Martschukat über Raum und Stacheldraht, Ordnung und Gewalt
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Raum und Stacheldraht, Ordnung und Gewalt

  • Reviel Netz: Barbed Wire. An ecology of modernity. Middletown, CT: Wesleyan University Press 2004. 267 S. Gebunden. USD 24,95.
    ISBN: 0-8195-6719-1.
  • Olivier Razac: Politische Geschichte des Stacheldrahts. Prärie Schützengraben Lager. Aus dem Französischen von Maria Muhle. Zürich / Berlin: Diaphanes 2005. 96 S. 15 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 12,90.
    ISBN: 3-935300-31-x.
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Einen scheinbar kleinen, eng umfassten Gegenstand, womöglich gar ein Artefakt in das Zentrum kulturwissenschaftlicher Betrachtungen zu rücken und von dort ausgehend die Geschichte einer ganzen Gesellschaftsordnung oder auch einer umfassenden historischen Transformation zu erzählen, ist ein verlockendes Unterfangen. Geschichten des Büstenhalters, des Druckknopfes, der Schokolade oder auch des Maschinengewehrs können hier stellvertretend für einen überaus produktiven Zweig neuerer Historiografie und Kulturwissenschaft stehen. Ein anderer, weiterer Zweig kulturwissenschaftlicher Forschung, der in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erfahren hat, befasst sich mit Räumen und Ordnungen und ihrer Konstruktion. Häufig in Anlehnung an Michel Foucault und Giorgio Agamben wird hier das Ziehen von Grenzen und das Verfügbarmachen von Räumen, das Unterteilen und Parzellieren als Macht- und Herrschaftsstrategie vor allem moderner Gesellschaften verstanden. Insbesondere das Lager erscheint als Signum einer Epoche.

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Der Philosoph Olivier Razac und der Wissenschaftshistoriker Reviel Netz führen in ihren Arbeiten diese beiden Forschungsstränge zusammen, indem sie sich der Geschichte eines scheinbar peripheren Gegenstandes widmen, nämlich der des Stacheldrahtes. Seit seiner Erfindung im Jahr 1874 sei der Stacheldraht wesentlich im Prozess der Verfügbarmachung und Nutzung von Raum gewesen, sei es zur Besiedlung der Prärie, zum Führen von Kriegen oder zum Bau und zur Aufrechterhaltung von Lagern. Das prekäre Verhältnis von Ordnung und Gewalt, dessen Justierung ein zentrales Problem moderner Gesellschaften ist, könnte in einer Betrachtung des Stacheldrahtes und seiner Geschichte greifbar werden.

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Thesensammlung

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Das Projekt ist faszinierend, und die Vorfreude angesichts der bevorstehenden Lektüre groß. Zugleich aber kann man sich als Historiker, der gewissermaßen professionsbedingt bei allzu großen Thesen skeptisch wird, eines gewissen Unbehagens nicht erwehren. Schließlich kündigt etwa Olivier Razac nicht einfach eine Geschichte des Stacheldrahts, sondern eine »politische Geschichte des Stacheldrahts« an. Schon das klingt ambitioniert, und zudem verspricht der Untertitel eine Betrachtung von »Prärie Schützengraben Lager«. Tatsächlich werden wir in Razacs ohnehin so schlankem Büchlein auf gut vierzig Seiten von der Erschließung der nordamerikanischen Prärie durch die USA in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs und bis nach Auschwitz geführt. Das kann gar nicht ohne derart grobe Pauschalisierungen funktionieren, dass man schon bald an der Ergiebigkeit der Betrachtungen, und vor allem an ihrer Stimmigkeit, zu zweifeln beginnt: Waren die Eisenbahn und die Landgesetze für die Besiedlung des amerikanischen Westens tatsächlich so unwichtig, wie Razac uns glauben machen will? Ist die Geschichte des Westens und das »physische und kulturelle Verschwinden des Indianers« (S. 21) tatsächlich ein Effekt des Stacheldrahts – und nur des Stacheldrahts? Ist es wirklich der Stacheldraht, der »die Ausrottung der Indianer, das Gemetzel von 1914–1918 und den Genozid durch die Nazis miteinander verbindet« (S. 46 f.), wie Razac schreibt? Razacs Blick auf die einzelnen Phänomene ist bei weitem nicht ›dicht‹ genug, um einer solchen Behauptung auch nur ansatzweise Substanz zu verleihen. Vielmehr reiht sich These an These, ohne dass der Gegenstand fassbar würde.

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Nun lässt sich zu Recht einwenden, dass Razac Gegenstände auch gar nicht fassbar präsentieren, sondern sie nur anreißen und Fragen aufwerfen will. Das Ziel des insgesamt kaum achtzig Seiten kurzen Essays ist viel weniger die Ausarbeitung abgesicherter Erkenntnisse, als vielmehr die Formulierung solcher Thesen, die zum Nachdenken und zur Weiterarbeit anregen sollen. Lässt man sich auf diesen Text ein, so gelingt ihm dies auch bisweilen. Äußerst anregend wird der Stacheldraht etwa als »Bestandteil eines Dispositivs des Ein- und Ausschlusses« (S. 53) und »der räumlichen Anwendung der Macht« (S. 67) beschrieben, der sich somit in eine spezifisch moderne Rationalität einschreibt. Eine dezidierte Analyse des Stacheldrahtes könnte also helfen, diese moderne Rationalität genauer zu verstehen. Ähnlich überzeugend ist die Perspektive auf den Stacheldraht als Instrument einer biopolitischen Gesellschaftsordnung, die darin gründet, »Lebenswertes« und »Nicht-Lebenswertes« voneinander zu trennen (S. 55). Und der Stacheldraht – flexibel, leicht und billig – vermag sowohl ›Lebenswertes‹ zu schützen als auch ›Nicht-Lebenswertes‹ auszugrenzen, indem er die Bewegungsmöglichkeiten von Menschen und Tieren reguliert. Die Bilder von Gefangenen in Drahtverschlägen, die uns seit geraumer Zeit schon aus den Lagern von ›Guantánamo Bay‹ erreichen, geben Zeichen von der brennenden Aktualität dieser Fragen.

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Überdehnung

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Mancher Leser und manche Leserin mag von Razacs Büchlein also verärgert sein, andere mögen angeregt und vielleicht sogar positiv verwirrt sein. Ist Letzteres der Fall, so wendet man sich dann in der Hoffnung, mehr über den Stacheldraht zu erfahren, dem umfangreicheren Buch von Reviel Netz zu. Doch schon der Blick auf den Umschlag schürt eine gewisse Skepsis, wird dort doch nicht mehr und nicht weniger als eine »ecology of modernity« angekündigt. Was diese »ecology« ausmacht, was sich dahinter verbirgt und wie sie zu verstehen ist, erörtert der Text nicht näher. Netz bleibt lieber mysteriös. Man kann bestenfalls erahnen, dass der Untertitel auf die Regulierung von Lebewesen im Raum anspielt, auf die Wechselwirkung zwischen Mensch, Tier, materiellen Gegenständen und Land.

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Dieser erste Verdacht, dass Netz eine Vorliebe für starke und nebulöse Formulierungen hat, die mehr verbergen als offen legen, bestätigt sich bald. Schon ein Blick in die Einleitung zeigt dies: In dem Buch wird es, so ist dort zu erfahren, um massenproduziertes Eisen und »its power of violence over flesh« gehen. Dieses machtvolle Eisen habe die Geschichte der Jahre 1874 bis 1954 bestimmt, also den Zeitraum von der Erfindung des Stacheldrahtes in Nordamerika bis zum Ende des Gulag in der Sowjetunion (S. xii-xiii). Nun gut, dies mag an dieser Stelle des Textes als Appetizer gedacht sein und vielleicht sogar seine Funktion erfüllen und zur weiteren Lektüre ermuntern. Doch der Text schreitet in dieser Art fort. Nach einer Weile wird es schlichtweg ermüdend und irgendwann auch regelrecht ärgerlich, wenn sich eine bedeutungsschwere Formulierung an die nächste reiht, zumeist aber mehr oder minder knapp daneben treffend und beinahe nie ausreichend mit Inhalt angereichert.

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Ohne kleinlich oder faktenhuberisch zu sein, darf man doch bezweifeln, dass die unmittelbare Konsequenz des US-amerikanischen Bürgerkrieges schlechthin tatsächlich die Öffnung des Westens gewesen sein soll. Zumal es weiter heißt, dass diese Öffnung in der Transformation des Bisons zum Rind ihren Höhepunkt erfahren habe (S. 10). Ähnlich pauschal wird auch behauptet, dass Gewalt im Westen immer und überall gegenwärtig und der Westen gewissermaßen nichts als Gewalt gewesen sei – »of course«, wie Netz einschiebt (S. 20). Neuere Forschung, die dies nuancierter betrachtet, rezipiert er nicht. Weiter geht es in diesem Rhythmus. Formulierungen wie »iron replaced flesh« (S. 90) oder »the sheer pain of metal tearing flesh; they [the animals] are wounded, and their wounds exacerbate their rage; further charges, further pain, and instinctive withdrawal; finally resignation« (S. 31) wechseln sich ab mit weit überdehnten Thesen, wie z.B. dass ein paar Hundert spanische Pferde ganze amerikanische Imperien zum Einsturz gebracht hätten (S. 75). Der Text führt letztlich zu »withdrawal; finally resignation« auf Seiten des Lesers. Die Attraktivität der zentralen These dieses Buches geht auf diesem Weg verloren, nämlich dass Stacheldraht das perfekte Instrument moderner Gesellschaften war und ist, die im Wesentlich dadurch definiert werden können, dass sie Bewegung kontrollieren und entsprechende Ordnungsformen herstellen (siehe etwa S. 109). Das ist bedauerlich.

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Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Netz sich schlechterdings überhoben hat. Schließlich ist er nicht gerade bescheiden, was seine Ansprüche und den Rahmen seiner Arbeit angeht. Dies gilt nicht nur für die zentrale These seines Textes, die auf nicht mehr und nicht weniger abzielt, als auf eine Erklärung des so komplexen Verhältnisses von Gewalt, Ordnung und Moderne. Dies gilt gleichermaßen für die Breite und Vielfalt seiner Betrachtungsgegenstände. Das Spektrum reicht von der Unterwerfung der Native Americans und der Herausbildung der Viehzucht- und Fleischindustrien in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts in den USA über den Spanisch-Amerikanischen Krieg, den Burenkrieg, den Ersten Weltkrieg, den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust bis zum Gulag. Wer würde nicht an einem solchen Konzept scheitern?

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Ob dieser Überdehnung bekommt Netz keinen seiner Betrachtungsgegenstände jemals zu fassen. Schade ist, dass dabei wirklich aufschlussreiche Passagen, etwa über den Effekt von Parzellierungen auf den Burenkrieg, im schwammigen Gesamteindruck verloren gehen. Nicht zu trennen von dieser Misslichkeit, aber vielleicht noch bedauerlicher ist, dass Netz auf diesem Wege auch das zentrale Thema seines Buches entgleitet. Dieses jedoch, so erfahren wir im Epilog, sei eigentlich ganz einfach und könne in fünf kurzen Punkten zusammengefasst werden. Schon im ersten kurzen Absatz zum ersten Punkt geht es dann so weiter, wie bisher, und man muss Phrasen lesen wie »history is not like chess; it is more like wrestling«, und »history takes place as flesh moves inside space; it is thus, among other things, about the biology of flesh---as well as about the topology of space«. Und da kommt dann, erfahren wir in Punkt zwei bis fünf, der Stacheldraht ins Spiel. Er reguliert die Bewegung von »Fleisch« im Raum, indem er Schmerz zufügt. Das klingt in der Tat simpel, und fast ist man geneigt zu fragen, warum man die vorangehenden 230 Seiten lesen musste.