Ethel Matala de Mazza
Gregor Streim: Das 'Leben‘ in der Kunst. Untersuchungen zur Ästhetik des
frühen Hofmannsthal. (Epistemata. Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 171) Würzburg: Königshausen & Neumann 1996. 238 S. 8 Abb. Kart. DM 58,-.
Poesie und Leben ist ein programmatischer Vortrag aus dem Jahr 1896 überschrieben, in
dem Hugo von Hofmannsthal seinen eigenen Ort im Spektrum literarischer Strömungen der
Moderne einzukreisen sucht. In Rede steht darin freilich keine intime Allianz, eher schon eine heikle
Balance: ein stets konfliktgefährdetes Nebeneinander zweier Räume des Sagens und des
Tuns, zwischen denen es nicht per se schon direkte 'Wege und Begegnungen‘ gibt. In Rede stehen
gerade deshalb aber auch die Chancen einer wechselseitigen Erschließung dieser Räume:
Nimmt man jedenfalls den Vortrag des Dichters beim Wort, dann richtet sich an eben dieser
Herausforderung, das "Leben" durch die Kunst zurückzuerobern, der ehrgeizige
Anspruch auf, vor dem das eigene Werk zu bestehen hat. Und nicht nur das eigene, meint die Hofmannsthal-
Forschung: Daß mit demselben Anspruch vor allem der Maßstab für das
Ungenügen bezeichnet sei, das der Dichter der europäischen Avantgarde vorhalte, gilt ihr
spätestens seit den wegweisenden Aufsätzen Richard Alewyns 1 und
den nicht minder einflußreichen Vorlesungen Peter Szondis 2 als
ausgemacht; die Auffassung einer kritischen Distanz Hofmannsthals gegenüber der
künstlerischen Moderne entspricht seither allgemeinem Konsens und hat die wissenschaftliche
Auseinandersetzung zumal mit den frühen Dramen des Dichters bis in jüngste
Publikationen geprägt. 3
Stichwort Ästhetizismus
An eine kritische Revision dieses Konsenses macht sich dagegen nun die Dissertation Gregor
Streims, indem sie die Frage nach der ästhetischen Position Hofmannsthals im Kontext der
deutschen und europäischen Moderne noch einmal neu aufwirft. Und dabei setzt sie mit ihren
Überlegungen beherzt an jenem Begriff an, in dem, schon zu Zeiten der Publizistik im Fin de
siècle, Definition und Defizit der künstlerischen Avantgarde um 1900 polemisch
zusammenfließen: dem Ästhetizismus. Als Ausprägung des
übergeordneten Epochenphänomens "Décadence" ist der Ästhetizismus
durchaus bereits mehrfach in umfassenden, zumeist komparatistisch ausgerichteten Studien
beleuchtet und im Horizont der Stilströmungen von Symbolismus, Impresssionismus und
Neoromantik konturiert worden. 4 Allerdings hat der Begriff, was den Umgang mit
ihm zu einer schlüpfrigen Angelegenheit macht, auch immer wieder dazu eingeladen, ihn
elastisch auf Sozialstereotype und Klischees einer inszenatorischen Lebenspraxis
("Dandytum") auzuweiten und mitunter gar zum Schlagwort für eine diffus umrissene
Epochensymptomatik zu überdehnen.
Ästhetizismus als kunsttheoretisches Konzept
Was wir mit einem recht allgemeinen Programmwort als Ästhetizismus zu
bezeichnen pflegen, gehört nicht ausschließlich einer genau bestimmbaren
Epoche an und bezieht sich meist eher auf eine Haltung, eine Tendenz, eine
künstlerisch-literarische (und nicht nur eine) Bewegung; keine Phase oder Epoche
der Literaturgeschichte wird damit bezeichnet, ist jedoch an eine solche gebunden [sic],
ohne von ihr jemals aufgesogen zu werden oder einfach in ihr aufzugehen. [...] Romantik
wie Spätromantik, französische frühe Moderne, englischer
Präraffaelitismus, Symbolismus, Wiener Neuromantik, Jugendstil und insbesondere
die europäische Dekadenz erscheinen unter wechselnden Gesichtspunkten als
"ästhetizistisch".
In solcher Großzügigkeit hat zuletzt erst Ralph-Rainer
Wuthenow 5 den Assoziationsspielraum des Begriffs ausgeschöpft - und
damit nahezu sämtliche 'Grenzpfosten‘ terminologischer Distinktion eingesammelt. Den
Ästhetizismus aus seiner semantischen 'Unschärferelation‘ zu erlösen und ihn als
Begriff für ein bestimmtes "kunsttheoretisches Konzept" (S. 2) analytisch fruchtbar zu
machen, ist deshalb besonderes Anliegen der Studie Gregor Streims, die sich damit insgesamt einer
gleich doppelten Aufgabe verschreibt: indem sie zum einen darauf abzielt, den Begriff
"Ästhetizismus" exklusiv für die Fin de siècle-Forschung zu reservieren und
seiner Geschmeidigkeit den Zaum präziser Implikate anzulegen; indem sie zum anderen dann
aber am Leitfaden dieses Begriffs Aufschlüsse über die Poetologie des frühen
Hofmannsthal gewinnen möchte, die in den bisherigen Arbeiten zu seinem Oevre kaum je
eigens problematisiert worden ist. Poesie und Leben: In der Kopula zwischen beiden ist, wenn man so
will, die Forschungslücke bezeichnet, die Gregor Streim mit seiner Untersuchung zu
schließen versucht.
Eine Ästhetik der Entmimetisierung?
Der zweifachen Zielsetzung ist der Aufbau der Arbeit angepaßt, die sich in zwei große,
in sich jeweils wieder zweigeteilte Kapitel gliedert und sich so in vier Etappen zu ihren Antworten
vortastet. Der erste Teil ist zunächst der theoretischen Profilierung des Ästhetizismus-
Begriffs vorbehalten. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten Studien, die das Phänomen
systematisch im internationalen Vergleich aufarbeiten, wählt Streim den Zugang über die
Rekonstruktion der Begriffsgeschichte, die er vom ersten Auftauchen des Schlagworts in den
literaturkritischen Schriften der 90er Jahre bis in seine Verästelungen in der
Literaturwissenschaft nach 1945 verfolgt. Die weitaus meisten der Bedeutungskontexte, die in diesem
Überblick angeschnitten werden, darunter auch solche, deren Relevanz ganz wesentlich durch
die Kunst bezeugt ist - impressionistische Techniken, die Wahrnehmungseindrücke affin
abspiegeln sollen, oder Topoi wie das Dandytum, die die Literatur etabliert; kurz: all die Bereiche, in
denen sich Kunst dem 'Leben‘ mimetisch anverwandelt -, finden sich dann aber ausdrücklich aus
dem revidierten Ästhetizismus-Konzept ausgeschlossen, das der Verfasser auf diese Weise
kunsttheoretisch homogenisiert und unter schwungvollem Einsatz des eisernen Besens‘ zum
Programm einer Ästhetik der "Entmimetisierung" (S. 35) strafft. Statt dessen
fügt Streim dieser allgemeinen Charakteristik mit seiner Emphase des 'Lebens‘: einer
psychophysischen Kategorie, in der Dichter wie George und Hofmannsthal ihre Anschlußstelle
suchten, aber noch ein weiteres Kriterium hinzu, das, folgt man seinen Darlegungen, die spezifische
Differenz der deutschen Avantgarde zu der anderer europäischer Länder akzentuiert.
Deutsche Kunstphilosophie und ihr Einfluß auf Hoffmannsthal und den George-Kreis
Indem Streim so in der Reformulierung des Ästhetizismus-Begriffs den national abweichenden
Prämissen der ästhetischen Orientierung zu entsprechen versucht, grenzt er sich folglich in
einem zweiten Punkt von der bisherigen Forschungsansätze ab, die vornehmlich die Analogien
zwischen italienischen, französischen und englischen Stilströmungen herausgearbeitet und
die europäische Dimension des Phänomens in den Vordergrund gestellt haben. Ohne von
diesen Parallelen absehen zu wollen, sucht er die bestimmenden Impulse für das
Verständnis des Ästhetizismus Hofmannsthals und des George-Kreises in der
zeitgenössischen deutschen Kunstphilosophie auf und setzt sich mit ihr entsprechend eingehend
in einem zweiten Kapitel auseinander. Während der Hauptakzent hier - neben Wagners
programmatischen Äußerungen zum Entwurf eines "Gesamtkunstwerks" - auf
den Schriften Friedrich Nietzsches und der Rekapitulation ihrer zentralen Theoreme liegt, stellt der
zweite Teil der Arbeit dann die Analyse der frühen Arbeiten Hugo von Hofmannsthals in den
Vordergrund, um dessen ästhetische Position zunächst entlang der frühen Essays
nachzuzeichnen und an zentralen Schlüsselbegriffen in den Bezugsrahmen vor allem der
nietzscheanischen Ästhetik einzuhängen. Beschlossen wird die Arbeit
konsequentermaßen mit einer Interpretation dreier ausgewählter lyrischer Dramen, deren
kritischen Impetus ein letztes Kapitel im Licht der erarbeiteten Poetologie neuzubestimmen sucht.
Neue Deutung des hoffmannsthalschen Lebensbegriffs
Indem die Studie Gregor Streims so insgesamt allen Nachdruck auf die
Anstöße legt, die Hofmannsthal in seinen ersten Schaffensjahren aus der Lektüre
Nietzsches empfängt, geht sie von vorherein ein kalkulierbares interpretatorisches Risiko ein, da
sie sich - wenigstens was die Argumentationsschritte betrifft, die diesen Zusammenhang erweisen
sollen - getrost auf vorgebahnte Wege verlassen kann. 6 Als Trümpfe hat
sie dafür aber die Tugenden umsichtiger Quellenlektüre und transparenter Systematik
auszuspielen; und: Sie kann für sich das nicht geringe Verdienst verbuchen, den ominösen
Lebensbegriff, den die frühen Schriften des Dichters allerorten beschwören, durch eine
gleichermaßen genaue und behutsame Ausleuchtung von jenen Mißverständnissen
zu bereinigen, die die Forschung jahrzehntelang unbesehen kolportierte. Befangen vor allem durch die
retrospektive Selbstdeutung des Dichters in seiner späten Ad me ipsum-Skizze, hatte diese den
Index "Leben" nämlich zumeist metonymisch auf eine soziale, in Habitus und
verantwortungsbewußtem Lebensvollzug sich objektivierende Praxis bezogen; und darin
hatte sie das entscheidende Manko auszumitteln vermeint, das Hofmannsthal den Autoren des englischen
und französischen Symbolismus ankreide, um ihre Stilisierungen als lebensfernen
Ästhetizismus abzutun.
Das (Er-) Leben in der Kunst
Aufgrund der überzeugenden Widerlegung Streims, der dem
Lebensbegriff des Dichters statt dessen subjektiv-psychologische Implikationen nachweisen kann,
werden nun die Prämissen einer möglichen Annäherung von Kunst und ‚Leben‘
offenbar, wie Hofmannsthal sie - bei aller kritischen Distanzierung von idiosynkratischer ‚Nervenkunst‘
im einzelnen - in seinen poetologischen Erwägungen tatsächlich immer wieder anvisierte.
‚Leben‘, so gelingt es Streim zu zeigen, darf in den kunsttheoretischen Schriften des Dichters dazu
aber nicht primär als Postulat einer vorbildlichen Lebensführung verstanden werden,
sondern ist eher als individuelle Selbstvergewisserung im sensuellen Er-Leben aufzufassen. Wenn
Hofmannsthal ‚Leben‘ schreibt, heißt das, ist darin in erster Linie ein vitalistischer Unterstrom
mitzulesen, und Streim ist in seiner Arbeit konsequent genug, diesen nicht-trivialen Wortsinn, mit dem
der Begriff kontaminiert ist, buchstäblich, oder besser gesagt: typographisch ‚anzuführen‘:
indem er über das ‚Leben‘ in der Kunst eben nur in einfachen Anführungszeichen
räsonniert. Spürt man das ‚Leben‘ mit Streim aber erst einmal im
‚Bewußtseinszimmer‘ (um meinerseits ein Nietzsche-Wort aufzugreifen) der subjektiven Psyche
auf, so wird man auch die Wahrnehmung als wesentliche Instanz der Lebensbewahrheitung
anerkennen müssen, weil sie, gewissermaßen als Schaltstelle zwischen Innen- und
Außenwelt des Ich fungierend, die Selbsterfahrung des ‚Lebens‘ allererst zu garantieren vermag.
Der Sprung zu einer Kunst, die ihre Suggestionskraft nur daran zu setzen braucht, auf das psychische
Sensorium produktiv einzuwirken und ‚Leben‘ erlebbar zu machen, ergibt sich zum Schluß dann
fast von selbst.
Begründete, aber teils erzwungene Argumentation
Auf diesem Wege hergeleitet, hat die frühe Kunsttheorie Hofmannsthals ihre Pointe also in
der "Vorstellung, daß ein Kunstwerk durch Formalisierung und ästhetische Stilisierung
zum Medium eines vitalen psychischen Erlebens werden kann" (S. 207). Für die poetische
Praxis bedeutet das: Nicht impressionistische Simulation, sondern ästhetische Stimulation der
Wahrnehmung gilt es ins Werk zu setzen. Daß Hofmannsthal sich dazu von den schreibenden
und bildenden Künstlern des französischen und englischen Symbolismus inspirieren
ließ und sich ihre "belebende Technik" (S. 113) insbesondere in seinen frühen
Dramen zu eigen machte, um seine poetische Idee nicht bloße Idee bleiben zu lassen, nimmt
man den reich belegten Ausführungen Streims gerne ab.
Wenn sich bei der Lektüre einer solchen ausgewogenen Dissertation dennoch hie und da
der Widerspruchsgeist der Rezensentin regt, so liegt das weniger in der fehlenden Absicherung der
Ergebnisse begründet als in dem unbeirrten ‚Logozentrismus‘ des Verfassers selbst: seinem
Willen zur Definitionsmacht, der die Kunsttheorie Hofmannsthals ganz und gar auf den Begriff bringen
bzw. in den Begriff zu zwingen sucht und dem die Verve der wissenschaftlichen Analyse deshalb ganz
zu willen ist - als eine Verve allerdings, die an der behandelten Sache eigentümlich
vorbeizugehen scheint und zumindest, wie ich meine, in zwei Hinsichten auch die leise Gewalt nicht
verleugnen kann, mit der der Eintracht der Argumente mitunter 'nachgeholfen‘ worden ist.
Ästhetizismus als Programm und künstlerische Praxis
Schon der Vorsatz, Hofmannsthalsche Poetik und Ästhetizismus partout in die Harmonie der
Synonymie zu zwingen, scheint mir so etwas forciert, wenn der Verfasser, um die Kohärenz
seiner Begrifflichkeit nicht zu gefährden, dieses Ansinnen am Ende gegen den eigensinnigen
Sprachgebrauch des Dichters durchsetzen muß. Die Poetik Hofmannsthals als
Ästhetizismus zu entziffern und zugleich gegen die vom Autor selbst mißbilligten
Strömungen der künstlerischen Moderne zu profilieren: Dieser Ehrgeiz bringt Streim
nämlich unversehens in den Zugzwang, in seinem Tableau der Schlüsselbegriffe
Hofmannsthalscher Kunstkritik - ein solches wird von ihm in akribischer ‚Interlinearversion‘ mit
einschlägigen Abhandlungen Nietzsches aus den frühen Essays des Dichters rekombiniert
- ausgerechnet die zentrale Systemstelle des Ganzen, den Platz des Ästhetizismus, doppelt
besetzen zu müssen. Zwar soll dieser Platz durchaus exklusiv dem unterstellten poetologischen
Programm Hofmannsthals vorbehalten bleiben, da dieses im Sinne der vorgeschlagenen Lektüre
mit Nietzsches Konzept des "ästhetischen Scheins" und dessen lebensphilosophisch
begründeten Ambitionen zusammenstimmen soll. Beansprucht wird er überdies aber auch
von der künstlerischen Praxis, die der Dichter selbst mit diesem Begriff assoziiert: jenem
Verfahren der sekundären Bearbeitung künstlerischer Vorfindlichkeiten, das er als
"Ästhetismus" - und keinesfalls durchweg anerkennend - namhaft macht.
Versuch einer begrifflichen Klärung
Nun wird
man Streim nicht vorwerfen können, daß er die Schwierigkeit dieser
auseinanderstrebenden Semantik übersähe. Denn tatsächlich ist in seiner
ausführlichen Diskussion der Essays, die genau genommen eine (Re-)Lektüre ihrer
Lektüren ist und begriffliche und argumentative Anleihen des Dichters bei den
zeitgenössischen Autoren offenzulegen vermag, sogar ein eigenes Kapitel für die
Klärung des kontroversen Ästhetismus-Begriffs Hofmannsthals gewidmet: ein Kapitel, das
zudem sehr abgewogen die Ambivalenzen seiner Verwendung diskutiert und Fallunterscheidungen
vornimmt, Richard Muthers Geschichte der Malerei im XIX. Jahrhundert als Quelle für
Hofmannsthals Vorverständnis des "Ästhetismus" identifizieren kann und
positive und negative Konnotationen des Begriffs definitorisch auszumitteln sucht. Freilich: Den Begriff
so zu neutralisieren, daß ihm die kritische Spitze abgebrochen wird, mit der Hofmannsthal ihn
sehr wohl dezidiert gegen moderne Autoren wendet, wenn sie über das Formenreservoir der
Kunst- und Literaturgeschichte mit allzu großem Kalkül und analytischer Distanz
verfügen - dies gelingt Streim trotz aller angestrengten Kasuistik nicht. Und indirekt gesteht er
dieses Scheitern sogar ein, indem er gegenüber "Ästhetismus" und
"Dilettantismus", den Chiffren einer "analytische[n] Geistestätigkeit" (S.
98), die eindeutig positiv konnotierten "Gegenbegriff[e]" (S. 122)
"Naivetät" und "Sittlichkeit" hervorhebt, die im ästhetischen Horizont
der frühen Essays Hofmannsthals auf eine schöpferisch fruchtbare Synthese von
Willensstärke und symbolischer Ausdruckskraft verweisen: viel eher also, möchte man
ergänzen, künstlerische Tugenden bezeichnen, an denen sich die Kunst und Leben
versöhnende Poetologie Hofmannsthals orientieren wird.
Definitorische Drahtseilakte
Wenn Streim sich, davon
unbeeindruckt, müht, die Stoßrichtung der "Ästhetismus"-Kritik von der
"beschriebene[n] Technik" (gemeint ist der Rückgriff auf Präfiguriertes aus der
Kunsttradition) auf "bestimmte - dilettantische - Formen ihrer Anwendung" (S. 114)
umzulenken, so muß dies - zumal angesichts seiner voraufgegangenen Feststellung, der
Ästhetizismus stelle die "dem Dilettantismus komplementäre geistig-
künstlerische Zeittendenz" (S. 95) dar - als gesucht sophistische Ehrenrettung erscheinen.
Zu offensichtlich ist hinter solchen Anstrengungen die Not erkennbar, den
"Ästhetismus" theoretisch nobilitieren und damit zur Leitformel der gesamten
Hofmannsthalschen Ästhetik trimmen zu müssen, weil diese unter dem Titel der
"Sittlichkeit" sonst in den Verdacht einer Kunstauffassung unter moralischem Vorbehalt
geriete, von dem Streim sie - gegenüber der bisherigen Forschung - ja gerade freisprechen will.
Mit dem Beharren auf einem Ästheti(zi)smus, der den behaupteten subjektiv-psychologischen
‚Lebens‘-Begriff Hofmannsthals tolerieren kann und ihn nicht, wie die Maxime der
"Sittlichkeit", sozialethisch zu bevormunden droht, wird so zuletzt aber ein hybrider
Schlüsselbegriff in Kauf genommen. Dem Leser bleibt die Irritation, daß es sich bei dem
"Ästhetizismus", der Hofmannsthal als eigene Kunstauffassung zugute gehalten wird,
und dem "Ästhetismus", den dieser selbst in seinen Essays als künstlerische
Praxis kritisch kommentiert, um Begriffe mit unterschiedlicher Komplexität und Reichweite
handelt.
Nun mag ein solches Räsonnieren über die Begriffsbildungsoperationen des
Verfassers übertrieben penibel erscheinen. Trotzdem, so denke ich, muß man sich fragen,
was mit einem derart zwangssystematisierten Ästhetizismus-Begriff für ein "neues
Verständnis des deutschen Ästhetizismus der Jahrhundertwende" (S. 3) gewonnen
ist, wenn sich in Hofmannsthals Essays selbst über den "Ästhetismus" eben
jener Bezug zu den parallelen literarischen Strömungen in Europa herstellt, den Streim mit
seinem "Ästhetizismus"-Begriff zugunsten einer starken Akzentuierung der deutschen
Differenzqualität in den Hintergrund zurückdrängen möchte. Um zu zeigen,
daß Hofmannsthals Ästhetizismus ein Nietzscheanismus ist, hätte es dieser
begrifflichen Seiltänzereien vielleicht gar nicht bedurft.
Verfehlte Vorgehensweisen...
Wenn man das Problem anders wendet und die im Detail sich versteckt haltenden
Unzulänglichkeiten einer terminologischen Disziplinierung der Kunsttheorie Hofmannsthals nicht
von den Grenzen der Studie, sondern von den Grenzen der studierten Sache her reflektiert,
gerät aber auch noch ein zweiter Gesichtspunkt in den Blick, der den ‚logozentristischen‘ Zugriff
des Verfassers in das Zwielicht des Forcierens bringt. Nimmt man jedenfalls den Anspruch einer
Ästhetik ernst, die erklärtermaßen die "Macht der begrifflichen Sprache"
brechen will, um die "kausal-analytische Betrachtung durch eine ästhetisch-
symbolische" zu ersetzen (S. 127), so scheint ein kausal-analytisches Vorgehen, auf diese
Ästhetik selbst mit dem Ziel einer Klärung ihrer Begriffe angewandt, von vornherein
unvermeidlichen Verfehlungen ausgeliefert und letztlich zum Scheitern verurteilt zu sein. Wenn der
Verfasser trotzdem ausgerechnet diesen Weg favorisiert, hätte man wenigstens eine kritische
Selbstreflexion und methodische Rechtfertigung erwarten dürfen. Noch konsequenter aber
wäre natürlich die heuristische Umorientierung der Studie gewesen: die Relativierung der
von Hofmannsthal herbeizitierten ‚-ismen‘ zugunsten einer geschärften Aufmerksamkeit für
die in Anschlag gebrachten Metaphern, insbesondere die zahlreichen Wahrnehmungsmetaphern, die
sich als Schlüssel zum Verständnis der Poetologie geradezu aufdrängen.
...aber gelungene Drameninterpretation
Diesen methodischen Einwänden zum Trotz argumentiert Streim in den selbstgesetzten
Grenzen seiner Studie andererseits viel zu fundiert, als daß diese es verdiente, nur an dem
gemessen zu werden, was sie unterläßt. Nicht schließen möchte ich deshalb
ohne den Hinweis auf die Lektüren der drei ausgewählten lyrischen Dramen, die den
‚Bedenkens-Wert‘ der gewonnenen Aufschlüsse über die Kunstkonzeption des
frühen Hofmannsthal noch einmal eindrucksvoll beweisen. Ausführliche Interpretationen
befassen sich hier im einzelnen mit den beiden vielzitierten Einaktern Der Tod des Tizian und Der Tor
und der Tod; in einem dritten Zugang wird schließlich das von der Forschung bislang kaum
beachtete Stück Die Frau im Fenster berücksichtigt.
Neu gelesen: "Der Tod des Tizian" und "Der Tor und der Tod"
Auf der Folie der dem Frühwerk Hofmannsthals zugrundegelegten Poetologie, für die der
Künstler derjenige ist, der "eine dionysische Lebenserfahrung in der künstlerischen
Form gestaltet" (S. 207) und sie als "künstlerische Wahrnehmung" (ebd.)
erfahrbar machen kann, gelingt Gregor Streim hier vor allem eine interessante Neubeleuchtung des
lyrischen Dramas Der Tod des Tizian. Pointe seiner Lektüre, die an den entwickelten
wirkungsästhetischen Ästhetizismus-Begriff anknüpft, ist dabei die kritische
Hinterfragung der Differenz zwischen Tizian und seinen Schülern, die die Forschung
mehrheitlich bisher im leeren Ästhetentum der Schüler begründet sah und das
Stück deshalb mit Peter Szondi geradezu zum Lehrstück der Ästhetizismus-Kritik
erhob. Streim kann dem nun eine Deutung entgegensetzen, die den Kern des dramatischen Konflikts
nicht mehr in der Diskrepanz zwischen lebensferner Kunst und aufgeschlossenem Leben, sondern in
der Kluft zwischen mustergültigem und unzulänglichem Künstlertum erkennt. Es gehe
in dem Stück, so lautet seine These, nicht um die moralische Verurteilung einer
ästhetischen Scheinwelt, gegen die die Ansprüche des sozialen Daseins eingeklagt
werden, sondern um die kritische Abrechnung mit einem halbherzigen Künstlertum, das den
hochgesteckten Anforderungen eines konsequenten Ästhetizismus nicht standzuhalten vermag.
Indem sich die Überlegenheit der ästhetizistischen Kunstkonzeption, für die nun
umgekehrt Tizian in Anspruch genommen wird, an der Nähe zu jenem vitalen Prinzip der
Existenz erweist, das das ‚Leben‘ ausmacht, schreibt sich die Differenz zwischen Kunst und Leben,
gewissermaßen in einer luhmannesken ‚Reentry‘-Bewegung, dem Feld künstlerischer
Praxis selbst wieder ein. Daß damit jedoch auf sehr instruktive Weise der Abstand zwischen
Tizian und seinen Schülern neu vermessen werden kann, weist Streim in seinen subtilen
Ausführungen zu dem berühmten Monolog Gianinos und zum letzten Bild des Tizian, zwei
Schlüsselpassagen des Dramas, überzeugend nach.
Auch in dem zweiten betrachteten Einakter, Der Tor und der Tod, setzt seine Analyse bei der
Herausforderung zur Aneignung einer ästhetizistischen Haltung an. Wie er zeigt, stellt das
Stück nicht das Scheitern einer maßlosen Don Giovanni-Figur, sondern vielmehr die
Läuterung des Protagonisten vom berechnenden Rationalisten zum empathischen
Ästheten zur Schau. Am Schluß des Dramas und Totentanzes sei Claudio, so Streims
Resümee, zu der Erkenntnis gereift, daß "die Erfahrung des ‚Lebens‘ mit einer
scheinhaften Wahrnehmung der Existenz zusammenfällt" (S. 210).
"Die Frau im Fenster"
Den beiden genannten Einaktern gegenüber fallen die Ausführungen zum dritten
literarischen Beispiel, der Frau im Fenster, etwas summarischer aus, weil der Einsatz von
Gestaltungsmitteln symbolistischer Stilisierung hier zwar in Struktur und Anlage des Einakters
aufgewiesen werden kann, die Erfahrung der Kunst auf der Suche nach dem 'Leben‘ für die
handelnden Figuren im Stück selbst aber weitgehend unerheblich bleibt. In der Chronologie der
Dramen, wie der der Arbeit Streims auch, bezeichnet die Frau im Fenster gleichwohl insofern einen
vorläufigen und folgerichtigen Schlußpunkt, als sie die Geltung der
"ästhetizistischen" Kunsttheorie für das Frühwerk Hofmannsthals auf
einer neuen, über die Inhalte der Dramen hinausgehenden Ebene beglaubigen kann: Eingang
findet diese nun in die Symbolik und die dramaturgische Disposition des Stückes selbst.
Überzeugende und umfassende Studie
Durchaus plausibel hat Gregor Streim im Gang durch das essayistische und literarische Werk
Hofmannsthals damit die Wirksamkeit einer nietzscheanisch inspirierten Poetologie im Zeichen der
Versöhnung von Kunst und Leben nachzeichnen und ihren funktionalen Zusammenhang zu den
erprobten symbolistischen Verfahren plausibel herstellen können. Ohne daß sie eigens
problematisiert würden, scheinen dabei am Rande auch die inneren Paradoxien auf, die diese
Poetologie begleiten: der Umstand, daß das Begehren nach einer unmittelbar sinnlich erlebbaren
Kunst bei Hofmannsthal offenbar einer fortgesetzten Stimulation durch die intellektuelle
Auseinandersetzung bedarf; oder jene andere Merkwürdigkeit, daß das intensivste Erleben
des vitalen Selbst in seinen Entwürfen notorisch unter dem Vorbehalt des Todes steht. Welche
Anschlüsse sich an die Ergebnisse der Studie ergeben, wird abzuwarten sein. Eine
Bereicherung für die mit inspirierenden Arbeiten zum Frühwerk des Dichters nicht gerade
verwöhnte Hofmannsthal-Forschung ist sie allemal.
Dr. Ethel Matala de Mazza
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Ins Netz gestellt am 11.11.1999
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