Marquardt über Strobel: Entzauberung der Nation

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Franka Marquardt

Doppelte Optik auf Deutschland:
Thomas Mann über seine Nation

  • Jochen Strobel: Entzauberung der Nation. Die Repräsentation Deutschlands im Werk Thomas Manns. Dresden: Thelem 2000. 394 S. Kart. DM 68,-.
    ISBN 3-933592-01-1.


Zunächst einmal entzaubert Jochen Strobel eine Basiskategorie seiner Untersuchung: Zwar widmet er sich dem Reden von Deutschland "im Werk Thomas Manns", aber dieser ganz besonders große Autorname dient ihm vornehmlich in seiner "klassifikatorische[n] Funktion", durch die man "eine gewisse Zahl von Texten" besonders gut "gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen" 1 kann. Indem Strobel also von vornherein eine methodische Trennung zwischen der "empirischen Person Thomas Mann" (S. 24) und ihren Texten vornimmt, befreit er sich gleich zu Beginn seiner Studie von der Last gerade dieser Autorfigur, die ihrem Werk wie wenig andere eine Fülle von Selbsterklärungen, Leseanleitungen und >autorisierten< Textauslegungen beigegeben und damit auch tatsächlich ganz besonders rezeptionslenkend gewirkt hat.

Strobel verzichtet nun aber weitgehend auf die mit der >Autor<- und >Œuvre<-Kategorie so oft verbundenen Einebnungen und Glättungen. Seinem Gegenstand nähert er sich aus souveräner Distanz nicht nur zu auktorialen Selbstausdeutungen, sondern auch zu den hagiographischen Schwächen und habituellen Vorannahmen der Rezeptions- und Forschungsgeschichte. Er legt seine Studie als eine Reihe von Einzelanalysen verschiedener Texte und Textsorten an, die zwar alle aus ein und derselben Feder stammen und alle um ein und dasselbe Thema kreisen, deren Umgang mit dem "Mythos Deutschland" sich unter Strobels unbestechlichem Blick aber als so unterschiedlich erweist, dass auch das sie einende Band des Autornamens zuweilen als bloße Hilfskonstruktion sichtbar wird.

Indem Strobel hier also die Unterstellung von Einheitlichkeit und Kohärenz vorübergehend suspendiert, macht er den Blick frei für text- und œuvreimmanente Brüche und Widersprüche in diesem "Lebenswerk", aus denen sich dann ein ganz besonders differenziertes Bild vom "Mythos Deutschland" und Thomas Manns vielstimmigen Reden von ihm rekonstruieren lässt.

"Nation" als "Narration"

In seiner Herangehensweise unterwirft Strobel Thomas Manns essayistisches Werk keinem anderen Instrumentarium als sein erzählendes — beide lassen sich mit den Mitteln des Literaturwissenschaftlers sezieren. Und auch die "große Erzählung" 2 von der deutschen Nation liest Strobel als "Text" (vgl. S. 16), so dass der Prozess und die Geschichte ihrer Mythisierung, Trivialisierung, Radikalisierung und eben auch "Entzauberung" insgesamt ebenfalls als ein "narratives Verfahren" (S. 15) sichtbar und analysierbar wird. Als "argumentativer Rahmen" (vgl. Kap. 1,2) ergibt sich aus dieser Prämisse von "Nation" als "Narration" 3 die Geschichte der "deutschen Nation" als eines Texturengeflechts, in das Thomas Mann einerseits per se immer schon hineingestellt ist, an dem er mit seinen Texten andererseits aber auch aktiv mit webt und weiter schreibt.

Vor diesem Hintergrund macht sich Strobel nun auf die Suche nach diskursiven Erscheinungsweisen der Repräsentation Deutschlands, aus denen er einen Satz von "Grundtypen" (S. 18) heraus präpariert, die er dann auch bei Thomas Mann in verschiedenen Modifikationen wieder findet. Dazu gehören Deutschlands mittlere Position in der "semantisierten Topographie Europas", ein "Set von nationalen Eigenschaften" und jene "großen Männer", in denen sich diese verdichten (ebd.).

Strobels methodisches Verfahren erscheint in seinem ersten Schritt als der Ansatz zu einer besonders disziplinierten Form der Dekonstruktion, die dann allerdings ganz bewusst nicht durchgeführt wird: Zunächst zerlegt Strobel seine Texte schichtweise, um dann die sezierten Einzelteile gegeneinander halten und dadurch die Texte insgesamt wiederum an ihren je eigenen Vorgaben messen zu können. Vor allem für Thomas Manns Romane und Erzählungen legt Strobel dadurch methodisch präzise ihre inneren Spannungen und Ambivalenzen frei, durch die die Repräsentierbarkeit Deutschlands an der Textoberfläche erprobt, in der Tiefenstruktur aber unterwandert, eben >dekonstruiert< wird.

Mit diesem Befund, dass Ambivalenzen auch und gerade dort generiert werden, wo "Deutschland und die Deutschen" im Erzählwerk zur Sprache kommen, gibt sich die Untersuchung aber noch lange nicht zufrieden. In einem zweiten Schritt setzt sie die aufgefächerten Textlagen zumindest so weit wieder zusammen, dass eine Projektion auf ihren diskursiven Rahmen, dem das >Ganze< entnommen ist, wieder möglich wird. So werden sowohl die text- als auch die textkorpusimmanenten Widersprüche und "Unstimmigkeiten" als Polyvalenzen sichtbar, die Strobel im Gang seiner Untersuchung Thomas Manns immer wieder offen legt, um sie dann diskursgeschichtlich zu rekontextualisieren.

Weder erklärt noch glättet Strobels Studie die Heterogenität ihres Arbeitsfeldes, sondern fördert sie, im Gegenteil, gerade systematisch zu Tage. Die analytisch sezierte und dabei oft in sich widersprüchliche Vielschichtigkeit der Texte nutzt sie dann gezielt aus — nicht etwa, um ihren potenziellen Sinngehalt dekonstruktivistisch kollabieren zu lassen, sondern um die "große Erzählung" von der "deutschen Nation" anhand der Romane, der Reden und der Selbstreflexionen dieses einen "großen Mannes" ohne vorschnelle Ausblendung ihrer Inkohärenzen möglichst gründlich auszuleuchten.

Textkorpus

Bei seinem Durchgang durch Thomas Manns Lebenswerk hält sich Strobel eng an die durch die Entstehungschronologie vorgegebene Ordnung. Pro Kapitel nimmt er sich ausführlich einen Haupttext vor — "Königliche Hoheit", "Betrachtungen eines Unpolitischen", "Der Zauberberg", "Lotte in Weimar", "Doktor Faustus"; als Repräsentanten des "Erzählens nach 1945" stehen im letzten Kapitel "Der Erwählte", "Die Betrogene" und "Felix Krull" gleichwertig nebeneinander — um den herum dann andere, meist kleinere Erzähltexte, Essays oder Reden gruppiert werden. So kommen etwa auch "Der Tod in Venedig", "Gesang vom Kindchen", "Das Gesetz", "Deutsche Hörer!", "Goethe und Tolstoi", "Deutschland und die Deutschen" oder die "Nietzsche-Rede" von 1947 ausführlicher zur Sprache.

Deckt Strobel damit auch den größten Teil des Mannschen Œuvres repräsentativ ab, so lässt er uns doch über die genauen Kriterien seiner Textauswahl weitgehend im Dunkeln. Das thematische Ausschlussverfahren, dass dabei noch am ehesten als Grundlage sichtbar wird, erweist sich im Einzelfall als anfechtbar. Denn dass ">Deutschland< und seine Repräsentation in den frühen Erzähltexten noch kaum einen Rang" habe und sich namentlich "Buddenbrooks" dem Deutschland-Thema nur "am Rande" widme (S. 57), lässt sich durchaus bestreiten.

Während Strobel Thomas Manns Erstlingsroman und Nobelpreiswerk ausklammert, widmet ihm Yahya Elsaghe in seiner zeitgleich erschienenen Paralleluntersuchung "Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das >Deutsche<" ein besonders umfangreiches Unterkapitel. 4 Darinverfolgt Elsaghe u.a. das Verweisungsgeflecht, durch das die deutsche Geschichte in die "Vaterstadt" hinein geholt und "hintergründig und unauffällig, aber eben doch konsequent auf die Familiengeschichte der Buddenbrooks bezogen" 5 wird.

Strobel unternimmt zwar eine Rechtfertigung seines Ausschlusses (vgl. S. 57f.), vermag damit aber kaum zu überzeugen: Dass Thomas Buddenbrooks "Repräsentation [...] nur auf das städtische Bürgertum bzw. das Gemeinwesen selbst" gerichtet und dabei die "Nation, künftiges Objekt der Repräsentation, [...] noch keine gültige Alternative" sei (S. 57), mag zwar zutreffen, genügt aber den Maßstäben, die Strobel selbst in dieser Arbeit gesetzt hat, noch nicht. Ausnahmsweise verkürzt Strobel hier seine sonst so breit angelegte Analyseperspektive auf nur eine Erzählebene im Roman, auf nur eine Figurenperspektive nämlich, die als alleinige Argumentationsgrundlage unbefriedigend bleibt.

Aus Gründen der Arbeitsökonomie durchaus nachvollziehbar, nach Anlage der Arbeit aber ebenfalls kaum zu rechtfertigen, ist auch die Aussparung der "Joseph"-Tetralogie. Zwar hält das V. Kapitel seinen Untersuchungsgegenstand gerade durch den Verweis zusammen, dass die darin behandelten Texte allesamt "Nebenprodukte des Joseph" seien (S. 177), im Gang des Kapitels wie in der Untersuchung überhaupt spielen "Joseph und seine Brüder" dann aber fast überhaupt keine Rolle. Warum Strobel ausgerechnet in diesem Untersuchungsabschnitt von seiner Gliederung abweicht und den eigentlichen Haupttext der Zeit und des Kapitels als Kristallisationspunkt ausblendet, bleibt ein Rätsel — nicht zuletzt auch deshalb, weil es die "Joseph-"Romane wie kaum ein anderer Text Thomas Manns mit Fragen und Erzählstrategien von Re- und Entmythisierung zu tun haben, die je länger je mehr auch in Strobels Argumentationsverlauf eine wichtige Rolle spielen.

"Mythos"

Denn am Ende scheint auf eben diese Kategorie auch bei Strobel alles zuzulaufen: Das "entzaubernde Moment", das er seiner These gemäß aus dem Textkorpus heraus destilliert, entspringt schließlich nichts anderem als einer "komplexen Dialektik von Ent- und Remythisierung" (S. 334), die vor allem Thomas Manns erzählende Texte immer wieder inszenieren.

Obwohl nun dem >Mythos<-Begriff in Strobels Fazit also eine geradezu konstitutive Rolle zukommt und obwohl die Thomas-Mann-Forschung, allen voran die "Joseph"-Forschung, 6 zahlreiche Ansätze in dieser Richtung schon bereit gestellt hat, bleibt Strobels Verwendung ausgerechnet dieses Konzepts merkwürdig undifferenziert. Hier scheint er selbst einer suggestiven >Verzauberung< durch eine allzu eingängige Denkfigur zu unterliegen: Zwar nimmt Strobel gleich in seiner Einleitung im Rekurs auf Roland Barthes und Wülfing / Bruns / Parr (vgl. S. 15) eine knappe Definition dieses alles entscheidenden Terminus' vor, problematisiert ihn und seine Anwendung im Verlauf der Studie dann aber nicht mehr. Die Festlegung des Mythos als "eine häufig wiederholbare, bedeutungsarme und daher oft zum Zweck der Veranschaulichung nur repräsentierbare, >erstarrte Aussage<", die durch "spezifische Topiken wie Zyklik und Wiederholung" auch als narratives Verfahren ("Mythisierung") greifbar wird (S. 15), erscheint in dieser Knappheit problematisch.

Beides, die Kategorie des >Mythos< und das Erzählverfahren der "Mythisierung", werden hier bereits in die suggestive Nähe einer ebenfalls "erstarrten" Dichotomie gerückt, die im Laufe der Untersuchung noch mehrfach im Hintergrund der Argumentation aufscheint: Es finden sich noch öfter verstreute Bemerkungen zum Gegensatz von "mythischer Wiederholung" und "historischer Prozeßhaftigkeit" (S. 282) — das gesamte Kap. VI.6 ist "Geschichte und Remythisierung" überschrieben — obwohl auch dieses Denkklischee spätestens durch Hans Blumenberg 7 seinerseits eine gründliche >Entzauberung< erfahren hat. Nach seiner Vorarbeit am Mythos-Begriff geht die simple Gegenüberstellung von Mythisch-zyklisch-Prärationalem und Historisch-linear-Rationalem nicht mehr so ohne weiteres auf. So scheint es kein Zufall, dass nicht nur der "Joseph", bei dessen Auslegung man um diese Fragen nicht herum kommt, sondern auch Blumenbergs Standardwerk zum Thema in Strobels insgesamt sehr umfangreicher und wohl sortierter Bibliographie nicht zu finden sind.

Fehlbesetzungen

Strobel beginnt also mit Thomas Manns zweitem Roman, in dem er zum ersten Mal ein Repräsentationsverhältnis, obgleich kein "nationales", in Szene gesetzt sieht. Es zeigt sich dabei rasch, dass nicht erst Adrian Leverkühn, sondern bereits Klaus Heinrich für dieses Thema eine "Fehlbesetzung" ist (vgl. S. 264), und zwar allein schon dadurch, dass der Roman ihn überhaupt als eine >Besetzung< vorführt:

Bei genauerem Hinsehen wird in "Königliche Hoheit" (erschienen 1909) eben nicht von einem Repräsentanten und seinem Repräsentat erzählt, sondern vielmehr von der Unmöglichkeit dieser Repräsentationsbeziehung; schon dem Neugeborenen wird sie nur "bei der zermoniös ablaufenden Geburt von außen auferlegt" (S. 38). Damit verabschiedet Thomas Mann den ">wahre[n]< (da qua Erstgeburt zu recht privilegierte[n]) Repräsentant[en], damit die >natürliche<, motivierte Beziehung zum >Ganzen< sowie die fraglose Gültigkeit des Vorganges selbst" (S. 43). Nur noch im Märchen lassen sich die "Totalitäten" an beiden Enden durch eine Repräsentationsbeziehung verklammern.

Das Thema der Möglich- bzw. Unmöglichkeit von Repräsentation zieht sich von nun an durch fast sämtliche Texte und Textsorten in Thomas Manns Œuvre. Als Fehlbesetzung erweist sich auch die Rolle des Nationalautors, an der Gustav von Aschenbach gleichsam stellvertretend scheitert. Mit ihm tritt zum ersten Mal der "Literat, der für sich keine Repräsentanz beanspruchen kann, [...] in den Vordergrund" (S. 73) und geht, so Strobel, genau daran zu Grunde: Während sich Aschenbach zwischen Künstler- und Repräsentantenrolle aufreibt und in der "Stadt verlorenen Ruhms" (S. 77) schließlich durch die Cholera "(oder auch: das Dionysische)" (ebd.) gänzlich aufgelöst wird, arbeitet sich sein Autor weiterhin an der Nation und ihrer Repräsentierbarkeit ab — auch und gerade im Hinblick auf ihre Verdichtung im "großen Mann", mit dessen repräsentativer Rolle er immer wieder auch selbst teils liebäugelt, teils hadert.

Große Männer

Bereits in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" (erschienen 1918) und ihrem Umkreis begegnet bei Thomas Mann das Konzept des "großen Mannes", der im omnipräsenten Verfall allein noch als Retter und Bewahrer "des Deutschen" in Frage kommt (vgl. S. 97f.). In den zahlreichen Fehlbesetzungen der Repräsentationsrollen kehrt er im Erzählwerk gleichsam unter umgekehrtem Vorzeichen zurück und durchzieht auch weiterhin das essayistische Werk beinahe wie ein Leitmotiv. So wird etwa in "Goethe und Tolstoi", in der Rede zu Nietzsches 80. Geburtstag und in der "Pariser Rede" von 1926 ein Konzept reinstalliert — obgleich nicht gänzlich ungebrochen —, das mit Klaus Heinrich, Gustav von Aschenbach und mit einem besonders erbärmlichen Exemplar, mit Mynheer Peeperkorn auf dem "Zauberberg" (vgl. S. 142, 149—152), literarisch schon verabschiedet worden war. Was also die Essays zu dieser Zeit noch hochzuhalten scheinen, wird im Erzählwerk bereits gründlich >dekonstruiert<.

Mit diesen essayistischen Reinthronisierungen gehen auch Thomas Manns Selbstreflexionen einher, die zu dieser Zeit ebenfalls wieder verstärkt um die Frage seiner eigenen Stellung kreisen. Die Rolle des Nationalautors, die er in seiner Rede von "Von deutscher Republik" (1922) schon einmal versuchsweise eingenommen hatte, erhebt er in ihrer bislang eindrucksvollsten Besetzung in seinem großen Goethe- und ersten wirklichen Exilroman zum zentralen Thema.

Ganz im Gegensatz zu Thomas Manns öffentlichen (und privaten, vgl. S. 181 ff.) Äußerungen, in denen er sich mit der Repräsentation eines "ewigen" und "wahren" Deutschland noch mehr oder minder affirmativ auseinandersetzt, erzählt "Lotte in Weimar" (erschienen 1939) gerade wieder von der Fragilität einer solchen Position. Selbst Goethe hält in dieser Version seinem Amt kaum Stand, denn auch seine Prophetien lassen sich leicht als auktoriale Konstrukte durchschauen, durch die das "Plakative" und "Hyperbolische" (S. 212), aus denen sie zusammengesetzt sind, grell hindurch scheinen. So untergräbt hier der Dichterfürst selbst seine exponierte Stellung und trägt damit — so Strobels Fazit — zum mythenkritischen Impuls dieser Nacherzählung seiner selbst als nationalem Mythos bei.

Auch hier erzählt Thomas Mann, der Romancier, wieder einmal deutlich differenzierter, als Thomas Mann, der Essayist, zu denken scheint: Während sich dieser um die Rettung und Reinthronisierung eines anachronistischen Phänomens bemüht, lässt jener den Dichterfürsten selbst am Bein desjenigen Thrones sägen, auf den er ihn in seiner Funktion als Essayist gerade noch einmal gehoben hatte.

Das Ende der Allegorie

In "Doktor Faustus" löst sich dann nicht nur ein weiterer potenzieller "großer Mann", sondern mit ihm gleich ein ganzes Verfahren literarischer Repräsentierbarkeit auf. In souveräner Abkehr von Titel, Erzähler und weiten Teilen der Rezeptions- und Forschungsgeschichte legt Strobel dar, wie sich der deutsche Tonsetzer einer Semantisierung als Deutschland-Allegorie nachhaltig widersetzt; übrig bleibt davon im Grunde nur noch der Wille zur Allegorisierung auf Seiten seines Freundes und Biographen. Indem Strobel die drei maßgeblichen Autoritätsinstanzen des Textes — Erzähler, Protagonist und impliziter Autor — auseinander nimmt und gegeneinander hält, führt er anschaulich vor Augen, dass sich keine durch alle drei Instanzen haltbare Bedeutungsebene aufzeigen lässt, die eine eindeutige Auflösung Leverkühns als "Bildebene" in diesem Sinne zuließe (vgl. S. 240 f.). Vielmehr weist sich der Roman selbst auf Schritt und Tritt als Zitatensammlung und Trümmerfeld deutscher Mythologeme aus, auf dem "Bild" und vermeintliche Bedeutung nur noch durch Zeitblom, den wenig zuverlässigen Erzähler, gewaltsam zusammen gezwungen werden.

Am Tonsetzer selbst prallen Zeitbloms Entindividualisierungs- und damit Allegorisierungsversuche ab und so bleibt das Zentrum der allegorischen Lebensgeschichte dieses (letzten?) großen deutschen Mannes leer. Indem diese Allegorie vor unseren Augen also nur noch unter erkennbarer Anstrengung zusammengesetzt und damit endgültig auseinander genommen wird, löst sie sich ganz von selbst auf und problematisiert sich zugleich als Verfahren literarischer Repräsentierbarkeit überhaupt.

Während die Durchblicke auf die Erzählstruktur des Romans seine mythenkritischen Aspekte freilegen, verweist Strobel zugleich auch auf gewisse Remythisierungstendenzen, die sich ebenso im Text finden: So werden etwa Zeitbloms Allusionen auf 1918 als die mythische Präfiguration von 1945 nirgends konterkariert und auch die historischen Margen auf dem Weg zum Nationalsozialismus werden durch "Zeitbloms mythisch-reduktives Schema von >Pakt-Rausch-Zusammenbruch<" (S. 276) a-historisch überschrieben. Damit bleibt für den Roman der "Nationalsozialismus in einen mythischen Kontext eingerückt, der seine Analyse, seine Historisierung unmöglich macht" (S. 282).

Hier bemüht sich Strobel zwar um eine Apologie dieses problematischen Befundes, indem er ihn als mögliche Wendung gegen den "flachen Realismus der zeitgenössischen Deutschland- und Zeitromane" (S. 281) verstehen will, aber das Unbehagen des Interpreten bleibt spürbar. Man wünscht sich zuweilen, er hätte ihm deutlicher nachgegeben.

Konsequenzen

Denn am Ende zeigt sich Strobel allzu versöhnlich. So differenziert sein Urteil auch ausfällt, so zaghaft schreckt er doch vor manchen Konsequenzen seiner zum Teil durchaus heiklen Befunde zurück. Jene in der "Einleitung" beklagten "apologetischen Tendenzen" der Thomas-Mann-Forschung (S. 26) reproduziert gelegentlich auch Strobel, und zwar vornehmlich dann, wenn der Gang seiner Argumentation einer Qualifizierung einiger Texte — nicht des Autors (!) — als "nationalistisch", "völkisch" oder gar "antisemitisch" bedrohlich nahe kommt. In der Feststellung, dass Thomas Mann, dem "empirischen" (vgl. S. 24 ), sicherlich "keine Adaption an den >integralen<, d.h. radikalen Nationalismus der Zeit" (S. 120) nachgewiesen werden kann, ist Strobel sicherlich zuzustimmen.

Gerade innerhalb Strobels eigenem diskursanalytischen Horizont dürfte aber die Adaption oder deren Verweigerung an jenen "radikalen Nationalismus der Zeit" kaum als eine Frage der persönlichen Entscheidung adäquat beschrieben sein. Vielmehr ließen sich die Inkohärenzen und Widersprüche in Thomas Manns vielstimmigen Reden von Deutschland auch dahingehend lesen, dass manche seiner Affinitäten zum völkischen Diskurs — die sich nicht nur in privaten Äußerungen (vgl. S. 181 ff.), sondern auch in fast allen seinen Romanen finden 8 — weniger etwas von ihm, als vielmehr etwas von dem gemeinsamen Boden erkennen lassen, aus dem eben beide, der Autor und seine Nation, hervorgegangen sind.

Mit der apologetischen These, dass die in Thomas Manns "Umfeld existenten Ideologeme [...] keine nennenswerte Rolle" (S. 331) für ihn und seine Texte spielen, fällt Strobel hinter seine eigenen Prämissen und Befunde zurück: Nach jenen ist eine solche Pauschalierung nicht nötig, während auch diese sie in letzter Konsequenz kaum decken können.

Doppelte Optik

Dennoch hat Jochen Strobel insgesamt eine ebenso material- wie kenntnisreiche Studie vorgelegt, die in ihrem Anhang erfreulicherweise auch einige bislang unveröffentlichte Dokumente aus der Feder Thomas Manns einem breiteren Publikum zugänglich macht. Die "doppelte Optik" — nicht nur — auf Deutschland, die Thomas Mann wohl von Nietzsche lernte, spiegelt sich nun auch als Analyseperspektive in Strobels Studie wider: Genau wie Thomas Mann sucht auch Strobel das "Rollenbild des Autors", mehr noch, das Rollenbild des Nationalautors "nach außen hin wenigstens performativ [...] zu wahren" (ebd.), indem er sich ausgerechnet dieses Lebenswerk zur Untersuchung "der Repräsentation Deutschlands" vornimmt.

Obwohl Strobel damit einen der >größten Männer< in Literaturgeschichte und Essayistik des 20. Jahrhunderts >entzaubert< und an die Stelle seiner Rekonstruktion die vielen Risse und Brüche, Widersprüche und Gegensätze auf dem Gebiet aufspürt, das mit seinem Namen abgesteckt wird, muss es am Ende seiner Arbeit bei dieser Demontage nicht bleiben. Denn gerade durch die systematische Freilegung dieser spannungsreichen Vielschichtig- und Mehrstimmigkeit stellt Strobel en passant auch noch einmal die gelegentlich bestrittene Modernität Thomas Manns unter Beweis (vgl. S. 335). Damit schließt auch er die Möglichkeit einer "Wiederverzauberung" im allerbesten Sinne nicht gänzlich aus, wenn auch "ohne Nobilitierung und ohne Denkmal" (S. 336).


Franka Marquardt
Institut für Germanistik
Länggassstrasse 49
CH-3000 Bern 9

Ins Netz gestellt am 08.01.2002
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Anmerkungen

1 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: M.F.: Schriften zur Literatur. Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Suhrkamp 1979, S. 7—31, hier S. 17.   zurück

2 Obgleich sich der von Jean-François Lyotard geprägte Begriff der >großen Erzählungen< zur Abgrenzung seines Arbeitsfeldes durchaus angeboten hätte, greift Strobel nicht auf ihn zurück. Vgl. Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 4. Aufl. Wien: Passagen Verlag 1999.    zurück

3 Vgl. Homi K. Bhabha (Hg.): Nation and Narration. London / New York: Routledge 1990.   zurück

4 Vgl. Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das >Deutsche<. München: Fink 2000, S. 157—205. [Vgl. die Rezension von Bernd Hamacher in IASLonline: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/hamache2.html]   zurück

5 Ebd., S.173.   zurück

6 Aus der Fülle der Literatur seien herausgegriffen: Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. (Thomas Mann-Studien, Bd. II) Bern / München: Francke 1972; Eberhard Scheiffele: Die Joseph-Romane im Lichte heutiger Mythos-Diskussionen. In: Thomas Mann Jahrbuch 4 (1992), S. 161—183; Yvonne Ehrenspeck: >Den Mythos ins Humane umfunktionieren<. Frühe Rehabilitierung des Mythos angesichts des Faschismus bei Thomas Mann. In: Neue Sammlung 35 (1995), H. 3, S. 129—142.   zurück

7 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990.   zurück

8 Für die meisten einschlägigen Romane und Erzählungen Thomas Manns erbringt den Nachweis Yahya Elsaghe (vgl. Anm. 5).   zurück