Marx über Lehmann: Das politische Schreiben

IASLonline


Peter W. Marx

Bühne und Politik
Schlaglichter auf die politische Dimension
des Theaters

  • Hans-Thies Lehmann: Das politische Schreiben. Essays zu Theatertexten (Recherchen 3) Berlin: Theater der Zeit 2002. 383 S. Paperback. EUR (D) 14,-.
    ISBN: 3-934344-16-X.


Der Titel "Das politische Schreiben" mutet auf den ersten Blick anachronistisch an, zumal gerade unter den Bedingungen einer oftmals leichthin als beliebig verstandenen Postmoderne die politische Dimension von Kunst im Allgemeinen und Theater im Besonderen nur noch eine nachgeordnete Rolle zu spielen scheint. Der Titel erweckt aber auch noch auf einer anderen Ebene Erstaunen, denn auch im Rahmen des theaterwissenschaftlichen Diskurses spielt doch der Text nur noch eine nachgeordnete Rolle. Besonders angesichts des postdramatischen Theaters – ein Begriff, den Hans-Thies Lehmann in seiner 1999 erschienen Studie "Das postdramatische Theater" ausführlich entfaltet hat –, das sich eben dadurch auszeichnet, dass es den Text mehr auf der Ebene des Materials denn auf der Ebene eines dominanten Bedeutungsträgers nutzt. 1

Postdramatisches
Theater

Ausgehend von diesem Erstaunen findet man in der nun publizierten Aufsatzsammlung Lehmanns eine Reihe von Ansätzen zu dem schwierigen Verhältnis von Politik – Theater – Schreiben, die erkennbar werden lassen, dass weder die Frage nach dem politischen Kern des Theaters noch die Bedeutung des Schreibens als Bezugnahme auf dieses Medium obsolet geworden ist. So versammelt der Band Texte aus den Jahren 1980 bis 2002. Es fällt schwer, diese Texte nicht auf das Paradigma theatergeschichtlicher Kategorien zu beziehen, die Lehmann in seinen Studien "Theater und Mythos" (1991) und "Das postdramatische Theater" (1999) entwickelt hat:

Mit Bezug zu Peter Szondis berühmter Historisierung des Dramenbegriffs, 2 hat Lehmann in diesen Studien zum einen das antike Theater als prädramatisch beschrieben, weil es eben noch nicht auf jenem aufklärerischen Subjektbegriff aufgebaut ist, der nach Szondi für das Drama konstitutiv ist, zum anderen aber hat er neuere Theaterexperimente und -formen als postdramatisch gekennzeichnet, nicht nur, weil sie die Hierarchie zwischen Text und Theater radikal in Frage stellen, sondern auch, weil sie sich wiederum von eben jenem Subjektkonzept abwenden. Durch diese Perspektivierung entsteht eine historische Klammer, die strukturelle Merkmale und geistesgeschichtliche Entwicklungen miteinander in Beziehung setzt. Das Theater des Dramas erscheint in diesem Kontext nicht länger als das verbindliche Modell, vielmehr wird es als historisch (und – auch wenn Lehmann dies immer nur am Rande diskutiert – kulturell) kontingent ausgewiesen. Damit aber rücken vor allem die Brüche und Veränderungen in den Vordergrund. Die Schwierigkeit, mit der ein solcher Ansatz stets konfrontiert wird, ist die Suche nach einem Ausweg aus einer Rhetorik des Defizitären, d. h. die Suche nach einer Beschreibung, die in letzter Konsequenz das Theater des Dramas auch in seinen Begrifflichkeiten und Denkmodellen hinter sich lässt.

Die in dem neuen Band versammelten Texte liefern teilweise eine hilfreiche Ergänzung und Weiterführung dieses Paradigmas, teilweise eröffnen sie gänzlich neue Perspektiven. Durch die unterschiedliche Entstehungszeit der Texte ergibt sich nahezu notwendigerweise auch eine gewisse Spannung, die sich nicht immer produktiv löst.

Einige der Texte scheinen heute eher von zeitgeschichtlichem Interesse zu sein, weil sich hier oftmals der Forschungsdiskurs weiterentwickelt hat, so dass die vertretenen Positionen aus heutiger Perspektive einer Ergänzung bedürfen. So erscheint bspw. die >Entdeckung< des Erhabenen, die Lehmann in seinem Aufsatz "Das Erhabene ist das Unheimliche" (1989) beschreibt, insofern >anachronistisch<, weil etwa die von Lehmann aufgeführte Nähe zwischen Adornos "Ästhetischer Theorie" und der Kategorie des Erhabenen zwischenzeitlich verschiedentlich durch die Forschung diskutiert wurde. 3

Der subversive Impuls
im theatralen Moment

Auch die einführenden Aufsätze zur Kulturtheorie Georges Batailles erscheinen vornehmlich von einem Kontext geprägt zu sein, in der dieser Autor >entdeckt< und gerechtfertigt werden musste. – Gleichzeitig gelingt es Lehmann aber in seinen konkreten Analysen das methodische und innovative Potential solcher Ansätze aufzuzeigen: So diskutiert er bspw. in seinem Aufsatz "Ästhetik des Risikos" (1987) mit Rekurs auf Bataille die gesellschaftliche Bedeutung und Funktion von Theater. Lehmann geht hier von einem Fortwirken der rituellen Funktion von Theater aus, das sich u. a. in seiner Bedeutung für den Umgang mit gesellschaftlichen Tabus widerspiegele.

Nur indem die Szene das faszinierende Untersagte in seiner ganzen Leuchtkraft zur Erscheinung bringt, Verbrechen, Wahnsinn und Revolte, nimmt die Theaterästhetik ihre Chance wahr. (S. 97)

Diese Chance liegt nach Lehmann aber nicht in der reinen >Sensation<, sondern vielmehr in einer reinigenden Wirkung – die sich geradezu als eine Reformulierung der Aristotelischen Katharsis darstellt:

Indem er [der theatrale Moment] das Risiko auf sich nimmt, Verfemtes zu seiner Sache zu machen, untergründig wirksame Motive, die dem Tabu verfielen, zu artikulieren, ohne sich mit Gewißtheit von ihnen zu distanzieren, schafft er jene Beunruhigung, die zum Durcharbeiten der >bösen< Impulse führen kann. […] Hier der Zuschauer, dort die Spieler sind im Hier und Jetzt anwesend und übernehmen Verantwortung. (S. 98)

Ein Teil dieser Verantwortung – und hier differenziert Lehmann auch nochmals zwischen unterschiedlichen Medien – entsteht aus der Unmittelbarkeit der körperlichen Präsenz, die eine Verbindung zwischen Zuschauer und Akteur gewährleiste. Allerdings will Lehmann seine Überlegungen nicht im Sinne einer affirmativen Kultur, einer Bejahung und damit auch einer Verfestigung bestehender Strukturen verstanden wissen. Vielmehr sucht er einen subversiven Impuls im theatralen Moment zu beschreiben – es ist das Risiko des Fehlers, so Lehmann, durch das Theater überhaupt erst in einem umfassenden Sinne befreiend wirken kann. In dieser Denkfigur des >Durcharbeitens< und des >Risikos< formuliert Lehmann einen Grundansatz seiner Beschreibung der politischen Dimension von Theater, die sich eben nicht in einer sprachlichen, d. h. diskursiven Teilhabe erschöpft, sondern vielmehr versucht aus den Spezifika und Gegebenheiten der ästhetischen Verfasstheit ein kritisches und emanzipatorisches Potential zu entwickeln.

"Revolution
und Masochismus"

Dieser Linie folgend bemüht sich Lehmann unter der Überschrift "Revolution und Masochismus" (1984) um eine Relektüre so unterschiedlicher Autoren, wie Georg Büchner, Heiner Müller und Georges Bataille, die ihren Ausgangspunkt in dem Erstaunen nimmt, dass alle drei Autoren sowohl durch die Thematik revolutionärer Veränderung als auch durch die Imagination sadomasochistischer Sexualität / Erotik miteinander verbunden sind. Nun stellt Lehmann zunächst einmal klar, dass ihn dieser Bezug nur auf der Ebene des Diskurses und nicht hinsichtlich möglicher biographischer Hintergründe interessiert. Lehmann konstatiert:

Ist die Lust der politischen Ratio gegenüber ein Unheimliches, das alle Zusicherungen der Vernunft ungültig zu machen droht, so macht diese Erfahrung auch die Identität des Subjekts zum Problem. Leidenschaft bringt die Identität, welche an Selbsterhaltung ihre Stütze hat, in Gefahr. Der sadomasochistische Aspekt des Eros legt dieses Unheimliche potenziert bloß. (S. 106)

Folgt man diesem Gedanken, so bildet sich eine Opposition zwischen dem politischen Diskurs und seinen Ansprüchen und der Unmittelbarkeit körperlichen Empfindens. Lehmanns Analyse ist nicht auf eine spezifische motivgeschichtliche Spur bei den genannten Autoren ausgerichtet, sondern letztlich auf eine Aporie eines politischen Denkens, das Befreiung programmatisch fordert, diese aber auf dem >Rücken< des Subjekts austrägt. Lehmann beschreibt in diesem Sinne Büchner, Müller und Bataille als Autoren, die in ihren Arbeiten die vermeintliche Kohärenz solcher Argumentationen hinterfragen:

Bei Büchner, Müller und Bataille besteht ein Hauptinhalt ihres literarisch-theoretischen Diskurses in einer Befragung der Vernunft von einer jeweils spezifischen Verrücktheit her. Ihr Diskurs konstatiert sich als Störung eines anderen. (S. 115 f.)

Lehmanns Lektüre, die sich durch eine Autonomie gegenüber klassischen Konzepten der Werkbeeinflussung o. ä. auszeichnet, beschreibt einen Zusammenhang zwischen politischem Denken und einer politischen Auffassung des vermeintlich Privaten und Intimen. Auf diese Weise gelingt es ihm, eine politische Dimension des Privaten / Intimen aufzuzeigen, die sich nicht auf die Logik des politischen Diskurses reduzieren lässt.

Der andere Brecht

Neben diesen Texten, die sich sowohl auf einer allgemeinen Ebene mit der Frage des Politischen in neuen Theatertexten beschäftigen, und die sich mit so unterschiedlichen Künstlern, wie Heinrich von Kleist, Hans Henny Jahnn oder Einar Schleef beschäftigen, zeichnet sich der Band durch zwei große Blöcke aus, die den Autoren Bertolt Brecht und Heiner Müller gewidmet sind.

Angesichts des im ersten Teil formulierten Ansatzes erscheint natürlich die Auseinandersetzung mit Brecht von besonderem Interesse, nicht allein wegen des großen Brecht-Jubiläums, sondern auch, weil sich in den letzten Jahren doch die Stimmen mehren, die den >privaten< Lyriker gegen den >politischen< Dramatiker Brecht stellen, und ersterem eindeutig die größere Bedeutung zusprechen. Im Kontext der Lehmannschen Überlegungen wiederum kann es nicht verwundern, dass er konsequent nach dem "anderen Brecht" – so der programmatische Titel des Kapitels – sucht, als die bekannten Pfade der Brecht-Forschung nachzuvollziehen. Der einleitende Texte "Schlaglichter auf den anderen Brecht" (1992) formuliert denn auch die Konturen dessen, was Lehmann als den "anderen Brecht" bezeichnet:

Der andere Brecht: Das ist ein Vorstellungsgelände, ein Wortgewässer, eine Textlandschaft, wo die >offiziellen< Ideen sich immer wieder im Dickicht der Wörter verlieren, wo die nur scheinbar gut kartografierten Gebiete sich als undeutlich verzeichnet erweisen, der prägnante Ausdruck auf den zweiten Blick verschwommen wirkt, wo in der Figuration des Textes die These sich mit ihrem Anderen, der materiellen Musikalität des Wörterleibs, vereint, und wo das Gewebe, das sie zeugen, weder Idee noch Wort ist, sondern eine >andere< Textur. (S. 208)

Es ist nicht zufällig, dass diese Formulierungen, die eher ein Suchprogramm, denn eine klar umrissene Diagnose darstellen, an Lehmanns Müller-Analysen erinnern; vielmehr zeigt sich hier, dass Lehmanns Auseinandersetzung sich zu ihrem Ausgangspunkt in der Erfahrung und ästhetischen Praxis der Postmoderne bekennt und eher eine dekonstruktivistische Lektüre anstrebt als einen philologischen Nachvollzug eines abgeschlossenen Werkes. Gleichwohl beschreibt Lehmann auch die Differenz zwischen Brechts Theater und dem, was als "postdramatisches" Theater bezeichnet werden kann:

Was jedoch das epische Theater von praktisch allen anderen Versionen modernen und postmodernen Theaters scheidet […], ist das Festhalten am Konzept der Fabel, die für Brecht nicht anders als für Aristoteles Herz und Seele des Theaters blieb. Die Fabel […] stellt jene eiserne Ratio(n) des Brecht'schen Theaters dar, an der Theaterleute weniger und weniger zu zehren fanden, seit die story an Kino und dann TV als ihren idealen Ort zog. (S. 214)

Das Gegenbild, das eher Lehmanns Vorstellung des >anderen< Brecht entgegenkommt, ist das Lehrstück in dem Sinne, wie etwa Rainer Steinweg es bestimmt hat, 4 nämlich als eine Theaterform, die sich weniger an einen (passiven) Zuschauer richtet denn an einen Mitspieler. Lehmann sieht bei Brecht beide Möglichkeiten des Theaters formuliert, wobei er dem Lehrstück ein größeres utopisches Potential zuspricht:

Warum hätte Brecht, der Sprachkünstler, der die >Literarisierung< des Theaters anstrebte, gerade den Gestus in den Vordergrund gerückt, wenn er nicht eine trans-linguistische, eine nicht ganz und gar verbalisierte Realität im Theatervorgang vor Augen gehabt hätte. Sie macht Theater, der Utopie nach, zu einer sozialen Erfahrung (veränderter Kommunikation), der mit einer Verbegrifflichung nicht beizukommen ist, sofern diese das wesentlich sinnlich Erfahrene in verbal sistierte politische Gewissheit zurückverwandeln will. (S. 215)

Auch hier scheint wieder die bereits beschriebene Denkfigur des Sinnlichen auf der einen Seite und des Diskursiven auf der anderen Seite auf – Lehmann versucht ihre Konturen in einem "Versuch über Fatzer" (2000) näher aufzuschlüsseln. In der Tat rückt gerade dieser Text wegen seines Fragmentcharakters immer wieder in das Interesse der Forschung und der Auseinandersetzung mit Brecht, vermutlich weil hier in besonderer Weise ein dramaturgisches Problem mit der Unmöglichkeit der künstlerischen >Bewältigung< des von Brecht gewählten Themas in besonders pointierter Weise aufeinandertreffen. Lehmann versteht den Text in diesem Sinne auch als eine "Krise des Erzählens": "Aus dem plot wird ein Tableau thematischer Abhandlungen oder eine Reihung oder Schautafel von Gesten." (S. 251) Lehmann deutet "Fatzer" in dramaturgischer Hinsicht denn auch als eine Hinwendung zur Performanz des Textes:

Das Spiel ist absolut primär gegenüber dem Verstehen. Kein Sinn also, der zur Darstellung kommt, sondern Performanz, die Sinn erzeugt, kein Theater im sichernden Rahmen, sondern eines, in dem der Sinn allererst erfunden wird. (S. 253)

Für eine thematische Annäherung an dieses Fragment ist es hilfreich, einen zweiten Aufsatz Lehmanns "Sexualität: Ein >Furchtzentrum< in Brechts Werk" (1998), in die Überlegungen einzubeziehen. Denn die Spannung von Individuum und Kollektiv, die Lehmann als zentrale Fragestellung bei Brecht sieht, 5 erscheint im Thema der Sexualität besonders fokussiert.

Sexualität und sexuelle Rivalität spalten jedoch das Kollektiv, spalten den einzelnen von sich ab, bedeuten auch nicht etwa Harmonie, sondern letztlich unaufhebbare Fremdheit zwischen den Geschlechtern, Bruch in allen Versuchen, die Gesellschaft als ein nicht im Krieg mit sich selbst liegendes Ganzes zu denken. (S. 241)

Die Thematisierung von Sexualität erscheint in diesem Sinne bei Brecht nicht als eine biographische Angelegenheit – eine Sichtweise, die in der Forschungsliteratur ja weitlich verfolgt wurde, sondern vielmehr als ein konstitutives Moment von Gesellschaft und auch individueller künstlerischer Tätigkeit. Das Begehren stellt sich als eine nicht-harmonisierbare Spannung – auch als ein destruktiver und selbstzerstörerischer Impuls dar. Doch kann dieser >verbotene< Impuls nicht verdrängt und domestiziert werden, sondern muss – und hier folgt Lehmann Bataille – erlebt und dadurch überwunden werden.

Heiner Müller

Der zweite große Block, der in gewisser Weise auch den Blick auf Brecht zu prägen scheint, ist Heiner Müller gewidmet. Aus der Perspektive der (bundesrepublikanischen) Müller-Forschung ist dies insofern von Interesse, als Lehmann nicht nur zu einem sehr frühen Zeitpunk sich intensiv mit Müller auseinandersetzte – lange vor der >Müllermania< der spätern 1980er und 1990er Jahre –, sondern auch weil viele Arbeiten Lehmanns die Sichtweise auf Heiner Müller geradezu geprägt haben. So etwa sein Aufsatz über "Bildbeschreibung" (1987) 6 oder seine Beiträge zu dem von Genia Schulz herausgegebenen Einführungsband zu Heiner Müller (1980). Drei Kapitel aus letzterem Band hat Lehmann nun auch in diese Essaysammlung übernommen, nämlich seine Analysen zu "Ödipus Tyrann", "Der Horatier" und "Macbeth". Neben diese ältere Texte hat Lehmann aber auch einen neueren Text mit dem Titel "Zwischen Monolog und Chor" (2000) gestellt, in dem er sich auf einer sehr grundsätzlichen Ebene der Dramaturgie Müllers annähert.

Lehmann sieht Müllers Texte zunächst einmal durch eine grundsätzliche Verschiebung von der Repräsentation zur Performanz gekennzeichnet – einen Wandel, den er durch verschiedene Faktoren, wie den Abschied von der konventionellen Figurenkonzeption, dem Einsatz verschiedener Montageverfahren sowie einer ausführlichen Intertextualität, sich bilden sieht. Bühne und Zuschauerraum sind nicht mehr eindeutig getrennte (und hierarchisierte) Parteien der theatralen Kommunikation, sondern vielmehr aktiv aufeinander bezogen. Diese Form von Theater ist nicht länger um die Figur als zentrale Einheit konzentriert, sondern bildet sich vielmehr durch eine Vielzahl von Stimmen, die Lehmann wiederum als "Kollektivsubjekte" (S. 343) verstanden wissen will. Durch diese Vielfalt der Stimmen entstehe zwar kein Chor im traditionellen Sinne, aber immerhin erfüllten sie eine chorische Funktion:

So nimmt der Text zugleich mit seiner chorischen Dimension die Form eines Monologs an. Damit ist die strukturelle Qualität von Müllers Theatertexten gekennzeichnet, die ihre Verwandtschaft mit den Praktiken des postdramatischen Theaters manifestiert. (S. 343)

Der Grund für diese Entwicklung liegt nach Lehmann in der Unmöglichkeit, klare Konfliktlinien auszuzeichnen, wie sie für die Entwicklung des bürgerlichen Dramas und Theaters konstitutiv waren. Gleichzeitig aber – und hier erhält das Moment der Intertextualität eine zentrale Bedeutung – stünden Müllers Texte in einer Kommunikationssituation mit anderen Texten der Weltliteratur, auf die sie Bezug nähmen. Gerade im Hinblick auf Lehmanns Brecht-Lektüre erscheint es als nachgerade konsequent, wenn er Müllers Texte als "post-brechtsche" (S. 349) bezeichnet – insofern schließen die Müller-Analysen hier einen Argumentationsbogen.

"Lehrstück
und Möglichkeitsraum"

Lehmann schließt seinen Band mit einem sehr grundsätzlichen Text unter dem Titel "Lehrstück und Möglichkeitsraum" (2000). Hier beschreibt er – jenseits des aufklärerischen Modells des Theaters des Dramas – ein Theater, das gerade als "Möglichkeitsraum" eine politische Funktion und ein emanzipatorisches Potential entfalten könne. Nicht weil es diskursiv Stellung bezieht oder klare Lehren verbreitet, sondern weil es in seiner spezifischen Form der Darstellung die Möglichkeit von Erfahrungen eröffnet.

Ein besonderes Modell bildet für Lehmann das Lehrstück, wobei er sich hierbei am Begriff des Gradnetzes (W. Benjamin) orientiert, d. h. der Text soll ergänzt werden durch die unterschiedlichen Auffassungen seiner Nutzer – passive Leser oder Betrachter sind in diesem Modell ohnehin nicht vorhanden. Lehmann resümiert dieses Modell, das er anhand der "Maßnahme" entwickelt:

Der Text […] besteht nicht aus den Sätzen und Thesen, die er scheinbar anbietet, sondern mehr aus den Lücken, Zweideutigkeiten und Ambiguitäten, die allein der Vortrag, die Geste, die Intonation, der Nachdruck, die musikalische Gestalt, die Pausen und das Verstummen zwischen den Worten eröffnet werden – also das >Theater<. […] Möglich ist dieses Möglichkeitstheater des Lehrstücks genau durch die kaum auszulotenden Brüche, Klüfte, Mehrdeutigkeiten und widersprüchlichen gestischen Potentiale, die die nur scheinbar simple Textoberfläche verbirgt. (S. 376 f.)

Die traditionelle ästhetische Theorie, gebunden an Ideen, wie das Schöne, sei fixiert auf eine Sinnsetzung, die nicht (mehr?) den historischen und sozialen Gegebenheiten entspreche – auszuloten seien vielmehr die Chancen von "Theaterformen der Potentialität" (378), die nachgerade systematisch an die Grenzen des eigenen Diskurses streben und nach Überlagerungen mit anderen suchen. Und hierin offenbart sich dann wiederum der politische Kern dieses Theaters.

Eine ästhetische Theorie
politischen Schreibens
und politischen Theaters

Es folgt aus dem Charakter der Essay- oder Aufsatzsammlung, dass sie den Leser mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Eindrücken zurücklässt. Gerade auch, weil die Texte aus so verschiedenen zeitlichen Momenten stammen, entsteht oftmals der Eindruck von Disparatheit – bisweilen scheinen Texte brennend aktuell, andere eher von dokumentarischem oder zeitgeschichtlichem Interesse.

Hans-Thies Lehmanns Aufsatzsammlung besticht dadurch, dass schließlich doch die Konturen eines umfangreicheren Projektes erkennbar werden, dass vermutlich hinsichtlich seiner Ausmaße der Arbeit am "postdramatischen Theater" mehr als vergleichbar sein wird, nämlich die Suche nach einer ästhetischen Theorie politischen Schreibens und politischen Theaters am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Denn auch wenn der Fokus der allgemeinen Aufmerksamkeit vornehmlich auf einer zunehmenden >Theatralisierung< der Politik liegt, so ist doch unverkennbar, dass auch im deutschsprachigen Raum das Politische wieder einen größeren Raum im Theater einnimmt, man denke nur an so unterschiedliche Regisseure wie Christoph Marthaler oder Christoph Schlingensief. Lehmanns Buch eröffnet hier viele Perspektiven und Fragen, die sicherlich einen wichtigen Anstoß für die weitere Diskussion bilden werden.


Prof. Dr. phil. Peter W. Marx (Juniorprofessor)
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Institut für Theaterwissenschaft
D-55099 Mainz

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Ins Netz gestellt am 05.12.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.


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Anmerkungen

1 So Lehmann 1999, S. 13.   zurück

2 Vgl. hierzu Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). [1959] Frankfurt / Main 1963.   zurück

3 Vgl. hierzu Albrecht Wellmer: Adorno, die Moderne und das Erhabene [1990]. In: Wolfgang Welsch / Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Ästhetik im Widerstreit. Interventionen zum Werk von Jean Francois Lyotard (acta humaniora) Weinheim 1991, 45–66.   zurück

4 Vgl. Reiner Steinweg: Das Lehrstück. Brechts Theorie einer politisch-ästhetischen Erziehung [1. Aufl. 1972] 2. Aufl. Stuttgart 1976.   zurück

5 Die Lösung dieser Spannung, die Brecht in "Die Maßnahme" vorführt, erscheint in "Fatzer" gerade als ein noch offenes Spannungsverhältnis, das sich, wenn man Lehmanns Argumentation folgt, auch keineswegs in einer einfachen, eindeutigen Weise lösen lässt.   zurück

6 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers "Bildbeschreibung". In: Ulrich Profitlich (Hg.): Dramatik der DDR. Frankfurt / Main 1987, S. 186–202.   zurück