Krug: Medial gestimmt
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Medial gestimmt

Neue Radioforschungen

  • Heiner Boehncke (Hg.): Radio Radio. Studien zum Verhältnis von Literatur und Rundfunk. (Frankfurter Forschungen zur Kultur- und Sprachwissenschaft 9) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2005. 359 S. Paperback. EUR (D) 46,80.
    ISBN: 3-631-52676-8.
  • Daniel Gethmann: Die Übertragung der Stimme. Vor- und Frühgeschichte des Sprechens im Radio. (sequenzia) Zürich, Berlin: Diaphanes 2006. 208 S. zahlr. Abb. Paperback. EUR (D) 26,90.
    ISBN: 3-935300-82-4.
  • Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks - Deutschland / USA. München: Wilhelm Fink 2005. 394 S. 26 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-7705-4025-5.
  • Michael Kohtes (Hg.): Dichter am Äther. Schriftsteller schreiben über das Radio. Düsseldorf: Grupello 2006. LXXX, 80 S. Paperback. EUR (D) 12,90.
    ISBN: 3-89978-052-3.
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Zweimalige Entdeckung des Radios

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Folgt man dem Berliner Medienwissenschaftler und Radiomacher Wolfgang Hagen, dann wurde der Hörfunk gleich zweimal »entdeckt« (S. XIX): einmal in Deutschland (bzw. Europa), ein anderes Mal in Amerika – und die Folgen waren sehr unterschiedlich. Das »Deutsche Radio begann als Kulturradio mit klassischem Kulturauftrag« (S. 71) und »mit der Angst vor der Masse« (S. 74). Es entstand aus einer »gleichermaßen gegenmodern-spiritistischen wie militärischen Perspektive« (S. XX).

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Dem amerikanischen Radio hingegen sei derlei Kulturfixiertheit immer fern gewesen: Täuschung, Serialität und die Dualität der Stimmen bestimmten die Programmphilosophien seit den Anfängen. »Serials« prägten »die erste große Epoche der amerikanischen massenmedialen Radiokultur« (S. XXII). Es folgten die DeeJays ehe die Format-Radios die »zweite Radio-Epoche der USA« (S. XXIII) einleiteten: Von den »Top-40«-Formaten über Underground-Radios bis zu den moderneren AOR-Formaten und den sehr marketingaffinen »Konsum-Milieu-Cluster«-Formaten (S. 373). Serialität und Formatierung blieben freilich nicht auf die USA begrenzt. Spätestens durch den Export der »Top 40«-Formate wurden – so die hoch spannende, von Hagen leider aber noch nicht ausgeführte These – »alle in Europa gewachsenen Radio-Formen nahezu vollständig dominiert« (S. 319).

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Neue Radioterminologien –
andere Fragestellungen

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Die hier vorgestellten neuen Radiopublikationen beschränken sich alle auf eingegrenzte historische Perioden. Auch Hagens Das Radio erzählt keine systematische Geschichte der (zwei) Radiotypen: Über den deutschen Hörfunk nach 1945 sowie die Fortsetzungen, Brüche, Niederlagen der Kulturorientiertheit erfährt man nichts. Das Buch ist insofern asymmetrisch angelegt – und doch gehört diese Sammlung »exemplarischer« (S. XIX) Studien zum Aufregendsten, was in den letzten Jahren über Radio geschrieben wurde. »Medientheorie«, so formuliert Hagen an einer Stelle, »besteht in nichts anderem als darin, dem dilemmatischen Eingriff der technischen Medien in das ›Wesen des Menschen‹ auf die Spur zu kommen« (S. 255). Entsprechend führt Hagen (mit Niklas Luhmann, Harald A. Innis, Jacques Lacan und dem modernen Konstruktivismus im theoretischen Hintergrund) Fragestellungen, Disziplinen und neue Terminologien in die deutsche Hörfunkforschung ein: vom »dissimulativen Hören« (S. 256) über die »Konativität des Radiohörens« (S. 291) bis zum »auralen Radio-Objekt« (S. 322). Damit aber fordert er die deutsche Radioforschung auf einem bisher nur sehr begrenzt berücksichtigten Feld heraus: auf dem des Akustischen, der akustischen Besonderheiten des Radios.

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Deutsche Wege: Fehlstart 1923

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Hagens Arbeit ist medientechnisch pointiert. Er geht von einer »grundlegenden epistemologischen Differenz« (S. XX) aus, die die Medienentwicklung sehr lange vor dem Aufkommen des Radios quasi festgelegt hat: In Europa führte die Entdeckung der »Funkenübertragung« über okkulte Kreise zum »autoritär-imperial-ästhetisch(en)« (S. 284) Äthermedium Hörfunk; in Amerika hingegen entwickelte sich› das Radio aus der Elektrifizierung des Landes und dem Wechselstrom und wurde »korporativ-protosozialistisch« (S. 284). Die Frage nach dem »›richtigen‹ Radiosystem« freilich mache für eine Historik der Medien »keinen Sinn« und bleibe »unentscheidbar« (S. 284).

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Die realen, frühen Radioentwicklungen in Deutschland beschreibt Hagen eher exemplarisch, aber ganz anders als etabliert: Das Radio habe 1923 »einen grandiosen Fehlstart« (S. 117) hingelegt und sei von »einem überdehnten Kulturkonzept« (S. 113) getragen worden. Der Weimarer Hörfunk wollte die Gesellschaft erst gar nicht beobachten, und so blieb er ein »Radio-Vorspiel« (S. 113), »innovationsarm« (S. 141). Selbst die deutschen Intellektuellen seien über ein »heilloses Spekulieren« nicht hinaus gekommen. Einzig Hans Flesch, der Radiopionier und (u.a.) Autor der »frühen Sitcom« (S. 103) »Zauberei auf dem Sender« (1924), kann diesem Verdikt entgehen. Der große Anreger habe als einer von nur sehr wenigen deutschen Radiomachern (Weill, Brecht, Benjamin) die Idee eines anderen Radios besessen. Vom amerikanischen Modell freilich waren auch dieser alternativen Rundfunkkonzepte weit entfernt: »Kein noch so experimentierfreudiger Radiomacher kam auf die Idee, den Werkcharakter eines Radiostücks durch seine fortlaufende Serialisierung aufzulösen und zu verflüssigen« (S. 285).

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Das Begehren nach Stimme

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Der Hörfunk ist kein beliebiges, sondern ein rein technisch-akustisches Massenmedium. Es funktioniert zunächst ausschließlich durch unsichtbare Stimmen. Dies hat für das Programm und die Programmrezeption vielfältige Folgen. Die bisherige Radioforschung hat diese Priorität der Stimme (und ihre hierzulande okkulte Vorgeschichte) bisher kaum berücksichtigt und sich stärker auf die Inhalte konzentriert. Dies scheint sich nun langsam zu ändern. »Dass die Stimme Objekt des Begehrens ist, ist eine für die techno-epistemologische Genealogie des Radios als Massenmedium ganz unverzichtbare These« (S. 236). Hagen skizziert frühe Stimmenkonzeptionen (Freud, Schreber, Lodge, Kolb) und einzelne Folgen: ein Verismo des (deutschen) Radiosprechens.

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Auch Daniel Gethmann widmet sich der Übertragung der Stimme. Er zeichnet (wiederum mit deutlichen Schwerpunkten auf der Vorgeschichte) die für den Hörfunk nötige Differenzierung von Stimme und Körper seit der ersten Sprechmaschine (1783) nach. Gethmann analysiert (ebenfalls mit Lacan im theoretischen Hintergrund) die Herausbildung einer neuen »Radiostimme« (S. 20) bis 1945 – und setzt damit innovative Akzente: Zwischen 1923 und 1926 kam es im Radio vor allem darauf an, »Inhalte überhaupt verständlich (zu) machen« (S. 110). Dann feilte man an einer spezifischen Radiostimme, die im Live-Medium-Hörfunk freilich nur vordergründig auch eine freie Stimme war, denn das Live-Medium Radio sendete nur gelesene (und kontrollierte) Manuskripte; es basierte auf der »Verschriftlichung der Rede und ihrer Maskierung als spontanes Gespräch« (S. 114). Sprecher-Erziehung machte die »Textualität des Vor-Geschriebenen« »unhörbar« (S. 114) und sollte den Sprachgebrauch der Hörer normieren. Spätestens mit dem massenhafteren Einsatz von Aufzeichnungsgeräten wurde dann auch die »Erfindung einer virtuellen personalen Identität in der Radiostimme« (S. 141) möglich. Die Stimme, einmal aufgezeichnet, konnte immer wieder ausgestrahlt werden: Die Hitler-Reden 1933 sind nur ein Beispiel dafür. Das deutsche Radio hat also nie einfach nur Oralität, Mündlichkeit gefördert, das mediale »Du« war immer ein normiertes.

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Der Sound des Krieges

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In Deutschland war das Radio zwischen 1933 und 1945 ein Einheitsprogramm. Und da es ein zensiertes Medium war, konnte es (so Hagen) auch nie zum »Leitmedium« (S. 141) werden. Das NS-Radio setzte »auf einer diskursiven Tendenz eines Techno-Okkultismus und Techno-Spiritismus« (S. 139) auf und führte diese fort. Als am 8. April 1933 bei einer Hitler-Rede 800.000 SA-Angehörige deutschlandweit vor Lautsprechern, in denen der eigene Auftritt live übertragen wurde, stramm standen, wurde erstmals die »parasoziale Funktion der medialen Akzeptanz« (S. 117) deutlich, Realhörerlebnis und Hörerlebnis wurden eins, die Hörerschaft übers Radio verschaltet. Das »Medium Radio« wurde »zum Massenmedium« (S. 117), zum »Massenmedium gleichgeschalteter Art«. Im US-Radio setzte derweil die »Hochblüte der ›Radiodays‹« (S. 141) ein mit völlig neuartigen News-Show-Formaten, Daytime-Serials und literarisch experimentellen Formen etwa in den CBS-Workshops.

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Ästhetische Neuerungen freilich etablierte das NS-Radio nicht. Die März-Wahl 1933 gilt zwar inzwischen als die »vielleicht erste Medienwahl der Geschichte« (Hagen, S. 114). Es waren – so Hagen wie Gethmann – nicht Hitlers Reden, sondern die reportagehaften, radiospezifischen Inszenierungen des Paares Goebbels-Hitler, die ihre besondere Schlagkraft ermöglichte. Doch die Reden-Propaganda endete offenbar schon recht bald, und die Musik dominierte. Erst gegen Ende des Kriegs kam auch das – zuvor fast unbedeutende – Akustische im deutschen Hörfunk zu zentraler Bedeutung. Die – mit tragbaren Aufnahmegeräten gemachten – Reportagen der Kriegsberichterstatter schließen, so Gethmanns verblüffende These, »an eine lange Tradition der Geräuschkunst an« (S. 174). Gethmann sieht hier jedenfalls einen ersten »Paradigmenwechsel vom ›Wort‹ zum Sound als Stimmen- oder Geräusch-Klang« (S. 175).

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Radiohören

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Hagen und Gethmann verfolgen eine Medienwissenschaft, die den technologischen Bedingtheiten, der Materialität der Massenmedien, eine ganz bedeutende Rolle zubilligt. Entsprechend ausführlich sind ihre Historiken der technischen Medien. Die Kommunikationsfunktionen sind von der Technik abhängig, und deshalb geht es in den beiden Arbeiten gerade auch darum, was beim Sprechen im Radio und beim Radiohören eigentlich geschieht. Es geht um Radiopsychologie.

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Am dichtesten sind die Erfahrungen der Zeitgenossen in den Radiotheorien zu finden. Für Deutschland (mit seinem Einheitsprogramm) sind das vor allem Richard Kolbs »Horoskop des Hörspiels« und die Arbeiten des Freiburger Instituts für Rundfunkwissenschaft (1940–45). Beide spielten nach 1945 im bundesdeutschen Hörfunk höchstens eine untergründige Rolle. Mit dem Scheitern des frühen »Experiments einer kulturwissenschaftlichen Rundfunkforschung«, so Gethmann, war auch die »Forschungsfragestellung einer Verbindung von Radiotechnik und Stimmforschung« diskreditiert (S. 149). Hier endet auch Gethmanns Analyse.

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Anders als in Deutschland hatte sich im Amerika der vielen Programme bereits Mitte der 1930er Jahre ein »reichhaltiges Wissen« über die »subtilen und eigenartigen Rezeptionsweisen des Radios« (Hagen, S. 287) angesammelt. Radiotheoretisch prägend wurden hier die frühen Arbeiten von Paul F. Lazarsfeld. Hagen schildert sehr ausführlich die Entwicklungen in der US-Forschung und beschreibt (in einem sehr interessanten Teil) das Radiohören als »konatives«, eigenwilliges (S. 291) und dissimulatives Hören. Aufmerksam-nicht-aufmerksames Nebenbei-Hören könnte man dazu auch sagen.

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Amerika

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Die Darstellung der amerikanischen Entwicklungen dominiert (schon quantitativ) Hagens Radio-Buch (S. 142 – S. 381). Die fundamental andere amerikanische Radioentwickung ist in Deutschland weitgehend unbeschrieben geblieben. Die Geschichte von »Amos ’n’ Andy« etwa, einer von den weißen Radiomachern Freeman Fisher Gosden und Charles James Correll gesprochenen Serie mit schwarzen Helden: Die populärste und langlebigste Radioserie steht für die frühe »kommerzielle Radiokultur« (S. 207). Sie bedient – frei von journalistischen Ambitionen – ein (seit 1925) »offenbar fundamentales Bedürfnis«: »Radio in Amerika ist von Beginn an Simulation und Täuschung. Täuschung durch Simulation von Identitäten« (S. 225) – Hagen nennt das eine »oszillatorische Täuschung der Sinne« (S. 219). In Europa sei das undenkbar gewesen, in den USA wird dieses Angebot prägend.

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Ausgesprochen aufschlussreich sind Hagens Analysen der Panik um Orson Welles’ Hörspiel »Krieg der Welten« sowie seine Beobachtungen über die »Du«-Ansprachen der DeeJays, den Radio-Rock ’n’ Roll (»Mit dem R ’n’ R entsteht die erste mediale ›Jugendkultur‹«; S. 279), den Journalismusverzicht (S. 301 f.), den Aufstieg der Radioberater oder die neueren Formatradioentwicklungen. Spätestens mit der Einführung der Top 40-Formate werden die Radioprogramme nicht mehr nur vertikal (Serie), sondern auch horizontal serialisiert. Es geht nicht mehr um einzelne Sendungen, sondern um das Radio als ein »völlig neues ›aurales‹ Objekt« (S. 319), in dem das Programm quasi zur Sendung geworden ist.

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Die mehr als 200 Seiten über das US-Radio machen deutlich, wie weit die deutschlandbezogene Radioforschung den Entwicklungen hinterherhinkt. Denn über die zeitlich parallelen Entwicklungen in Deutschland (Aufstieg der Popmusik, Formatierung der Wellen, Privatradio, etc.) ist fast nichts bekannt. Hier gibt es vor allem eine, von der Medien- und Kommunikationswissenschaft offenbar gewollte, Forschungslücke. Das Thema harrt seit langem der Aufarbeitung.

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Optimistisch freilich enden Hagens gut lesbare US-Analysen nicht. Das Radio werde heutzutage in den USA vielfach nur noch als »Konsumverstärker« (S. 378) gesehen. Diese Programme leben quasi von der tradierten Radiosubstanz und brauchen die Stimme als Objekt schon (fast) nicht mehr. Die Tragfähigkeit dieser Befunde müsste für deutsche Verhältnisse dringend diskutiert werden.

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Radio und Autoren

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In Deutschland sind Radio und Kultur seit dem Beginn 1923 aufs engste miteinander verzahnt. Dennoch ist der Komplex (über einzelne Sammelbände wie Schriftsteller und Rundfunk (2003) hinaus) nicht wirklich medienwissenschaftlich aufgearbeitet worden. Über die Weimarer Radiokultur weiß man inzwischen zwar einiges, über die 1950er, die 1970er oder gar die 1990er Jahre nichts. Selbst an Analysen über die Kulturradios und ›Dritte Programme‹ (bzw. in Süddeutschland ›Zweite Programme‹) fehlt es. Längsanalysen über Radiokultur sind nicht einmal in Ansätzen vorhanden.

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Der Sammelband Radio Radio verspricht im Untertitel die seit langem vermissten Studien zum Verhältnis von Literatur und Rundfunk endlich zu liefern. »Vielfältige Anregungen für Studium und Forschung« (S. 5) kündigen die Herausgeber Heiner Boehncke und Michael Crone im Vorwort an. Doch auch in den »überarbeiteten Hausarbeiten der Studierenden« (S. 5) der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität (2002–2003) dominieren die Geschichten aus der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus, Bertolt Brecht, Walter Benjamin, Kurt Tucholsky, die Literaturkritik, das Publikum (1923–1933) und die NS-Propaganda. Es bleibt die Hoffnung, dass aus den hier publizierten Ansätzen neue Hörfunkarbeiten entstehen.

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Radiogeschichten von lebenden Schriftstellern

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Das letzte der neu erschienenen Radiobücher kommt nicht aus der Radiowissenschaft, sondern aus dem Radio. Der Sammelband Dichter am Äther dokumentiert Radiogeschichten von 21 lebenden Schriftstellern, die das Kulturradio WDR 3 2001 in der Kultursendung »Mosaik« ausstrahlte. »Fast alle, die im kulturellen Betrieb der Weimarer Republik etwas zu sagen hatten«, kamen – so Herausgeber Michael Kohtes in seinem kurzen Vorwort – »über kurz oder lang auf den Ätherwellen zu Wort«.

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Wie unterschiedlich die Wahrnehmung etwa der Weimarer Radiokultur heute noch ist, zeigt der Vergleich von Hagen und Kothes. Hagen registriert ein »Getto des attentistischen«, des abwartenden und unspezifischen, »Kulturanspruchs« (S. 85), Kothes »die blühende Radio-Kultur der Zwischenkriegszeit« (S. 11). Radio und Kultur – das Thema bedürfte dringend einer systematischeren, nicht auf die Jahre vor 1945 beschränkten Betrachtung. Ein genauerer Blick dürfte hier manches relativieren.

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Denn wie wenig die vielen Lobgesänge und die kritischen Abgesänge auf das kulturelle Medium Hörfunk die Realität reflektieren, das zeigen in dieser »einzigartigen Sammlung literarisch-essayistischer Texte zur Radiokultur« (S. 13) die 21 Autoren selbst. Was haben sie gehört, was hat sie geprägt? Und überhaupt: Wie gehen sie mit dem Radio um? Fast alle hören Radio nebenbei. Die Namen deutscher Sender sind selten. Und manchmal scheint es, als wären die kulturorientierten öffentlich-rechtlichen Wellen für die noch lebenden Autoren gar nicht so wichtig gewesen: Richard Wagner hört im fernen Rumänien Rias Berlin und Radio Luxemburg, Wilhelm Genazino AFN Frankfurt, Uwe Kolbe 1975 in Ostberlin AFN und die »vierzig Greatest Hits« (S. 61), und Adolf Muschg erinnerte sich: »Für mich sind SWF 3 oder AFN eigentliche Identitätsbildner gewesen« (S. 72). Die frühe Jugend- und Servicewelle, das amerikanische Radio und der US-Soldatensender. Die schriftstellernden Radiohörer waren offenbar schon früh nicht mehr dort, wo man sie noch heute gerne vermutet. Was für ein Thema.