Handschriften im 11. Jahrhundert geschrieben wurden, die althochdeutschen Bestandteile der darin überlieferten Textglossare aber bis ins 9. Jahrhundert zurückweisen, in dem Priscian erst wiederentdeckt wurde 2, dienen auch solche beiläufigen Richtigstellungen der Erforschung der Textgeschichte – auch hier unabhängig von einer philologischen Spezialdisziplin gedacht.

An Wich-Reifs Beschreibung der volkssprachigen Glossen beider Handschriften frappiert vor allem, daß noch sieben Neufunde möglich waren, durchweg Glossierungen, die in den bisherigen Editionen nur für die jeweilige Schwesterhandschrift bezeugt waren. Die Glossierung steht im weitesten Sinne unter dem Einflußbereich des lateinisch-lateinischen Glossars Rz (S. 119). 3 Anhand von weiterer Parallelüberlieferung stellt die Autorin fest, daß beide Handschriften nicht direkt voneinander abstammen, sondern, abgesehen von Eigengut, auf eine Vorlage vom Ende des 9. Jahrhunderts zurückgehen.

Exemplarisch werden sodann in einem dritten Teil die Textglossare zur Genesis, zu den Sequenzen Notkers I. und zum Carmen Paschale des Sedulius ediert, miteinander verglichen und philologisch analysiert. Ebenso werden das Glossierungsverfahren, die Übersetzungstechnik und die Sprache näher beleuchtet. Bei der Edition wird zunächst ein diplomatischer Abdruck geboten, wobei durch die Auflösung der Abkürzungen und Ergänzungen anhand der Parallelüberlieferung ein gut lesbarer und doch handschriftennaher Text entsteht. In einem zweiten Schritt wird jeweils eine >bearbeitete Edition< geliefert, in der die entsprechenden Glossare der beiden Handschriften in Paralleleditionen gegenübergestellt werden, wobei allerdings die Edition der St. Galler Handschrift durch die hier untergebrachten Stellenangaben der Lemmata im Werktext ziemlich verunstaltet wird. Dies hätte sich mit einem klassischen Apparat eleganter lösen lassen.

Die Wortzwischenräume werden offenbar wie in der Handschrift wiedergegeben, denn nur so lassen sich etwa "Lux aluendo", "adiluuio" oder "Camera acamuro dicitur" in den Randglossen der Karlsruher Handschrift erklären, die so in beiden dargebotenen Editionen erscheinen. Eher auf Unsicherheit im Lateinischen scheint mir die Wiedergabe der ersten Genesis-Glosse zu beruhen: in Wich-Reifs Editionen wird sie mit "Prologus idem pre locutio" (St. Gallen) bzw. "Prologus pre locutio" (Karlsruhe) wiedergegeben. Da die Autorin die Abkürzungen aufgelöst hat, läßt sich nicht feststellen, ob hier "id est" statt "idem" zu lesen wäre. Da sie auf
S. 182 erklärt, "Prologus [...] wird durch das lateinische Syntagma pre locutio erklärt", wurde wohl lat. praelocutio nicht erkannt (prae als Präposition würde den Ablativ nach sich ziehen), vgl. im übrigen Steinmeyers Edition von Rz
(StS V,135,18) Prologus : prefacio prelocucio. Der große Vorteil der bearbeiteten Edition besteht darin, daß durch den Fettdruck der althochdeutschen Glossen deren quantitative Unerheblichkeit sichtbar wird.

Im Anschluß an diese Editionsversuche führt die Autorin eine "philologische Analyse der volkssprachigen Glossen" in den drei exemplarisch ausgewählten Textglossaren durch. Auch hier scheint mir die Behandlung des Lateinischen nicht immer souverän: So wird die Stelle aus Hieronymus' Prolog zum Pentateuch

"Periculosum opus certe, obtrectatorum latratibus patens, qui me adserunt in Septuaginta interpretum suggillationem nova pro veteribus cudere",

von Wich-Reif (S. 189) übersetzt mit

"Das ist sicherlich ein gefährliches Werk, das dem Gezänk der Neider offensteht, die behaupten, daß ich als Übersetzer bei der neuen Septuaginta [wieder] einen blauen Fleck anstelle der alten schlage",

lat. interpres ist aber hier kein Akkusativ, sondern Genetiv Plural zum Zahlwort (nicht zum Eigennamen) septuaginta, also "Schmähung der siebzig Übersetzer". Ich verweise hier auf die Übersetzung der Stelle in Hieronymus' Apologia contra Rufinum (worin der Pentateuch-Prolog eingearbeitet ist) ins Französische:

"Ils affirment que c'est pour stigmatiser la version des Septante que je forges des textes nouveaux à la place des anciens" 4

Ebenso wird die Konstruktion in einer Notker-Sequenz

Martyrio idoneos qui fecisti pusiones vagientes

in der Übersetzung

der du durch dieses Martyrium geeignete Knaben zu wehklagenden Knaben gemacht hast

nicht erkannt, Christus hat vielmehr die quäkenden Knaben zum Martyrium geeignet (idoneus + Dativ) gemacht.

Aber mit Irrtümern ist zu rechnen, wenn man Fachgrenzen überschreitet, das schmälert die Notwendigkeit des Verfahrens keineswegs.

Es folgen Bemerkungen zum Glossierungsverfahren und zur Übersetzungstechnik sowie eine sprachliche Analyse. Sodann versucht die Autorin, ein "Profil" für den Texttyp Textglossar zu erstellen. Bedeutsam ist hier die Feststellung, "wie konservativ mit dem lateinischen Wortmaterial im Gegensatz zu den Abweichungen in den volkssprachigen Bestandteilen umgegangen wurde" (ibd.), wobei auch vor vorschnellen Bestimmungen der Verwandtschaftsverhältnisse, die sich nur auf den volkssprachigen Glossenanteil stützen, gewarnt wird.

Erfassung und Auswertung

Im letzten Hauptteil der Arbeit werden die bisher bekannten volkssprachig glossierten Textglossar-Handschriften ermittelt: 166 Stück, wobei sich die sichere Zuordnung zum Texttyp Textglossar zuweilen schwierig gestaltet, da die Editionen oder Handschriftenbeschreibungen hierzu nicht immer eindeutige Angaben liefern. "Im geringst möglichen Fall enthalten sie ein glossiertes Textglossar, in dem eine einzige althochdeutsche bzw. altsächsische Glosse steht. Geht man von einem Bestand von 1230 glossentragenden Handschriften aus, machen die Textglossarhandschriften 13,5% aus" (S. 264). Einer durchnumerierten Liste folgt eine nach Texten sortierte Aufstellung samt quantitativer und chronologischer Auswertung, wobei in Fußnoten jeweils auch eine Liste der Handschriften mit glossierten Werktexten mitgeteilt wird.

Es bleibt zu hoffen, daß diese äußerst informativen Listen in Zukunft nicht dazu mißbraucht werden, in gewohnter Weise die volkssprachig glossierten Textglossare vergleichenden Analysen zu unterziehen und dabei die lateinisch glossierten Pendants außer Acht zu lassen, nur weil sie vom jeweiligen Bearbeiter erst selbständig ermittelt werden müßten, da Wich-Reif die Glossare ohne volkssprachigen Anteil nicht erfaßt. Daß von seiten der Klassischen Philologie dabei nur wenig Vorarbeit vorhanden ist, sei hier noch kurz beklagt: So gibt es beispielsweise keine vergleichende Studie zu (lat.) glossierten Priscian-Handschriften. Detaillierte Einzelstudien gelten Codices wie St. Gallen 904, die volkssprachiges (in diesem Falle altirisches) Glossenmaterial enthalten. Der Studie Wich-Reifs ist zu wünschen, daß sie auch andere dazu anregt, die Textsorte Textglossar den rosinenpickenden oder völlig desinteressierten Einzelphilologien zu entreißen und einer angemesseneren Analyse zuzuführen.


Dr. Elke Krotz
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

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Ins Netz gestellt am 22.05.2003
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Anmerkungen

1 Erhebliche Zweifel am glossae-collectae -Modell hat Wolfhard Steppe, Sulpicius Severus im Leidener Glossar. Untersuchungen zum Sprach- und Literaturunterricht der Schule von Canterbury, Diss. München 1999, bes. S. 48–73.   zurück

2 Dabei spielte Alkuin wohl eine vermittelnde Rolle. In England war Priscian schon zu Zeiten Theodors v. Canterbury, des Lehrers Aldhelms, bekannt, was für die Herkunft dieses Textglossars aus der Familie Rz sprechen könnte. Siehe etwa Louis Holtz, Priscien dans la pédagogie d'Alcuin, in: Manuscripts and tradition of grammatical texts from antiquity to the Renaissance: proceedings of a Conference held at Erice, 16–23 october 1997, as the 11. Course of International school for the study of written records, ed. by Mario De Nonno, Paolo De Paolis and Louis Holtz. Cassino, Edizioni dell'Università, 2000, vol. I, S. 289–326. Oder Margaret Gibson, Milestones in the study of Priscian, circa 800 – circa 1200, in: Viator 23, 1992, S. 17–33.    zurück

3 Hier ist auf die Handschriftenliste von Paolo Vaciago zu verweisen: Towards a Corpus of Carolingian Biblical Glossaries, in: Jacqueline Hamesse (Hrsg.), Les manuscrits des lexiques et glossaires de l'antiquité tardive à la fin du moyen âge. Actes du Colloque international organisé par le >Ettore Majorana Centre for Scientific Culture< (Erice, 23–30 septembre 1994), Louvain-la-neuve 1996 (Textes et études du moyen âge 4), S. 127–144.   zurück

4 Saint Jérôme, Apologie contre Rufin, introduction, texte critique, traduction et index par Pierre Lardet, Paris 1983, (Sources Chrétiennes 303) S. 173.   zurück