
- Guntram Geser / Armin Loacker (Hg.): Die Stadt ohne Juden (Edition Film und Text; 3) Wien: Filmarchiv Austria 2000. 487 S. mit VHS-Videokassette (80 min.) € 28,90.
ISBN 3-901932-08-9.
Im Jahr 1922 veröffentlicht der seinerzeit populäre Schriftsteller Hugo Bettauer (1872—1925) den Roman "Die Stadt ohne Juden", 1 in dem Bettauer beschreibt, wie — unter dem ständig wachsenden Druck der Inflation — die Regierung beschließt, alle Juden des Landes zu verweisen. Nach einem anfänglichen Aufschwung hält die Wirtschaftskrise jedoch weiter an, so daß man die Juden bittet, zurückzukehren. Mit einem Happy End wird der >Spuk< eines aggressiven Antisemitismus weggewischt und das sich in den Armen liegende Liebespaar figuriert als Symbol eines glücklichen Zusammenlebens.
1924 wurde der Roman in Wien durch Johann Karl Breslauer (1888—1965) verfilmt. 2 Dieser Film, dem im Gegensatz zum Buch kein großer Erfolg beschieden war, galt lange Zeit als verschollen und wurde erst vor zehn Jahren in einem niederländischen Archiv wiederentdeckt. Eine restaurierte Fassung wurde Ende 1991 erstmals gezeigt, nun bietet das Filmarchiv Austria den Film als Videokassette zum Kauf an — im Paket mit einer Aufsatzsammlung, die den Film kulturhistorisch zu beleuchten sucht.
Sammelband und Film
Die Verbindung von Buch und Film ist, wie Guntram Geser ausführt, durchaus programmatisch zu verstehen: Das in den Aufsätzen beleuchtete kulturelle Umfeld wird von den Herausgebern als konstitutiver Bestandteil des Films verstanden, so daß der Begriff der Rekonstruktion nicht allein auf die technische Aufbereitung des Filmstreifens zu beziehen ist, sondern auch die Untersuchung seiner geistesgeschichtlichen Voraussetzungen einschließt.
Der Begriff Rekonstruktion verweist darauf, dass der Film nicht als ein quasi naturgegebenes bzw. ahistorisches Objekt betrachtet wird. Vielmehr verdankt er seine Existenz unterschiedlichen Determinanten, Praktiken und Diskursen der Konstruktion kultureller Produkte. (S. 28)
Eine Vision?
Der Film selbst erzeugt eine Verunsicherung: Zu verblüffend erscheint Bettauers Hellsichtigkeit, zu viele Details in Sprache und Bildern erscheinen aus heutiger Perspektive als Vorausdeutung auf den nationalsozialistischen Terror (und der weit verbreiteten dumpfen Akzeptanz in der Bevölkerung). Die verschiedenen Aufsätze aber vermögen dieses Erstaunen aufzulösen: Eine genauere Betrachtung macht deutlich, daß Bettauers Roman keineswegs als visionäre Warnung zu verstehen ist, sondern daß es sich vielmehr um einen Unterhaltungsroman handelt — ein Gedankenspiel, eine satirische Entgegnung auf den Antisemitismus, das angesichts der Realität der Shoah geradezu verharmlosend wirkt.
Die filmische Umsetzung schließlich drängt die politischen Aspekte in den Hintergrund — während Bettauers Roman in Wien spielt und eine Reihe von Anspielungen enthält, deren Entschlüsselung Bettauers Zeitgenossen keine Schwierigkeiten bereitet haben, ist der Ort des Films "Utopia", deren Hauptstadt allerdings aus visuellen Wiener Versatzstücken besteht, wie der Beitrag von Gerhard Vana ("nieW — Wien: Anmerkungen zur Ausstattung von DIE STADT OHNE JUDEN.") zeigt.
Zur Gliederung des Bandes
Die Aufsatzsammlung bildet drei Schwerpunkte aus: Ein erster Teil widmet sich der Untersuchung des Filmes — auch im Vergleich zum Roman. Neben dem umfangreichen Beitrag von Guntram Geser ist hier vor allem der Beitrag von Murray G. Hall zu erwähnen, der die Rezeption des Films nicht nur in Wien, sondern auch in Berlin und New York untersucht. Bedauerlich ist es, daß die intertextuelle Weiterführung, die Bettauers Roman erfahren hat, nicht berücksichtigt wird. Es wäre sehr aufschlußreich gewesen, auch den Roman "Berlin ohne Juden" (1925), der von Artur Landsberger (1876—1933) explizit mit Bezug zu Bettauer geschrieben wurde, in die Überlegungen einzubeziehen. 3
Der zweite Teil untersucht Einzelaspekte des Films, wie die Ausstattung oder die Massenszenen. Brigitte Dalinger und Silvia Stastny stellen in ihrem Beitrag die Verbindungen zwischen dem Film und dem in Wien heimischen jüdischen Theater dar.
Im dritten Teil weitet sich der Fokus des Interesses auf allgemeinere Aspekte. So untersucht unter anderem Michael Kitzberger in seinem Beitrag die "Repräsentation des Jüdischen" in "Die Stadt ohne Juden". Es gelingt Kitzberger aufzuzeigen, wie sehr der Film durchdrungen ist von einer antisemitischen Bildsprache, die sich etwa an der stereotypen Darstellung von Ostjuden, "den sichtbar Anderen" (S.434), besonders gut zeigen läßt. Kitzberger folgend läßt sich konstatieren, daß die bildliche Repräsentation jüdischer Figuren zwischen Exotismus und Stereotypen changiert:
In der Art, wie der Film Bilder von >Fremden< in einer Leidenspoesie festschreibt, eignen sie sich wohl kaum als Selbst-Bilder. Sie stellen damit auch keinen Ausgleich dar […] zu den zwischen körperlichen, kulturellen, >rassischen< und religiösen Zeichen der Differenz sich bewegenden, und damit mit antisemitischen Mustern und Klischees kooperierenden Darstellungen der >Juden< der anderen Welt dieses Films, dessen Orientierung sich zwischen Satire, Drama und >Judenleidpoesie< verliert. (S.438)
Fazit
Sicherlich ist Bettauers "Roman von Übermorgen" kein Schlüsselroman der 1920er Jahre — der Film ist dies um so weniger. Beide waren auf eine breite Rezeption angelegt, bei beiden hat dies deutliche Spuren hinterlassen. Der vorliegenden Aufsatzsammlung aber gelingt es, beide einer kulturwissenschaftlichen Betrachtung aufzuschließen, denn gerade in den Produkten der Populärkultur lassen sich die Sedimente einer Alltagsmentalität beschreiben, die stets auch die Voraussetzung für weiterreichende historische Prozesse und Ereignisse bilden. So weicht am Ende der Lektüre und der Filmbetrachtung das Erstaunen über die vermeintliche Voraussicht dem Schrecken der Erkenntnis über die >Normalität< des Antisemitismus der 1920er Jahre, der Roman und Film auch nur teilweise begegnen konnten.
Das Fimarchiv Austria hat mit dem Projekt einer umfangreichen, nicht nur technischen Rekonstruktion des Filmes den Weg zu einer weitergehenden kulturwissenschaftlichen Betrachtung beschritten, wobei die zahlreichen bibliographischen Angaben auch Möglichkeiten einer weitergehenden Beschäftigung eröffnen. Die hier gezeigte Verbindung von Archiv und Forschung erscheint vor dem Hintergrund der immer noch gängigen archivarischen Praxis reiner Aufbewahrung von Objekten als vorbildlich.
Dr. phil. Peter W. Marx
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Theaterwissenschaft
D-55099 Mainz
Ins Netz gestellt am 12.02.2002

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Anmerkungen
1 Vgl. hierzu auch Werner Koch: "Hinaus mit den Juden!" Hugo Bettauer und die unberechenbaren Folgen. In: Merkur 35 (1981), S. 254—265. zurück
2 Einen Vergleich von Buch und Film hat auch Otto Mörth vorgelegt; vgl. Otto Mörth: Die Filmadaption des Romans Die Stadt ohne Juden (1924). In: Maske und Kothurn 43 (1999), S. 73—92. zurück
3 Vgl. Artur Landsberger: Berlin ohne Juden. [orig.: 1925] Mit einem Nachwort von Werner Fuld. Bonn 1998. zurück
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