Lukas über Führer: Studien zu Jacob Baldes <i>Jephtias</i>

IASLonline


Veronika Lukas

Spiegelfechtereien
um Jephtes Tochter

  • Heidrun Führer: Studien zu Jacob Baldes Jephtias. Ein jesuitisches Meditationsdrama aus der Zeit der Gegenreformation. Dissertationsschrift am klassischen und semitischen Institut der Universität Lund. Lund 2003.
    209 S. 7 Abb. Kart.
    ISBN 91-628-5600-6.


Die vorliegende Dissertation ist in ihren wesentlichen Teilen keine Neuerscheinung; die drei zentralen Kapitel sind in den Jahren 2000 und 2002 an verschiedenen Stellen in Form von Aufsätzen gedruckt worden 1. Vervollständigt wurde das Buch durch eine Einführung (Kap. 1) und einen nach Szenen gegliederten Überblick über den Handlungsverlauf von Baldes Tragödie (Kap. 2).

Die Mühe, die einzelnen Teile zu einem organischen Ganzen zu verschmelzen, hat sich die Autorin offenbar weitgehend erspart. So wird der Leser zu Beginn eines jeden der drei Texte aufs neue darüber belehrt, daß der Dichter Jacob Balde dem Jesuitenorden angehörte, sein Drama Jephte im Jahr 1637 als Schultheaterstück in Ingolstadt zur Aufführung und 1654 eine überarbeitete Fassung der Tragödie unter dem Titel Jephtias zum Druck brachte. Das mag für den Benutzer nicht mehr als ein wenig ermüdend sein 2; unangenehm allerdings ist, daß in den Fußnoten die unterschiedliche Zitierpraxis der einzelnen Aufsätze beibehalten wurde. Baldes Jephtias wird in Kap. 3 allein nach der Gesamtausgabe von 1729 zitiert 3, Kap. 4 wechselt zwischen dieser und der Originalausgabe 4, ohne in jedem Einzelfall kenntlich zu machen, auf welche Ausgabe sich die Seitenzahlen beziehen, Kap. 5 schließlich nennt benutzerfreundlich für jedes Zitat sowohl die Fundstelle in der Erstausgabe wie in den Opera omnia. Dafür fehlen in diesem Kapitel die deutschen Übersetzungen der lateinischen Texte, die in den beiden anderen das Verständnis der oftmals sprachlich schwierigen Zitate wenigstens stellenweise erleichtert haben 5. Eine Vereinheitlichung in diesen formalen Punkten hätte gewiß zur Brauchbarkeit der Arbeit beigetragen.

Baldes einzige Tragödie war in der Tat bisher nicht gerade ein Wunschkind der Forschung – lange Zeit wurde der Dichter fast ausschließlich als Lyriker rezipiert. Nun ist die Jephtias auch nicht unbedingt leicht zugänglich: Allein in ihren Dimensionen sprengt sie jedes realistische Maß eines wirklich spielbaren Dramas. Dazu kommt ein für heutige Maßstäbe kaum akzeptabler Stoff: Der alttestamentliche Richter Jephte gelobt vor der Schlacht, im Falle seines Sieges das erste Wesen zu opfern, das ihm aus seinem Haus entgegenkommen wird. Als dieser Fall tatsächlich eintritt, ist die Unglückliche, die das Los trifft, seine Tochter, sein einziges Kind. Nach einer Trauerfrist wird das Menschenopfer vollzogen 6. Sicher ein auch schon zu Baldes Zeiten nicht unproblematischer Stoff: Wie läßt sich ein Menschenopfer ausgerechnet für den biblischen Gott rechtfertigen, der diese Art von Kult sonst überall kategorisch ablehnt? Dennoch war der Jephtestoff im 16. und 17. Jh. als Dramenvorlage ausnehmend beliebt, was wohl in erster Linie der hochdramatischen Konstellation in der Begegnungsszene zu verdanken sein dürfte, die zur künstlerischen Ausgestaltung sicherlich verlockte.

Balde selbst nennt zwei seiner Vorgänger mit Namen, aber nur um sich von ihnen abzugrenzen: Die Tragödien von Georgius Buchananus und Jacobus Lummenaeus a Marca habe er nicht gekannt, als er seinen Jephte auf die Bühne gebracht habe, und er verfolge mit seinem Stück ein vollkommen anderes Ziel. Das Neue an seiner Bearbeitung des Jephte-Stoffes sei die theologische Ausdeutung 7, zu der sich Balde der im Mittelalter ausgearbeiteten, aber auch zu seiner Zeit noch aktuellen Technik der typologischen Bibelexegese bedient hat. Nach den theologischen Autoritäten 8 ist in dem Opfer der Jephtetochter das Kreuzesopfer Christi vorgebildet. In vielen Details macht Balde diesen typologischen Bezug in seiner Jephtias sichtbar. So trägt die Tochter bei ihm den Namen Menulema, den er selbst als Anagramm des Erlösernamens Emmanuel erklärt. Am Ende des Stückes, nachdem ein Botenbericht den Vollzug des Opfers geschildert hat, erhebt sich über der Bühne ein Bild der Auferstehung Christi. Weitere Anspielungen finden sich im Text.

Jephte und Jephtias

Diese theologischen Zutaten galten der Forschung bisher als Ergänzungen, die Balde erst seiner gedruckten Jephtias hat zukommen lassen, während der ursprüngliche Jephte auf die alttestamentliche Handlung beschränkt blieb 9. Und wirklich gibt die Perioche, das Einzige, was uns von der Erstfassung erhalten geblieben ist 10, keinerlei Hinweise in dieser Richtung. Der Inhalt der einzelnen Szenen wird lediglich mit den dürren Worten des Bibelberichts wiedergegeben.

Führer nun meint, Beweise gefunden zu haben, daß dennoch schon in der Ingolstädter Fassung des Dramas die "allegorische und präfigurative Struktur" der gedruckten Tragödie thematisiert worden sei (S. 53). Hauptsächlich stützt sie sich dabei auf ein Zitat aus den Annales Ecclesiastici Veteris Testamenti von Jacobus Salianus, das der Perioche zum Jephte vorangestellt war 11. In einem Epitaph auf den Helden finden sich dort unter anderem die Worte, er habe der Tragödie Gottes ein Vorspiel gegeben, divinae Tragoediae praeludens (S. 76 Anm. 17). Einen weiteren Hinweis findet Führer in der Ode, die Balde seinem älteren Freund Andreas Brunner anläßlich der Aufführung des Jephte gewidmet hat, Lyrica 1, 33. In diesem Gedicht wird die Jephtetochter explizit als Präfiguration Christi angesprochen 12. Durch diese zwei Stellen sieht Führer ihre These bestätigt (S. 89 mit Anm. 54).

Allerdings muß sich Führer fragen lassen, ob allein diese zwei Äußerungen ausreichen, um daraus zu folgern, Balde habe die typologische Entsprechung wirklich schon im Jephte thematisiert. Man darf wohl davon ausgehen, daß die allegorische Exegese des Alten Testamentes seinen Zeitgenossen durchaus präsent war 13, daß man also entsprechende Gedankengänge beim Publikum schon voraussetzen konnte, selbst wenn man sich auf eine Andeutung in der Perioche beschränkte. Schließlich hat die Vermutung von Valentin und Bauer einiges an Plausibilität für sich, daß die Überarbeitung, die nach Baldes eigenen Angaben auf die rein diesseitigen Jephtetragödien seiner Vorgänger reagierte, gerade diese Dimension des Stoffes deutlicher herausstellt.

Der Spiegel Othos

Was jedenfalls in der Jephtias von 1654 unbestreitbar neu ist, das ist die Einführung einer Nebenhandlung um den Liebhaber der Menulema mit Namen Ariphanasso und damit einer weiteren allegorischen Dimension, die auf die Liebesmystik in der traditionellen Hoheliedauslegung zurückgreift 14. Und hier ist Führer entschieden zu widersprechen, wenn sie auch diese Dimension schon 1637 verwirklicht sehen möchte (S. 89).

Der Perioche zum Jephte ist dies nicht zu entnehmen. Führer stützt sich vielmehr auf die Ode Lyrica 1, 33 "Ad Andream Brunnerum S. J. Jephten tragoediam exhibiturus Ingolstadii anno MDCXXXVII". Kap. 3 der Arbeit bietet unter dem Titel "Suche nach dem Spiegel Othos" eine Interpretation dieses Gedichtes.

Der titelgebende Spiegel findet sich dort in V. 20, wo ein puer aufgefordert wird (V. 18–24): "huc, Puer, ocyus, / Affer cothurnum, deme soccos! / Funde merum speculúmque Othonis / Majus corusca: quod varias mihi / Antiquitatis vibret imagines; / Rerúmque & aspectus locorum / Luminis objiciat repulsu". Die Verse illustrieren die Abkehr des Dichters von der bisher ausgeübten Komödiendichtung (dafür steht der soccus) 15 und seine Hinwendung zur Tragödie (vertreten durch den cothurnus).

Der Spiegel, den der puer zu schwenken aufgefordert wird, läßt im folgenden wie einen Film die ganze Jephte-Handlung ablaufen 16. Für einen ahnungslosen Leser stellt der Name Otho in diesem Zusammenhang tatsächlich ein Rätsel dar. Dessen Lösung versucht Führer nun auf einem geradezu abenteuerlichen Umweg. Sie greift sich die einzelnen von Balde evozierten Bilder und überlädt sie mit allen denkbaren allegorischen Bedeutungen, die sie an beliebiger Stelle aufgelesen hat, vor allem in der zeitgenössischen Emblematik. Da die Emblemkunst im wesentlichen darin besteht, in jeder Erscheinung der sichtbaren Welt Hinweise auf einen verborgenen Sinn ausfindig zu machen, sind emblematische Parallelen zu den poetischen Bildern Baldes relativ leicht zu finden, das Gedicht somit als durchgehend allegorisch zu deuten.

Der Spiegel Othos, dem Führer die Schlüsselrolle in ihrem konstruierten Allegorisierungsprozeß zuschreibt, kann ihrer Meinung nach folglich nichts anderes sein als ein zeitgenössisches Emblembuch, und ihre Wahl fällt auf die Amoris divini emblemata des Otto van Veen von 1615 (S. 85) 17. Damit verweise Balde in der Jephte-Ode explizit auf ein Buch, das die Liebesthematik schon im Titel führt, und damit wiederum ist für Führer geklärt, daß schon 1637 diese Thematik auf die Bühne gebracht worden sein muß. In welcher Form sie sich das vorstellt, darüber macht sie keine Angaben.

Es hätte allerdings auch einen direkten Weg gegeben, das Rätsel um den Spiegel Othos aufzuklären, und zwar über einen Blick in die zweisprachige, kommentierte Ausgabe der ersten beiden Lyrica-Bücher von Andrée Thill 18. Hier wäre Führer belehrt worden, daß es sich bei dem speculum Othonis lediglich um ein Zitat nach dem von Balde sehr geschätzten Satiriker Juvenal handelt, der den effeminierten Kaiser Otho karikiert: Selbst mitten im Bürgerkrieg habe dieser Wert darauf gelegt, immer einen Spiegel in seinem Gepäck zu haben, in dem er sich dann in voller Waffenrüstung bewundert habe 19. Balde könnte zur Übernahme des Bildes von Juvenals Worten civilis sarcina belli angeregt worden sein, die den Spiegel mit kriegerischen Handlungen in Verbindung bringen und zugleich mit der Betonung der Last (sarcina) eine gewisse Größe des Gegenstandes andeuten. Daß zudem das speculum Othonis so etwas wie sprichwörtlichen Wert hatte, zeigt der von Führer zitierte Otho van Veen selbst: Wenn man Führer glauben darf, die leider keine Quelle angibt, hat er ein Selbstbildnis im Spiegel (selbstironisch?) mit dem Titel Speculum Othonis versehen (S. 85).

Man wird in Baldes Nennung Othos genausowenig eine Anspielung auf das Emblembuch van Veens sehen dürfen wie in dem puer, den Führer mit den Amoretten des Liebesemblematikers in Verbindung bringt (S. 87). Der puer, den Balde aus den Oden des Horaz übernommen hat, erfüllt bei ihm eine fest umrissene Funktion: Sein Auftreten signalisiert jedesmal einen Wechsel in der Dichtungsgattung bzw. das Beenden der dichterischen Aktivität 20. Die vorliegende Stelle, wo der Übergang von der Komödie zur Tragödie thematisiert ist, macht davon keine Ausnahme.

Ebensowenig ist in irgendeinem der anderen von Führer zitierten Bilder aus Lyrica 1, 33 notwendigerweise das Liebesthema angeschlagen. Das Gedicht ist also untauglich als Beleg für ihre Interpretation sowohl des Jephte als auch der Jephtias. Noch weniger brauchbar in dieser Hinsicht sind freilich die beiden Kupferstiche, die sie im folgenden Kapitel, "Bild und Text – die inventio-Technik Jacob Baldes", behandelt.

Die geharnischte Muse

Zunächst bespricht Führer in dieser Studie den Titelkupfer zur Jephtias von 1654. Nachdem dieser für ihre Neuinterpretation des Stückes allerdings wenig ergiebig ist – es handelt sich um eine im Vergleich zu anderen Balde-Titeln relativ leicht zu entschlüsselnde Illustration der zentralen Szene des Dramas mit Hinweisen auf die typologische Deutung –, geht sie bald zu einem weiteren Kupferstich über: dem Titel der Opera poetica Baldes, die 1660 in Köln erschienen. Wie derjenige der Jephtias stammt er von Wolfgang Kilian, der oft mit Balde zusammenarbeitete.

Der Bezug zur Jephtias ist nicht sofort einsichtig und wird von durch eine womöglich noch gewagtere Assoziationskette hergestellt, als man sie im vorhergehenden Kapitel verfolgen durfte.

Dargestellt sind zwei Frauen, eine sitzende, die damit beschäftigt ist, einen Kranz zu winden, und eine stehende, die gen Himmel auf das Sternbild der Lyra weist. Diese letztere zeichnet sich durch ihre kriegerische Rüstung aus – Helm, Lanze, Brustpanzer und Schild mit einem Medusenhaupt, die klassischen Attribute der Göttin Minerva / Pallas Athene. Laut Führer (S. 106) ist sie "unschwer als Muse, Artemis oder Urania erkennbar". Dieser Satz verliert wohl auch dann nichts von seiner Absurdität, wenn man beim Weiterlesen allmählich erkennt, daß für Führer alle antik-heidnischen Göttinnen grundsätzlich Musen sind, so die Athene auf einem Emblem von Alciato 21, das sie zum Vergleich heranzieht, und das ihr eigentlich hätte deutlich machen müssen, daß es sich bei der auf Kilians Kupferstich dargestellten Gottheit um die nämliche handelt.

Stattdessen interpretiert sie diese Gestalt als die Tragödienmuse Melpomene 22, die Balde tatsächlich in der Dedicatio seiner Jephtias mit der Göttin Pallas vergleicht 23, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß auf ihrem Schild gerade nicht das Medusenhaupt abgebildet ist, sondern ein Ziegenbock 24 als Anspielung auf die Etymologie des Terminus Tragödie.

Allein dieser Umstand hätte schon deutlich machen müssen, daß auf dem Kupferstich nicht die Muse Melpomene dargestellt ist, sondern die Göttin Pallas selbst 25, zumal wir es hier nicht mit einer gesonderten Edition der Tragödie oder auch nur der dramatischen Werke Baldes, sondern mit einer Sammelausgabe zu tun haben, an deren Spitze zudem seine Lyrik steht. Um den von Führer hergestellten Bezug zu konstruieren, braucht es also einen sehr eingeengten Blick und einen sorglosen Umgang mit den Gegebenheiten 26.

Ihre weiteren Interpretationen, aufbauend auf dem "versteinernden, auf Bauch und Geschlecht des Mädchens gerichteten Blick" (S. 109) des Medusenhauptes – womit sie schließlich wieder bei der Liebesthematik angekommen ist – müssen wohl nicht mehr im einzelnen besprochen werden. Im Hinblick auf "Baldes inventio-Technik" ergibt sich auf dieser Grundlage nichts Neues.

Postmoderne Beliebigkeit

Das fünfte, umfangreichste Kapitel endlich, "Ein Menschenopfer zur Ehre Gottes und zum Trost der Menschen", wendet sich dem Text der Tragödie selbst zu. Das neue an Führers Methode besteht dabei, wie es in der Einführung heißt, in der erstmaligen Berücksichtigung der "fachübergreifenden Ergebnisse der Barock- und Allegorieforschung zu gelehrten Texten der Frühen Neuzeit mit ihren affekt-rhetorischen Strukturen und einer genreübergreifenden Intertextualität" (S. 56).

Was damit gemeint ist, geht konkret auf einen Aufsatz von Barbara Bauer zurück 27. Dort wird der Grundgedanke der Postmoderne, daß ein Text nicht eine absolut gültige Bedeutung hat, sondern, in Abhängigkeit von den Voraussetzungen des Rezipienten, prinzipiell offen ist für Lesarten, selbst konkurrierende, die der Autor unter Umständen selbst nicht wahrgenommen hat, auf seine Fruchtbarkeit für die Beschäftigung mit frühneuzeitlichen Texten untersucht. Bauers Fallbeispiele zeigen, daß dieser Ansatz zu interessanten und beachtenswerten Ergebnissen führen kann.

Allerdings lassen Formulierungen wie "die unerschöpfliche Potentialität von Texten" 28 sich leicht als Legitimation interpretatorischer Beliebigkeit mißverstehen. Das beste Beispiel dafür bietet Führers Arbeit. Die Problematik ihres Ansatzes könnte man vielleicht, zugespitzt formuliert, darin sehen, daß sie als Prätexte für den intertextuellen Bezug von Baldes Tragödie weniger tatsächliche Erzeugnisse der Zeit heranzieht als vielmehr moderne Sekundärliteratur, von der sie eine beachtliche Liste zitiert.

Daß man auf diese Weise in einen hermeneutischen Zirkel gelangt, liegt auf der Hand: Man versucht einen Text zu erklären mit Hilfe von Deutungsmustern, die andere aus eben diesem Text entwickelt haben. Bestenfalls kann eine solche Vorgehensweise ergeben, daß der untersuchte Text sich hervorragend in ein vorgegebenes Bild – von einer Epoche, dem Œuvre eines bestimmten Autors oder Ähnlichem – einfügt. Im schlimmeren Fall kommt es zu regelrechten Absurditäten, wenn einem Text Bedeutungen aufgepfropft werden, die ihm nicht entsprechen.

Als Beispiel sei Führers politische Interpretation des Dramas genannt: In der Antagonie zwischen Jephte und seinem Gegner Ammon will sie eine allegorische Darstellung des Gegeneinanders von Gott und Satan erkennen (S. 131), das sie durch einen Hinweis auf die "berühmte Zwei-Banner-Betrachtung" der ignatianischen Exerzitien als spezifisch jesuitische Weltdeutung interpretiert. Zu gleicher Zeit freilich stehen die Ammoniter auch für die "Häretiker" (S. 135), was den Krieg gegen sie rechtfertigen und zugleich als Parteinahme in den zeitgenössischen Konfessionskämpfen zu verstehen sein soll. Für diese Interpretation bietet der Text nicht den geringsten Anhaltspunkt: Häretiker sind nach traditionellem Verständnis diejenigen, die sich von der Orthodoxie abgespalten haben, aufgrund von eigenmächtiger Interpretation der Glaubenslehre, aus Streben nach irdischen Vorteilen oder aus sonstigen Gründen. Die biblischen Ammoniter hingegen sind Feinde der Israeliten von Anfang an, könnten also, wenn eine allegorische Interpretation denn durchaus sein muß, allenfalls als verstockte Heiden gelten.

Wenn Führer schließlich in der durch die Bibelerzählung vorgegebenen Ausgangssituation der Entzweiung zwischen Jephte und seinen Brüdern einen Hinweis auf die "Streitereien zwischen den Wittelsbachern und Habsburgern um den Führungsanspruch" und damit eine diskrete politische Stellungnahme Baldes erkennen will (S. 139), kann man dies nur noch als Ausgeburt einer blühenden Phantasie werten.

In diesem Stil ist die ganze Studie gehalten: Es muß einfach alles in Baldes Stück enthalten sein, Baldes Marienminne – Menulema ist nicht nur eine Allegorie Christi, sondern auch Marias, sie ist ja schließlich auch eine virgo (S. 146) – ebenso wie die Gewissenserforschung der ignatianischen Exerzitien (S. 151).

Am Ende bleibt der Leser, wenn er sich denn durch die oftmals holprigen und bis zur Unverständlichkeit ungeschickt formulierten Sätze 29 hindurchgequält hat, ratlos zurück. Was Balde mit seiner Tragödie vom Opfer der Jephtetochter nun wirklich aussagen wollte, ist unter einem Wust von möglichen und unmöglichen Interpretationen verschwunden.


Dr. Veronika Lukas
Monumenta Germaniae Historica
Ludwigstr. 16
D-80539 München

E-Mail mit vordefiniertem Nachrichtentext senden:

Ins Netz gestellt am 02.02.2004
IASLonline

IASLonline ISSN 1612-0442
Copyright © by the author. All rights reserved.
This work may be copied for non-profit educational use if proper credit is given to the author and IASLonline.
For other permission, please contact IASLonline.

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Gernot M. Müller. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.


Weitere Rezensionen stehen auf der Liste neuer Rezensionen und geordnet nach

zur Verfügung.

Möchten Sie zu dieser Rezension Stellung nehmen? Oder selbst für IASLonline rezensieren? Bitte informieren Sie sich hier!


[ Home | Anfang | zurück | Partner ]

Anmerkungen

1 Kap. 3 in: Arne Jönsson / Anders Piltz (Hg.): Språkets speglingar. Festschrift till Birger Bergh, Lund 2000, S. 202–216; Kap. 4 als: Bild och Text – Baldes inventio-teknik. In: Hans-Erik Johannesson u. a. (Hg.), Tradition och Fönyelse, Stockholm 2002, S. 315–336 (dieser Text wurde für das vorliegende Buch ins Deutsche übersetzt); Kap. 5 in: Neulateinisches Jahrbuch 4 (2002) S. 89–154.   zurück

2 Wer allerdings seine Lektüre mit der Einführung beginnt, wird bald auf ernste Schwierigkeiten stoßen: Vieles baut auf den Ergebnissen der nachfolgenden Studien auf und ist ohne deren vorhergehende Lektüre schlicht unverständlich. Gerade in solchen Fällen wäre eine einheitliche Überarbeitung des ganzen Werks von großem Nutzen gewesen.   zurück

3 Opera poetica omnia, München 1729, Nachdruck hg. von Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand, 1990, Bd. 6, S. 1–193.   zurück

4 Jephtias Tragoedia, Amberg 1654.   zurück

5 Fraglich wird freilich der Nutzen von Übersetzungen, wenn sich solche Elementarfehler darin finden wie S. 93 Anm. 16, wo Baldes Anforderung an seine Leser "oculatas aures habent" übersetzt wird mit "haben sie Augen, die wirklich sehen".   zurück

6 Richter 11.   zurück

7 Jephtias, Amberg 1654, Prolusiones S. 2: "Neuter ex illis ad Mysterium assurgit. Neuter aliquid coeleste divinúmque in hujus Virginis Fato agnoscit".   zurück

8 Balde selbst zitiert die Exegeten Jacobus Salianus, Nicolaus Serarius und Cornelius a Lapide in seinen Prolusiones, v. a. S. 5–13.   zurück

9 Veranlaßt habe er sich dazu durch die Bekanntschaft mit den zitierten Jephtedramen gesehen, in denen er die theologische Dimension vermißt habe, so Barbara Bauer, Apathie des stoischen Weisen oder Ekstase der christlichen Braut? Jesuitische Stoakritik und Jacob Baldes Jephtias. In: Sebastian Neumeister / Conrad Wiedemann (Hg.): Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 14, 2), Wiesbaden 1987, S. 453–474, dort S. 461, in ähnlichem Sinn schon Jean-Marie Valentin: Hercules moriens. Christus patiens. Baldes Jephtias und das Problem des christlichen Stoizismus im deutschen Theater des 17. Jahrhunderts. In: Argenis 2, 1978, S. 37–72, dort S. 55.   zurück

10 Abgedruckt bei Jean-Marie Valentin (Anm. 9).   zurück

11 Bei Jean-Marie Valentin (Anm. 9) S. 68.   zurück

12 V. 74–76: Tu nascituro nobilis hostia / Dicere praelusisse Christo, / Sorte tui pretiosa fati.   zurück

13 Vgl. auch Fidel Rädle: Das Alte Testament im Drama der Jesuiten. In: Franz Link (Hg.): Literarische Typologie des Alten Testaments. Berlin 1989, Bd. I
S. 239–251.   zurück

14 Balde erklärt den Namen Ariphanasso als Anagramm aus Pharaonissa; damit sei die Pharaonentochter gemeint, der König Salomo seine Liebesdichtung im Hohen Lied gewidmet hat.   zurück

15 Vgl. V. 5–8: Olim in theatrum sex modios salis / Terentiani sparsimus; et molam / Versare cum Plauto coacti / Movimus in podio cachinnos. Von Baldes Komödienproduktion ist nur ein Stück erhalten, der Jocus serius theatralis, am
1. 10. 1629 in Innsbruck aufgeführt (hg. Jean-Marie Valentin in: Euphorion 66 (1972) S. 412–436).   zurück

16 Besonders schön gestaltet Balde den Übergang von der Realität des Spiegels in die Illusion in dem Vers 27 hic molle vitrum trudat Arnon: Das Glas, vitrum, des Spiegels wird weich, molle, verflüssigt sich und verwandelt sich so in den Fluß Arnon, der die Grenze zwischen den Israeliten und ihren Feinden darstellt. Führer widmet der Stelle längere Ausführungen (S. 80 f.), verfehlt aber den Sinn vollständig, weil sie sich auf die möglichen allegorischen Deutungen des Glases versteift (etwa auf das unbeständige Glück), ohne je die Funktion des Bildes im Kontext des Gedichtes zu berücksichtigen.   zurück

17 Daß es, selbst wenn die Identifizierung aufgrund des Namens zutreffend wäre, nicht unproblematisch ist, aus dem reichen Œuvre vanVeens, der nach Führer "mehrere populäre Emblembücher mit historischen, weltlichen und religiösen Inhalten geschaffen" hat (S. 85), ohne weitere Begründung genau dasjenige herauszugreifen, das zur Bestätigung der eigenen vorgefaßten Meinung am besten paßt, sei nur am Rande vermerkt.   zurück

18 Andrée Thill (Hg.): Jacob Balde, Odes, livres I–II, (Mulhouse) 1987, S. 267.   zurück

19 Vgl. Juvenal, Satire 2, 99–103: speculum, pathici gestamen Othonis, / Actoris Aurunci spolium, quo se ille videbat / armatum, quum iam tolli vexilla iuberet. / res memoranda novis annalibus atque recenti / historia, speculum civilis sarcina belli.   zurück

20 Die Stellen sind aufgelistet bei Andreas Heider: Spolia vetustatis. Die Verwandlung der heidnisch-antiken Tradition in Jakob Baldes marianischen Wallfahrten: Parthenia, Silvae II Nr. 3 (1643) (Münchner Balde-Studien 1) München 1999, S. 44 f.   zurück

21 Vgl. S. 106: "Die Gemeinsamkeiten zwischen Alciatos Emblem und der Illustration Kilians liegen in der Gestaltung der Musen mit gleichen Attributen".   zurück

22 Für einen unvoreingenommenen Betrachter dürfte der Melpomene eher die sitzende Frauengestalt entsprechen, in Anlehnung an die letzten Verse von Horazens drittem Odenbuch (carm. 3, 30, 15 f.: et mihi Delphica / lauro cinge volens, Melpomene, comam).   zurück

23 Vgl. fol. 2r: Soli inter Musas hasta permittitur, tamquam Palladis aemulae.   zurück

24 Ebd.: Quod miremur, in illo (sc. clypeo) faedissimum animal, hircum insculptum gestat.   zurück

25 Die im übrigen auch den Titel von Baldes Encomium vultuosae torvitatis, München 1658, ziert.   zurück

26 Einigermaßen kryptisch bleibt ihre Erklärung in Anm. 70 auf S. 107: "Die Anspielung auf die tragischen Werke sehe ich durch die Ähnlichkeit der Kilian Muse mit der von Balde beschriebenen Muse in der "Dedicatio" vor allen Dingen durch die Beziehung zwischen der Theatermaske und dem Schild Athenes gegeben".   zurück

27 Barbara Bauer: Intertextualität und das rhetorische System der Frühen Neuzeit. In: Wilhelm Kühlmann / Wolfgang Neuber (Hg.): Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven, Frankfurt / Main 1994, S. 31–61.   zurück

28 Ebd. S. 37.   zurück

29 Man lese als Beispiel, willkürlich herausgegriffen, auf S. 151: "Jephtes und Ariphanassos echt anmutende Willensfreiheit dokumentiert sich nachvollziehbar im temporären, affektbezogenen Schwanken in einer langen Phase der Selbsterforschung mit einem symbolischen, dreimaligen Widerruf ihrer Billigung des Opfers. Ihr Zweifeln verleiht den statischen Figuren eine gewisse Dynamik."   zurück