Krotz über Schützeichel/Meineke: Willirams Kommentar des Hohen Liedes

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Elke Krotz

Zwischen den Perioden

  • Rudolf Schützeichel und Birgit Meineke (Hg.): Die älteste Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes. Edition Übersetzung Kommentar (Studien zum Althochdeutschen 39) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 357 S. / 7 Abb. Geb. EUR (D) 62,-.
    ISBN 3-525-20354-3.


Williram, von 1048 bis 1085 Abt des oberbayerischen Klosters Ebersberg, verfaßte dort "frühestens um 1060" (VL 10,1158, K. Gärtner) einen Hoheliedkommentar, für den er eine dreispaltige synoptische Anordnung vorsah: Um den lateinischen biblischen Hoheliedtext in der mittleren Spalte (in 149 Abschnitte eingeteilt) gruppieren sich jeweils links eine lateinische Versparaphrase des Bibeltextes sowie ein lateinischer Verskommentar und rechts eine deutsche Prosaübersetzung des Bibeltextes und ein Prosakommentar in lateinisch-deutscher Mischsprache. Willirams zeitliche und sprachliche Positionierung an der Grenze vom Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen ist wohl der Hauptgrund für seine Vernachlässigung von seiten der Literatur- und Sprachhistoriker. 1

Das Althochdeutsche
im Zugriff der Lexikographen

"Eine Edition der ältesten Überlieferung von Willirams Kommentar des Hohen Liedes ist ein Erfordernis der Wörterbucharbeit." Mit diesem programmatischen Satz beginnt R. Schützeichels Vorwort dieser Edition, und er sagt auch schon vieles über diese selbst aus, da sie weitgehend an den Erfordernissen des Lexikographen ausgerichtet ist. Das fängt schon bei der Behandlung der Zweisprachigkeit an: den Lexikographen des Althochdeutschen interessieren primär die althochdeutsche Übersetzung des Bibeltextes und die althochdeutschen Bestandteile des in gelehrter lateinisch-althochdeutscher Mischsprache gehaltenen Prosakommentars (beides in der rechten Spalte einer autornahen Williram-Handschrift). Zur Ermittlung von deren Bedeutungen dient die beigefügte Übersetzung nur dieser, nicht aber der lateinischen Bestandteile. Dies hat für den wißbegierigen Textleser zuweilen unangenehme Konsequenzen. Die Übersetzung der Stelle

únte sîe sínt oûh gemellis fetibus . uvánte sîe hábent dilectionem meam et proximi. (S. 109)

sieht beispielsweise so aus:

Und sie sind auch gemellis fetibus, denn sie haben dilectionem meam et proximi (S. 276).

Daß únte "und" bedeutet, sîe "sie", sínt "sind" usw., hilft wohl weder dem lexikographischen Spezialisten noch dem Hilfe suchenden gewöhnlichen Williram-Leser entscheidend weiter. Das heißt, es handelt sich, anders als der Untertitel des Buches suggeriert, um eine Teilübersetzung. Daß die lateinischen Bestandteile in der neuhochdeutschen Wiedergabe von Willirams mischsprachigem Kommentar durch einen anderen Schrifttypus hervorgehoben werden, ändert nichts daran, daß der Benutzer sich, wo nötig, weiterhin mit lateinischen Wörterbüchern behelfen muß; den anderen Schrifttypus hätte man im übrigen auch auf eine Übersetzung der lateinischen Bestandteile anwenden können, um sie optisch abzusetzen. Wenn die Herausgeber behaupten, "Die vorliegende neuhochdeutsche Prosaübersetzung spiegelt den Text Willirams adäquat wider" (S. 263), bleibt zu fragen, ob nicht auch die lateinische Versparaphrase und der lateinische Verskommentar (der linken Spalte) wie auch die lateinischen Bestandteile des mischsprachigen Prosakommentars zum "Text Willirams" zu zählen sind.

Eine zweite Auswirkung der Wörterbucharbeit betrifft die Auswahl der für die Edition herangezogenen Handschriften: Grundlage ist die Ebersberger Handschrift (Cgm 10). Die Varianten des Pal. lat. 73 und der verschollenen, nur in Abbildungen erhaltenen Breslauer Handschrift (UB, cod. R 347) werden im Apparat angeführt. Berücksichtigt sind also die drei vermutlich ältesten der mehr als 40 mittlerweile bekannten Handschriften (VL 10,1159–61), alle drei entstammen dem 11. Jahrhundert. Die Breslauer und Ebersberger Hs. sind möglicherweise noch unter den Augen Willirams entstanden (vgl. hierzu K. Gärtner in VL 10,1160). Da keine explizite Begründung für die Wahl gerade dieser drei gegeben wird, kann man nur mutmaßen, daß sie aufgrund ihres Alters und Sprachstands als relevant für ein dediziert Althochdeutsches Wörterbuch angesehen wurden. Daß Williram in einer Buchreihe auftaucht, die sich Studien zum Althochdeutschen nennt, ist durchaus keine Selbstverständlichkeit, wird er doch gewöhnlich dem frühmittelhochdeutschen Zeitraum zugeschlagen 2 , und erst in der 5. Auflage seines Althochdeutschen Wörterbuches (Tübingen, 1995, siehe dort S. 10–11) berücksichtigt R. Schützeichel Willirams Hoheliedkommentar für das Althochdeutsche. Der >Leidener Williram<, eine altniederfränkische Umschrift des Hoheliedkommentars in einer um 1100 geschriebenen Leidener Handschrift (UB, cod. B.P.L. 130) und damit die vermutlich viertälteste Überlieferung, wird natürlich in einer dem Wörterbuch des Althochdeutschen dienenden Edition unberücksichtigt gelassen.

Editionen im Vergleich

Der Text der Ebersberger Handschrift wird "handschriftengetreu nach seiner dreispaltigen Anordnung geboten" (S. 31), jeweils auf der rechten Seite der Edition, die linke ist dem Apparat vorbehalten. Auf diese Weise wird die synoptische Anlage des Textes schön augenfällig und lädt geradezu zu behaglicher, verweilender Lektüre ein, bei einer kritischen Edition heutzutage ja keine Selbstverständlichkeit. E. H. Bartelmez 3 hatte für ihre Edition die Breslauer Handschrift zur Grundlage genommen und die Varianten von knapp der Hälfte der heute bekannten, meist jüngeren Handschriften akribisch aufgelistet. Bartelmez druckt in ihrer Edition die drei handschriftlichen Spalten jeweils untereinander nach den Abschnitten ab, in die Williram selbst sein Werk einteilt. Der Leser der neuen Ausgabe muß bereits Kenntnisse über den Werkaufbau mitbringen: Daß die jeweils linke Spalte in einer klassischen Williram-Handschrift der Hexameter-Paraphrase des Hohenliedes, der sich ein allegorischer Kommentar in Hexametern anschließt, vorbehalten ist, wird von den Herausgebern mit keinem Wort erwähnt; an eine Übersetzung dieses konstitutiven Textteiles wurde offenbar nicht einmal gedacht. Williram steckt also nicht nur in der Versenkung zwischen den sprachgeschichtlichen Epochen (siehe unten Anm. 4), sondern auch zwischen den Philologien.

Der Apparat erfaßt die biblischen Stellenangaben und wiederholt den bereits bei Williram ausgeschriebenen Vulgatatext noch einmal in vollem Wortlaut; er bietet ferner die Stellenangaben der Ausgabe von Bartelmez sowie der beiden berücksichtigten Parallelhandschriften, darauf folgen Besonderheiten der Ebersberger Handschrift, etwa Korrekturen, sowie, nach den Kolumnen der Ausgabe geordnet, die Varianten. "Der Apparat bringt keine Quellennachweise. Diese müßten in einem Kommentar erscheinen" (S. 36).

Der sogenannte Variantenapparat ist höchst akribisch zusammengestellt: Jeder vorhandene oder nicht vorhandene Nasalstrich wird vermerkt, ebenso wird jede -bus-Suspension, die in den verglichenen Handschriften nicht vorkommt, aufgelistet. Bartelmez' Apparat ist noch viel umfangreicher: Den 8 Zeilen zu S. 137, Kolumne c, Z. 10–33 bei Schützeichel / Meineke entsprechen mehr als zwei großformatige Seiten bei Bartelmez, S. 286–288, aber bei ihr werden auch längerfristige sprachliche Entwicklungen augenfällig (das ist zuweilen höchst spannend 4 ) und zudem tauchen weit mehr signifikante Varianten auf, etwa aus dem Leidener Williram (feruore für fetore in dem eben genannten Abschnitt), als in den drei von Schützeichel / Meineke ausgewählten Handschriften (in den genannten zehn Zeilen nur gesêreton im Palatinus statt gekníston, was in der über zehn Zeilen ausgebreiteten Fülle graphischer Abweichungen unterzugehen droht). Ein auf wesentliche graphische Varianten reduzierter, auch jüngere Handschriften erfassender Apparat hätte, samt den Stellenangaben, noch in dem gewöhnlich frei gebliebenen unteren Viertel jeder Editionsseite Platz gehabt und dadurch den Gesamtumfang um mehr als 100 Seiten reduziert. Worterklärungen geben Schützeichel / Meineke nicht, beispielsweise zu dem im eben genannten Abschnitt auftauchenden lat. Wort fraglantia, einer Nebenform zu fragrantia. In der Übersetzung erscheinen die lateinischen Bestandteile wie in der Edition, das heißt nicht normalisiert: "In cipro" (S. 61c, Z. 6) bleibt so (S. 267) und wird nicht etwa durch Großschreibung des Eigennamens (Cypro) dem Unkundigen kenntlicher gemacht.

Hilfreiche Zugaben

Leserfreundlich ist das Glossar der althochdeutschen Bestandteile des Textes gestaltet: viele Verweise auf die normalisierte Wortform erleichtern da, wo es dem Ungeübten schwerfallen könnte, das Auffinden derselben (etwa S. 330: "nobe s. <nibu>", das Glossar ist also nicht nur eine wichtige Ergänzung bisheriger lexikographischer Bemühungen, sondern hilft auch bei der Lektüre. Die häufig vorhandenen lateinischen Gegenwerte zu den deutschen Worten verbucht das Wörterbuch nicht. 5

Sieben beigefügte, zum Teil farbige Abbildungen veranschaulichen das kunstvoll durchdachte Layout einer typischen Williram-Handschrift. Im Vergleich mit der Edition wird ein kleines Manko sichtbar: Farbige Initialen, etwa in der Ebersberger Handschrift, mit denen der Schreiber in der linken und rechten Spalte jeweils den Übergang von der Paraphrase zum Kommentarteil jedes Abschnitts markiert, 6 sind in der Edition weder kenntlich gemacht noch im Apparat vermerkt, lediglich die unterschiedlichen Größenverhältnisse der Initialen nachgebildet. Der fünfteilige Aufbau jedes Textabschnitts, in der farbigen Reproduktion klar erkennbar, muß vom Benutzer der Edition hinzugedacht werden.

Eine zweisprachige Ausgabe der Expositio, die auch die verwendeten Quellen erschließen soll, ist im übrigen von Henrike Lähnemann und Michael Rupp angekündigt (siehe http://www.mediaevum.de/forschen/projekt_henrike_laehnemann2.htm).


Dr. Elke Krotz
Ludwig-Maximilians-Universität München
Institut für Deutsche Philologie
Schellingstr. 3
D-80799 München

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Ins Netz gestellt am 04.08.2003
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Anmerkungen

1 Siehe hierzu vor allem K. Gärtner, Zu den Handschriften mit dem deutschen Kommentarteil des Hoheliedkommentars Willirams von Ebersberg, in: Volker Honemann, Nigel F. Palmer (Hg.), Deutsche Handschriften 1100–1400. Oxforder Kolloquium 1985, Tübingen 1988, S. 1–34, bes. S. 1–5.   zurück

2 Kurt Gärtner etwa plädiert dafür, daß Willirams Werk von den Lexikographen des Althochdeutschen beansprucht werden könne, von denen des Mittelhochdeutschen aber berücksichtigt werden müsse (Althochdeutsch oder Mittelhochdeutsch? Abgrenzungsprobleme im Bereich der Glossenliteratur und ihre Bedeutung für die Sprachstadienlexikographie, in: Haubrichs, Wolfgang et al. (Hg.): Theodisca. Beiträge zur althochdeutschen und altniederdeutschen Sprache und Literatur in der Kultur des frühen Mittelalters (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 22). Berlin-New York: Walter de Gruyter 2000, S. 105–117).   zurück

3 Erminnie Hollis Bartelmez: The "Expositio in cantica canticorum" of Williram abbot of Ebersberg 1048–1085. A critical edition. Philadelphia 1967.   zurück

4 Laut Gärtner, Kommentarteil, S. 18, ist die Edition von Bartelmez "eine ideale Ausgabe für alle an der deutschen Sprachgeschichte Interessierten; doch von ihnen ist Williram noch kaum recht entdeckt, er ruht [...] weiter in der Versenkung zwischen dem Althochdeutschen und dem Mittelhochdeutschen."    zurück

5 Anders als Joseph Seemüller, der zusätzlich die grammatische Formbestimmung jeder Belegstelle liefert (Willirams deutsche Paraphrase des Hohen Liedes (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker XXVIII), Straßburg 1878).   zurück

6 Siehe hierzu K. Gärtner, Kommentarteil, S. 10: "In der aufwendiger ausgestatteten und nach der Ebersberger Handschrift [...] ältesten Williram-Handschrift, dem Palatinus [...], ist die Fünfteilung einer Kommentareinheit deutlich markiert durch farbige Initialen."   zurück