Martschukat über Becker: Titel

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Jürgen Martschukat

Wandlungen der kriminellen Figur:
Vom gefallenen zum verhinderten Menschen

  • Peter Becker: Verderbnis und Entartung. Eine Geschichte der Kriminologie des 19. Jahrhunderts als Diskurs und Praxis (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 176) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 416 S. 21 Abb. Geb. EUR (D) 46,-.
    ISBN 3-525-35172-0.


"Wir müssen mit einem Heer von Verbrechern rechnen, die unter den gegebenen Verhältnissen in ein geordnetes Leben sich nicht mehr einordnen lassen", schrieb der deutsche Psychiater Gustav Aschaffenburg in einem 1903 publizierten Text über "Das Verbrechen und seine Bekämpfung". Mit genau dieser Beziehung, die zwischen den "Verbrechern" und dem "geordneten Leben" hergestellt wurde, befasst sich der Historiker Peter Becker in seiner Geschichte der Kriminologie vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert.

In dem Buch mit dem Titel Verderbnis und Entartung zielt Becker darauf ab, "Struktur und Wandel der Zuschreibungen an die Identität des Verbrechers als Negation der bürgerlichen Identität zu rekonstruieren" (S. 12). Becker schreibt also nicht nur eine Geschichte der Kriminalität und der Kriminellen, sondern auch der bürgerlichen Gesellschaft, die sie als deren Gegenwelt repräsentieren oder gar erst als solche hervorbringen. Denn Devianz und Kriminalität verwiesen auch schon in den Augen der zeitgenössischen Kommentatoren auf das Misslingen des großen Projektes der Fremd- und Selbstregierung in der bürgerlichen Gesellschaft.

Abweichung und Normalität im Reflexionsverhältnis

Um diese reflexive Beziehung zwischen der als solcher postulierten >Abweichung< und ihrem Pendant, der >Normalität<, herausarbeiten zu können, betrachtet Becker den kriminologischen Diskurs und die kriminalistische Praxis. Allerdings möchte er diese nicht in einem disziplinär verengten Blick erschließen, sondern in den jeweiligen kulturellen wie wissenschaftlichen Kontext verorten. Folglich werden auch Texte aus Psychiatrie, Anthropologie, Medizin und Literatur in die Untersuchung einbezogen, wenn auch nicht systematisch.

In seinem Betrachtungszeitraum markiert Becker zwei wesentliche Brüche: Den ersten im Übergang vom Strafsystem des Ancien Régime zu den modernen Sicherheitstechnologien, also am Ende des 18. Jahrhunderts und somit am Anfang seines Untersuchungszeitraumes. Folglich bietet dieser Bruch für Becker mehr den Ausgangspunkt denn ein Objekt seiner Analysen.

Die zweite große Diskontinuität im kriminologischen Diskurs beobachtet der Verfasser im späteren 19. Jahrhundert. In dieser Zeit, so Becker, wandelten sich die >Menschenbilder< elementar, und über sie sucht er schließlich den Zugang zu seiner Geschichte, weil sie die Koppelung fachspezifischer Diskurse und praktisch-kriminalistischer Perzeptionen bieten. Es ist letztlich der Wandel vom gefallenen Menschen der Spätaufklärung und des frühen bürgerlichen Zeitalters, der laut Becker im zeitgenössischen Verständnis als grundsätzlich in natürlicher Unschuld lebend definiert war, aber durch seine Begierden an den Ansprüchen der Gesellschaft scheiterte, zum verhinderten Menschen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, bei dem das Scheitern als Teil seiner Biologie unabwendbar war.

Moralgeschichte des Bösen

In den ersten zwei Dritteln des Buches entfaltet Becker die Geschichte dieser gefallenen Menschen als eine Moralgeschichte des Bösen. Fallgeschichten, zeitgenössische Berichte, Kommentare und wissenschaftliche Analysen werden zu einem Text verbunden, dessen Lektüre eine Freude ist.

Zunächst führt Becker vor, wie den beobachtenden Zeitgenossen vor allem der Alkohol als einschneidendes Element galt, das rechtschaffenen Bürgern die Vernunft und den Halt raubte, Familien als zentrale Instanz einer geordneten Gesellschaft zertrümmerte und Menschen in eine kriminelle Karriere hinein führte. In zahlreichen biographischen Skizzen von gefallenen Menschen versuchten die Zeitgenossen, für diese Zusammenhänge den Beweis zu erbringen, denn "der Lebenslauf charakterisiert erst den Gauner", wie der Berliner Kriminalist A.F. Thiele um 1840 festhielt (S. 70). Die Biografien wurden dann Teil einer Vision der optimierten Erfassung von Kriminalität, und in Form von Karteikartensystemen sollten sie auch in der kriminalistischen Arbeit einen Nutzen entfalten können.

Ähnlich wie der Alkohol galt auch die Prostituierte als elementare Bedrohung, die über den Mann, seine Triebhaftigkeit und seine Schwäche auf die Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft zielte und in die Welt des Verbrechens einführte. Vor allem junge Männer, die in ihrer Entwicklung noch nicht die nötige Standfestigkeit erreicht hatten, galten als gefährdet und wurden als Opfer ausgemacht, während die Prostituierten im Wesentlichen als Täterinnen gezeichnet wurden. "Liederliche Frauen" verführten "in raffinierter und gemeiner Weise unerfahrene, bisher solide Jünglinge", wie es in der Mitte des Jahrhunderts hieß (S. 142), und wer sich ein Mal mit ihnen eingelassen hatte, der würde wohl bald alle Regeln bürgerlich-kontrollierter Lebensführung verwerfen. Auch hier zielten die bürgerlichen Strategien darauf ab, Prostituierte zu erfassen und erkennbar zu machen, wodurch die Kontamination der Gesellschaft, die Zerstörung von Individuen und Familien als Kerneinheiten dieser Gesellschaft vermieden werden sollte.

Bemerkenswert ist, dass die beiden Hauptübel Alkohol und Prostitution potenzielle oder aktuelle männliche Familienvorstände ins Visier nahmen. Beide führten zu dysfunktionalen Familien und beeinträchtigten somit nicht nur die Lebenswege der Väter, sondern auch der Ehefrauen und der Kinder. An diesem Punkt wird auch deutlich, inwieweit der Diskurs um Kriminalität an der Konstitution der Ordnungsentwürfe von Gesellschaft und Geschlechtern teilhatte.

Pathologisierung des Verbrechens

Im zweiten großen Abschnitt seiner Studie widmet Becker sich der Genese eines neuen hegemonialen Erzählmusters, das nun Kriminalität und Devianz biologisch festschrieb und somit die dauerhafte Ausgrenzung von "Abweichlern" im Denken und Handeln seit dem fortgeschrittenen 19. Jahrhundert legitimierte.

Abweichende Verhaltensmuster wurden als pathologisch verstanden, und Becker folgt vor allem den Erörterungen der Kriminologie in Anlehnung an Cesare Lombroso und seinen "geborenen Verbrecher" sowie den Sexualwissenschaften. Er bettet diese Diskurse aber in weiträumigere Verschiebungen innerhalb von Medizin, Anthropologie, Psychiatrie und Soziologie ein, die sämtlich neue Einsichten über Täter hervorbringen. Diese Täter galten nun eben als >geborene Verbrecher< bzw. >geborene Abweichler<, von denen es hieß, sie seien aufgrund ihrer >Anlagen< fremden Einflüssen und Triebregungen hilflos ausgeliefert. Folglich waren sie nicht aus dem Guten herausgefallen, wie die Kriminellen zuvor, und sie waren nicht resozialisierbar. Die im Erzählmuster konstituierte Bedrohung, die von diesen Menschen ausging, konnte folglich nicht durch Therapie und Erziehungsmaßnahmen abgewendet, sondern nur durch vollkommene Isolation oder letztlich eben auch körperliche Eingriffe beseitigt werden. Die Kastration von Sexualverbrechern war hierbei nur einer von verschiedenen Vorschlägen, die diskutiert wurden.

Kritik

Wie gesagt, das Buch ist fesselnd und die Lektüre spannend. Insgesamt hat Beckers Untersuchung einige ihrer stärksten Passagen dort, wo sie sich in den ersten beiden Dritteln unmittelbar auf die Strategien bürgerlicher Selbstvergewisserung bezieht, wo sie die Repräsentation des Verbrechers als Gefallenen als Spiegel des bürgerlichen Selbstbildes vorführt und zeigt, wie sich die bürgerliche Gesellschaft selbst entwirft, indem sie das Bild des Kriminellen konstituiert.

Wenn Becker skizziert, wie Gaunergeschichten in Biographien nicht nur durch die vermittelten Inhalte, sondern auch durch das Medium >Biographie< dazu beitrugen, eine bürgerliche Ordnung und eine Vorstellung von gelungener Lebensführung zu entwerfen, indem sie Gegenbilder boten, erhält der Leser einen Eindruck davon, wie dieser Diskurs als wirkmächtiger Diskurs funktionierte. Ähnliches gilt für Beckers Darstellung zu den zeitgenössischen Überlegungen zur Vergesellschaftung der Gauner, die sich an bürgerlichen Idealen abarbeiteten. So kann es eigentlich nicht überraschen, ist letztlich aber doch erhellend zu lesen, dass ein "Hülfsbuch für Polizei- und Criminal-Beamte" von 1828 betonte, dass "die meisten Gauner in wilder Ehe leben" (S. 207).

Zugleich hätte man sich als Leser gewünscht, dass diese reflexive Konstitution von gesellschaftlicher Ordnung und Gegenwelt nicht nur für die gefallenen Menschen, sondern auch in Hinblick auf die verhinderten Menschen genauer dargelegt worden wäre. In welchem Verhältnis steht die Naturalisierung von abweichendem Verhalten um 1900 zu einer offenbar transformierten sozio-kulturellen Selbstdefinition, die wesentlich in biologischen Denkmustern gründet? Dies ist eine der Fragen, die letztlich offen bleiben, und der Verweis auf das Wachstum der Großstädte und die Krise der Moderne oder punktuelle Hinweise auf evolutionäres Denken, das die Gesellschaft durchziehe, sind nicht mehr als Appetithappen.

Hier werden auch die diskursanalytischen Möglichkeiten (und Becker will explizit eine Analyse von Diskursen und Praktiken im Anlehnung an Foucault schreiben) nicht ausgeschöpft. Die Möglichkeitsbedingungen für die Formen von Kriminalisierung und deren Wandel werden viel zu selten aufgezeigt und bleiben bisweilen in Ansätzen stecken. Wenn es z.B. heißt, "die Anerkennung der kriminologischen Theorien beruhte auf der breiten Akzeptanz von evolutionistischen Deutungsmustern" (S. 262), dann würde man eben gerne mehr über diese Deutungsmuster und deren Etablierung in Beziehung zu Kriminalität und Kriminalisierung erfahren. Gleichermaßen würde man gerne mehr erfahren über die Figuren des Vampirs, Menschenfressers oder Doppelgängers (S. 264) (sowie über deren Bedeutung in der zeitgenössischen kulturellen Konfiguration), die um 1900 eine Konjunkturphase durchliefen.

Kritisch ist außerdem anzumerken, dass der Zugriff auf die Quellen an so manchen Stellen des Buches verwirrt. So springen wir bisweilen auf ein oder zwei Seiten von Berlin über Hannover nach Lübeck, oder Texte aus dem Vormärz werden neben Schriften aus dem frühen 20. Jahrhundert gestellt (z.B. S. 128 f.). Wenn so die Breite und die Wirkmächtigkeit des untersuchten Diskurses signalisiert werden sollen, dann hätte Becker dies thematisieren sollen. So jedenfalls entsteht bisweilen der Eindruck, dass die Belege zumindest manchmal so gewählt wurden, dass sie das bestätigen, was zuvor konzeptionell postuliert worden war.

Unscharfe Grenzen

Dies gilt auch dann, wenn Becker über die gefallenen Menschen schreibt, dafür aber auf Texte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurückgreift. Offenbar sind die Grenzen zwischen den Konzepten des gefallenen und des verhinderten Menschen doch unschärfer, als es in Beckers Darstellung eigentlich den Anschein hat, und genau diese Unschärfe der Grenzen und Überschneidungen hätte deutlicher problematisiert werden sollen. Denn letztlich ist gerade die Geschichte, wie Becker sie konzipiert, recht statisch.

Zweifelsohne haben sich biologisierende Aussagen, die das Verbrechen letztlich in den Körper festschreiben und es so der individuellen Verantwortlichkeit des Täters entziehen, in den Diskursen des späteren 19. Jahrhunderts immens verdichtet. Gleichwohl ist Unzurechnungsfähigkeit nicht erst in dieser Zeit erfunden worden, wie es Beckers Betrachtungen bisweilen nahelegen. Vielmehr sind schon im 18. Jahrhundert entsprechende Diskussionen geführt worden, die dann im frühen 19. Jahrhundert (also in der Zeit der gefallenen Menschen) überaus prominent waren. Die wissenschaftlichen Handbücher, die Fachzeitschriften wie die populären Journale seit der Jahrhundertwende und insbesondere der 1820er Jahre und 1830er Jahre waren voll mit Debatten über Unzurechnungsfähigkeit, deren Höhepunkt sicherlich die Auseinandersetzungen über die Monomanien bildeten. Und hier (so insbesondere im Fall der "monomanie-homicide" nach Dominique Esquirol, 1827) konnte es auch und insbesondere um unerklärliche Ausbrüche von tödlicher Gewalt gehen, deren Auslöser von den Beobachtern irgendwo im Individuum verankert wurde.

Gleichermaßen vertraten nicht erst Lombroso und Konsorten, sondern bereits die Ärzte des frühen 19. Jahrhunderts vehement die Position, dass nur Mediziner die entsprechenden Fachkenntnisse hätten, über die Zurechnungsfähigkeit und folglich auch über die Bestrafung von Verbrechern zu entscheiden. Es ist also keineswegs so, dass bis zur Erfindung des "geborenen Verbrechers" und des verhinderten Menschen den Tätern und Täterinnen die Verantwortung für ihre Taten grundsätzlich zugeschrieben wurde. Es ist auch nicht so, dass die Justiz des frühen 19. Jahrhunderts Delinquenten und Delinquentinnen gewiss als zurechnungsfähig definierte, obwohl sie Verbrechen als >Zwangshandlung< verübt hatten (so Becker z.B. auf S. 266, 271).

Manche Ärzte (so etwa der einflussreiche Johann C. Reil) diagnostizierten dann zwar einen grundsätzlich funktionierenden Verstand, gingen aber trotzdem von der Möglichkeit der Unzurechnungsfähigkeit im Augenblick der Tat aus. Solche unklaren Positionen von Zeitgenossen wollen nicht recht in das vergleichsweise starre Bild und die schematischen Trennungen passen, wie Becker sie entwirft. Man könnte behaupten, dass (um in Beckers Konzepten zu sprechen) bestimmte Elemente der verhinderten Menschen auch schon zu einer Zeit gesehen wurden, in der Becker nur gefallene Menschen vorfindet.

Es bleibt zu hoffen, dass seine Studie über "Verderbnis und Entartung" den Anstoß zu vielen weiteren Untersuchungen geben wird, die dann genauer auf die Zwischentöne achten und mittels der Betrachtung verschiedener Diskursfelder aufzeigen, wann sich die Gewichte vom gefallenen zum verhinderten Menschen verlagerten.


PD Dr. Jürgen Martschukat
Universität Hamburg
Historisches Seminar
Von Melle Park 6, IX
D-20146 Hamburg
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Ins Netz gestellt am 26.02.2003
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Joachim Linder. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Katrin Fischer.


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