Mieszkowski über Bal: Travelling Concepts in the Humanities

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Sylvia Mieszkowski

>Wandernde Begriffe<
– Interdisziplinäre Methodologie à la Mieke Bal

Kurzrezension zu
  • Mieke Bal: Travelling Concepts in the Humanities. A Rough Guide. Toronto u.a. University of Toronto Press 2002. 369 S. Kart. EUR (D) 26,19.
    ISBN 0-8020-8410-9.


>Vorschau< und >Hauptfilm<

Wer sich für Narratologie interessiert, kennt Mieke Bal seit langem. Dem breiteren akademischen Publikum aber blieb die niederländische Literaturtheoretikerin, Bibelforscherin und Kunsthistorikerin, die seit 10 Jahren die Amsterdam School of Cultural Analysis leitet, hierzulande bisher eher unbekannt. 2002 unternahm dann der Suhrkamp-Verlag einen Vorstoß und brachte unter dem Titel Kulturanalyse eine Sammlung verstreuter >highlights< in deutscher Übersetzung auf den Markt. Das im selben Jahr erschienene Buch Travelling Concepts in the Humanities verhält sich zu Kulturanalyse ungefähr wie ein im O-Ton gezeigter großer Film zum gut gemachten Trailer in der Übersetzung.

Ausweg aus der Sackgasse
der >Kulturwissenschaften<

Travelling Concepts enthält einige der bereits als deutschsprachige Appetithappen präsentierten Texte im ausführlicher angelegten Original. Vor allem aber wartet Bals "book against confusion" (S. 3) mit einem theoretischen Gerüst auf, das erkennen läßt, welcher Anspruch sich hinter ihrem zunächst bescheiden und auf das Nominelle beschränkt scheinenden Vorschlag verbirgt, >Cultural Studies< durch >Cultural Analysis< zu ersetzten.

"While the object – what you study – has changed, the method – how you do it – has not" (S. 7). Der gewichtigste Vorwurf an die Cultural Studies – und die deutsche Variante >Kulturwissenschaften< kann sich hier gleich mit angesprochen fühlen – ist, daß es bisher nicht gelang, eine gemeinsame Methode zu entwickeln, die den oft exklusiv ausgerichteten Methoden der Einzeldisziplinen Paroli bieten könnte. Mit ihrer Intervention will Bal weg von einem Verfahren, das lediglich alte Methoden unreflektiert auf neue Untersuchungsgegenstände appliziert. Stattdessen geht es um die Erarbeitung eines für alle Geisteswissenschaften nutzbaren "methodological common ground" (S. 8), der Begriffe (concepts) zur Basis hat. Dabei geht es weder um brachiale Vereinheitlichung von Terminologie noch um Abschaffung der traditionellen Disziplinen oder Propagierung einer "muddled multidisciplinarity" (S. 25). Ziel ist vielmehr der produktive interdisziplinäre Dialog im Sinne des "rejecting dogmatism without sacrificing consistency" (S. 28).

Travelling Concepts
– >Wandernde Begriffe<

Begriffe, wie Bal sie versteht, sind "neither fixed nor unambiguous" (S. 23), prozessual zu denken und nur dann interessant, wenn sie mit Problemstellungen verbunden sind. Ihre Bedeutung, ihre Reichweite und ihr operativer Wert, so die grundlegende These, ändern sich, wenn sie >wandern<, d.h. wenn sie in einem anderen historischen Kontext oder im Rahmen einer anderen Disziplin als der, der sie entstammen, aufgegriffen und verwendet werden. Sie laden sich mit neuen Bedeutungen auf, vor allem aber entwickeln sie als Analyse-Instrument ein neues Potential.

Als Beispiel skizziert Bal in ihrem Eingangskapitel >Concept< die Stationen des Begriffs >focalisation<: Aus dem Bereich der Optik, wo er das Scharfstellen einer Linse bezeichnet, wurde er in die Narratologie importiert, wo er für die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Wahrnehmung steht, um dann in den Bereich der Bildanalyse übernommen zu werden. Dort angekommen kann er – angereichert von seiner >Reise< – anderes und mehr leisten als in den Kontexten, die er durchlaufen hat. Es geht nun nicht mehr um die Verortung des Blicks oder um jenes Bündel von Wahrnehmungen und Interpretationen, die den Leser durch eine Erzählung geleiten. Dank des erzähltheoretischen >Reise-Gepäcks<, das der Begriff >focalisation< mit sich führt, wird nun die Mobilität des Blicks in der traditionell statisch gedachten Domäne des Bildlichen wahrnehm- und beschreibbar.

What You Get Is What You See

Ein Akzent dieses stets auf mehreren Ebenen gleichzeitig operierenden Buches liegt auf der Entwicklung einer visuellen Poetik aus der gegenseitigen Befruchtung von Bildern (images) und narrativen Strukturen heraus. Travelling Concepts beläßt es dabei nicht bei der luziden theoretischen Reflexion der Rolle und Möglichkeiten des >wandernden Begriffs<. Es geht immer wieder zentral darum, dem jeweils analysierten Objekt – sei es ein Bild, eine Installation, eine Operninszenierung, ein Video, eine Ausstellung, eine Photoserie oder ein Text aus dem Bereich der Postcolonial Theory – eine privilegierte >Stimme< im Dialog mit analysierendem Bewußtsein und den jeweiligen zum Einsatz kommenden Begriffen zu verleihen.

"[T]heory here is not an instrument of analysis, to be >applied< to the art object, supposedly serving it but in fact subjecting it. Instead, it is a discourse that can be brought to bear on the object at the same time as the object can be brought to bear on it" (S. 61).

So demonstriert das Buch eindrücklich, was es ganz konkret heißen kann, mit Erkenntnisgewinn zwischen Wort und Begriff zu >reisen<, sich mit Hilfe von Begriffen wie >image<, >mise-en-scène<, >framing<, >performance and performativity<, >tradition<, >intention< oder >critical intimacy< zwischen verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zu bewegen, zwischen Begriff und analysiertem Objekt oder zwischen Theorie und Praxis zu oszillieren.

Forderungen, Überforderungen, Aufforderungen

Ein besonderer Glanzpunkt ist das Kapitel zu >image<. Bal bringt hier Louise Bourgeois' Femme-Maison (1983) als >theoretisches Objekt< so zum Einsatz, daß es quasi in einen Dialog mit Berninis Ekstase der Hl. Theresa (1647) eintritt, in dem die beiden >barocken< Skulpturen sich in Bezug auf den Prozeß der Bedeutungsproduktion gegenseitig supplementieren. Gleichzeitig wird dabei das Verhältnis zwischen Philosophie und Kunstgeschichte als ekstatische Form der Übersetzung lesbar gemacht. Pate für diese Denkbewegung Bals steht dabei Walter Benjamins sprachphilosophische Glorifizierung des Prozesses der Übersetzung als Befreiung, Wandlung und Erneuerung.

Wer bei dieser Kurzzusammenfassung innerlich aufstöhnt oder sich potentiell überfordert wähnen möchte, tut dies nicht ganz unbegründet und doch zu Unrecht. Ja, dieses Buch ist anspruchsvolle, manchmal mühsame Lektüre. Und wer mit Benjamin, Austin, Deleuze und Lacan noch beschwingt durch das >image<-Kapitel tänzelt, der wird doch vielleicht im abschließenden >critical intimacy<-Kapitel ins Trudeln geraten. Hier vertauscht Bal die Rolle der Lehrenden mit der der Lernenden, um bei Gayatri Chakravorty Spivak zu >studieren<, die, so erfahren wir, in ihrem Buch Critique of Postcolonial Reason (1999) Kant, Hegel und Marx einem >productive misreading< unterzieht. Bal hinwiederum, so wird uns gesagt, will Spivaks Text mit genau demselben Verfahren begegnen. Mindestens der Leser, der Spivaks Buch nicht kennt oder der gar den entsprechenden Passus bei Kant nicht unmittelbar präsent haben sollte, steigt im Versuch, der in schwindelnden Höhen balancierenden Bal nach zu denken, irgendwann aus.

So viel zur Berechtigung des Stoßseufzers möglicher Leser. Nun zum Unrecht, daß Travelling Concepts in doppelter Hinsicht getan würde, so sich diese punktuelle Überforderung in prophylaktischer Ablehnung niederschlagen sollte. Erstens gibt es Kapitel, die äußerst angenehm zu lesen sind, die fordern, aber nie überstrapazieren. Stattdessen führen sie schlüssig vor, wie es sich mit Begriffen wie >mise-en-scène< kulturanalytisch operieren läßt oder warum >performance< von >performativity< genau zu unterscheiden ist, auch wenn die beiden Begriffe selten voneinander getrennt auftreten, oder wie man sich mit beinahe zu >Buhwörtern< verkommenen Konzepten wie >intention< oder eventuell politisch problematischen Begriffen wie >tradition< trotzdem produktiv und verantwortlich auseinandersetzen kann.

Geradezu aufregend ist es außerdem, der inspirierten und unweigerlich auch inspirierenden Denkerin Bal über die Schulter zu schauen, wenn sie im Kapitel >framing< als Ausstellungsmacherin praktisch unterwegs ist. Zweitens gelingt es ihr, auch wenn sie stellenweise strategisch überfordert, Travelling Concepts vor allem als Aufforderung zu präsentieren. So etwa im Kapitel zu >intention<, wo ein semi-fiktiver Disput zwischen traditioneller Kunstgeschichte und Kulturanalyse >en miniature< inszeniert wird. Bal gibt einen von ihr selbst in die Diskussion gebrachten Begriff auf, weil er sie argumentativ nicht weiterbringt, greift stattdessen einen Vorschlag ihrer >Gegnerin< Svetlana Alpers auf, um damit kulturanalytisch weiterzudenken. Wie nebenbei wird demonstriert, wie inspirierte Wissenschaft funktioniert und worum es bei der Kulturanalyse geht: "productive complicity" (S. 201) und "productive opposition" (S. 266).


Dr. Sylvia Mieszkowski
Ludwig-Maximilians-Universität München
Department für Anglistik und Amerikanistik
Schellingstr. 3
D–80799 München

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Ins Netz gestellt am 01.10.2003
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