Mix über Detering u.a.:Deutsch-dänischer Kulturtransfer

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York-Gothart Mix

Deutsch-dänischer Kulturtransfer
im 18. und 19. Jahrhundert

  • Heinrich Detering / Anne-Bitt Gerecke / Johan de Mylius (Hg.): Dänisch-deutsche Doppelgänger. Transnationale und bikulturelle Literatur zwischen Barock und Moderne. (Grenzgänge. Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte, hg. v. Heinrich Detering u. Dieter Lohmeier, Bd. 3) Göttingen: Wallstein Verlag 2001. 240 S. Kart. DM 40,-.
    ISBN 3-8924-4356-4.


Inhalt

I. Transnationale Kultur im dänisch-deutschen Gesamtstaat | II. Dänisch-deutsche Doppelgänger | III. Kritik und Forschungsperspektiven

Der Beginn einer produktiven Verbindung zwischen der deutschen und der dänischen Literatur läßt sich, abgesehen von der sporadischen Rezeption der Gesta Danorum (1185—1222) oder der Liedsammlung Et hundrede udvalde danske viser (1591), in die Jahrzehnte der Frühaufklärung datieren. Begünstigt durch die politisch ungewöhnliche Konstruktion des sich 1721 etablierenden, bis in das 19. Jahrhundert bestehenden Gesamtstaates blieben die Literaturen des deutschen und dänischen Sprachraumes unter wechselnden Vorzeichen über die Zäsuren der Schleswig-Holsteinischen Erhebung 1848 und des deutsch-dänischen Krieges 1864 hinaus bis in die frühe Moderne eng aufeinander bezogen. Der von Heinrich Detering, Anne-Bitt Gerecke und Johan de Mylius herausgegebene Sammelband Dänisch-deutsche Doppelgänger, als dritter Band der Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte 2001 erschienen, geht den interkulturellen Korrelationen in den binational und bilingual geprägten literarischen Öffentlichkeiten des Nordens in der Zeit zwischen Barock und Fin de siècle nach.

I. Transnationale Kultur im
dänisch-deutschen Gesamtstaat

Zusammen mit den Königreichen Dänemark und Norwegen bildete Schleswig-Holstein im 18. und bis weit in das 19. Jahrhundert hinein einen Gesamtstaat, der sich von der Elbe bis an das Nordkap erstreckte. Spätestens seit 1700 wurde die Politik der dänischen Krone von dem Ziel bestimmt, die Herzogtümer Schleswig und Holstein wieder unter eine Herrschaft zu bringen. Diese Bestrebungen waren erfolgreich, 1721 wurde zunächst der gottorfische Anteil des Herzogtums mit dem königlichen Anteil zusammengeführt und 1773 konnte mit dem in Kiel ratifizierten Vertrag von Zarskoje Zelo dann der reunionspolitisch entscheidene Schritt vollzogen werden. 1779 wurden die fehlenden Distrikte des Glücksburgischen Hauses dazugeschlagen. Allein die Gebiete des Fürstbischofs von Lübeck mit der kulturell bedeutenden Residenzstadt Eutin blieben als Enklave bestehen. Für die Innenpolitik in den Herzogtümern war die Deutsche Kanzlei in Kopenhagen zuständig. Personell wurde diese symbiotische politische Verbindung durch einen Verwandtschaftskreis repräsentiert, der sich aus den politisch und intellektuell einflußreichsten Adelsfamilien Schleswig-Holsteins und der dänischen Inseln rekrutierte: der Bernstorff-Stolberg-Reventlow-Schimmelmannsche Familienkreis. Lange ließ sich diese Herrschaftselite von der Maxime des Aufklärers, Außenministers und Chefs der Deutschen Kanzlei Andreas Peter Graf von Bernstorff "Patria ubique" ("Überall ist Vaterland") leiten.

Unter dezidiert aufklärerischen Prämissen setzte mit der Formierung dieses Gesamtstaates ein ungewöhnlich intensiver deutsch-dänischer Kulturtransfer ein, der, wie der vorliegende Sammelband zeigt, markante Spuren in den jeweiligen Nationalliteraturen hinterließ. Bernstorff setzte die Politik seines Onkels Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff fort und initierte und unterstützte Reformen, die weit über die Grenzen des Gesamtstaates Aufsehen erregten: die Aufhebung der Zensur (1770), die Bauernbefreiung sowie 1792 die ersten europäischen Maßnahmen gegen den Sklavenhandel in Afrika und der Karibik. Zu Beginn der Herrschaft Johann Friedrich Struensees nahm zwar Bernstorff seinen Rücktritt, spielte aber nach dessen Hinrichtung 1772 mit einer kurzen Unterbrechung bis zu seinem Tod 1797 wieder eine zentrale Rolle in der nordeuropäischen Politik.

Struensees allmächtige Position als Geheimer Kabinettsminister, seine Beziehung zur Königin Mathilde und die von ihm verfügten Reformen par ordre provozierten allerdings jene dänischen Überfremdungsängste, die sein Kontrahent Ove Høegh-Guldberg politisch artikulierte und die 1776 zur Verabschiedung eines Indigenatsgesetzes führten, das die interkulturelle Parität zugunsten eines staatlich verfügten Danizismus verschob. Dieses Gesetz, das auch für den scheinbar absoluten Herrscher, den regierungsunfähigen König Christian VII. und seine Nachfolger verbindlich blieb, veränderte die Personalpolitik des Staates, konnte aber das breite Interesse der politischen Funktionselite in Kopenhagen und des nordelbischen Adels für die deutsche Kultur nicht zurückdrängen.

Schon die 1739 unter dem vom Halleschen Pietismus inspirierten König Christian VI. erlassene erste allgemeine Schulordnung, die den Analphabetismus der ländlichen Bevölkerungsschichten beseitigen sollte, war ein Zeugnis deutsch-dänischen Kulturtransfers und unübersehbar aufklärerisch geprägt. Neben den Brennpunkten interkultureller Vermittlung, also Kopenhagen und der Ritterakademie Sorø, wo unter anderem Johann Elias Schlegel (1719—1749) und Johann Bernhard Basedow (1723—1790) lehrten, etablierten sich in den letzten zwei Jahrzehnten in dem vom Adel beherrschten östlichen Holstein zwei kulturelle Zentren, die über die Grenzen des Alten Reiches und des Gesamtstaates hinaus Beachtung fanden: Eutin und Emkendorf. Nach der Ära Friedrich V., in der vom Kopenhagener Kreis um Johann Elias Schlegel, Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (1737—1823), Johann Andreas Cramer (1723—1788), Friedrich Gottlieb Klopstock (1724—1803), Helferich Peter Sturz (1736—1779) und zeitweilig auch Matthias Claudius (1740—1815) entscheidende Impulse ausgingen, etablierte sich Eutin als neues literarisches und künstlerisches Zentrum.

Eutin, als Enklave und Sommerresidenz des Herzogs Peter Friedrich Ludwig von Oldenburg nicht zum Gesamtstaat gehörig, wurde durch seine Lage und den Einfluß von Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750—1819) zu einem kulturellen Kristallisationspunkt des Nordens. Zum Eutiner Kreis zählten Stolberg, Johann Heinrich Voß (1751—1826), Gerstenberg, Friedrich Heinrich Jacobi (1743—1819), Georg Heinrich Ludwig Nicolovius (1767—1839) und Johann Georg Schlosser (1739—1799). Der von 1789 bis 1799 in Neapel tätige Johann Heinrich Wilhelm Tischbein und Ludwig Philipp Strack waren als Maler für den Herzog am Eutiner Hof tätig. 1786 wurde hier der bedeutendste Komponist der musikalischen Romantik, Carl Maria von Weber, geboren. Auf dem im frühklassizistischen Stil umgebauten Gut Emkendorf herrschte ein reges intellektuelles Leben wie auf keinem anderen Landsitz im Gesamtstaat. Die bestimmende Figur des Emkendorfer Kreises, dem sich Christian Graf zu Stolberg (1748—1821), Claudius, Klopstock, Friedrich Heinrich Jacobi, Heinrich Christian Boie (1744—1806) und sogar Johann Caspar Lavater (1741—1801) verbunden fühlten, war die Schwester von Friedrich Schillers (1759—1805) Förderer Heinrich Ernst Graf von Schimmelmann, Julia Gräfin von Reventlow.

Als Förderer der Literatur, Kunst und Musik initiierte das dänische Königshaus und der Bernstorff-Stolberg-Reventlow-Schimmelmannsche Familienkreis ein Mäzenatentum, das in den Jahrzehnten zwischen Aufklärung und Klassik nicht in Wien, Dresden, München, Potsdam oder gar in Leipzig oder Hamburg beheimatet war, sondern jenseits der Grenzen des Alten Reiches, in Kopenhagen. Pensionszuwendungen und Stipendien erhielten angesehene Autoren wie Klopstock, Claudius oder Schiller, aber auch weniger bekannte Literaten wie Jens Immanuel Baggesen (1764—1826) oder Johann Gottwerth Müller von Itzehoe (1742—1828). Gerstenberg wurde mit verschiedenen Ämtern und Titeln als Sinekure unterstützt, Schiller vollendete mit einem Stipendium des Herzogs Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und des Grafen von Schimmelmann eine der Programmschriften der deutschen Klassik: die Abhandlung Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Schimmelmanns Schwester, Caroline Gräfin von Baudissin, engagierte sich finanziell bei der Ausbildung der Kinder Johann Gottfried Herders (1744—1803). Selbst 1843, als das Verhältnis zwischen Dänen und Deutschen primär aus nationalistischem Blickwinkel betrachtet wurde, gewährte der dänische König Christian VIII. dem jungen Dramatiker Friedrich Hebbel (1813—1863) ein zweijähriges Stipendium, das dieser dazu nutzte, seine längst projektierte Tragödie Maria Magdalene zu Papier zu bringen. Während seines Kopenhagener Aufenthalts standen ihm zwei Autoritäten mit Rat und Tat zur Seite, die zu ihrer Zeit vom Geheimen Staatsminister von Schimmelmann gefördert worden waren — Adam Gottlob Oehlenschläger (1779—1850) und Bertel Thorvaldsen.

Die Grenzen intellektueller Toleranz und dezidiert interkultureller Interessen zeigten sich in Nordelbingen in der Zeit nach 1793 in der Bewertung der Französischen Revolution. Die kompromißlose Haltung von Voß und Stolberg in dieser Frage markierte das Ende des Eutiner Kreises, provozierte den Bruch der Freundschaft zwischen den beiden ehemaligen Hainbündlern und war ungeachtet des persönlichen Streits auch repräsentativ für die politische Stimmung in den Herzogtümern. Die Feindschaft des Emkendorfer Kreises gegenüber den Befürwortern der Französischen Revolution an der Kieler Universität, dem Philosophen Karl Leonhard Reinhold (1758—1823) und dem Gräzisten Karl Friedrich Cramer (1752—1807), wurde bald offen demonstriert. Cramer wurde als Revolutionsfreund seiner Stellung enthoben, 1794 aus dem dänischen Staatsdienst entlassen und durch die Verweisung außer Landes zur Emigration gezwungen. Mit der Berufung von Schimmelmanns Schwager, Fritz Graf von Reventlow, zum Kurator der Christiana Albertina wurde der neue repressive Kurs konsequent weitergeführt. Galt der dänisch-deutsche Gesamtstaat bisher als Domäne der Geistesfreiheit und der Aufklärung, so wurde dieser Ruf jetzt durch alltagspolitisch motivierte Machtdemonstrationen nachhaltig beschädigt.

Weniger als die Publizistik und Literatur, die wie Johann Elias Schlegels Canut, Gerstenbergs Kriegslieder eines Königlich Dänischen Grenadiers, Claudius' Fabel Brummelbär oder seine Schrift Auch ein Beytrag über die Neue Politik, Voß' Hymnus an die Freiheit, Baggesens Reisebeschreibung Labyrinthen eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankrig oder Friedrich Leopold Graf zu Stolbergs Oden Die Westhunnen und Kassandra immer wieder einen unübersehbaren Zeitbezug aufwies, standen die Malerei und die Musik im Zentrum der öffentlichen Diskussion. Dennoch waren die Exponenten des dänischen Klassizismus wie der Porträtist und Landschaftsmaler Jens Juel oder der Bildhauer Thorvaldsen auch in den Herzogtümern vielbeachtete und gefragte Künstler.

Auch das zeitgenössische Musikleben wurde von einem intensiven Kulturtransfer geprägt. Die Entwicklung der dänischen Oper wurde ganz wesentlich von Friedrich Ludwig Aemilius Kunzens Musikdrama Holger Danske beinflußt, das der aus Lübeck stammende Komponist 1787 in Kopenhagen mit großem Erfolg auf die Bühne brachte. Kunzen war von 1791 bis 1792 Mitherausgeber von Johann Friedrich Reichardts (1752—1814) Musikalischem Wochenblatt und wurde 1795 in Kopenhagen Nachfolger des Hofkapellmeisters Johann Abraham Peter Schulz. Schulz trat als wichtigster musikalischer Mitarbeiter am Musenalmanach von Voß hervor, er vertonte weit über hundert Lieder von Claudius, Ludwig Christoph Heinrich Hölty (1748—1776), Baggesen, Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719—1803), Friederike Brun (1765—1835) und anderen. Der 1747 in Lüneburg geborene Schulz entsprach mit seinen zwischen 1782 und 1790 publizierten Sammlungen Lieder im Volkston ganz den liedästhetischen Maximen der Spätaufklärung und war einer der populärsten Komponisten der Zeit. Mit seiner Vertonung von Thomas Thaarups (1749—1821) Hymne an Gott in der Übersetzung von Voß machte er den Dänen im deutschen Sprachraum bekannt.

Die in diesen interkulturellen Korrelationen zum Ausdruck kommende Maxime "Patria ubique" wurde in der Napoleonischen Ära unter nationalistischen Vorzeichen in Frage gestellt. Seit seiner Krönung 1808 zeigte sich König Frederik VI. bemüht, die von Bernstorff favorisierte Staatskonzeption unter zentralistischen Vorzeichen zu revidieren. Im Gegensatz zu Bernstorffs Idee der Einigkeit vertrat Frederik VI. das staats- und kulturpolitische Ziel einer Einheit. Diese in einen Dualismus von Staat und Volk mündende Vorstellung begünstigte den Prozeß einer kulturellen Entfremdung, schürte die sprachpolitischen Konflikte und nährte den schleswig-holsteinischen Separatismus. Unterstützung für seine Politik fand Frederik VI. bei Frederik Høgh-Guldberg, dem Sohn des gescheiterten Kabinettssekretärs, der mit der Einführung der dänischen Sprache in allen Territorien zwischen der Elbe und dem Nordkap die Staatseinheit festigen wollte. Aus ähnlichen Motiven veranlaßte der Regent 1811 die Berufung von Baggesen auf einen Lehrstuhl für Dänisch an der Universität Kiel.

Die nun virulent werdenden kulturellen Differenzen ließen sich bis in einzelne Familien des Bildungsbürgertums hinein verfolgen: Während der 1773 in Stavanger geborene romantische Naturphilosoph Henrik Steffens (1773—1845), Sohn eines holsteinischen Arztes, im Stab von Neithardt Graf von Gneisenau begeistert an den Befreiungskriegen teilnahm, formulierte sein Vetter, der Theologe und Pädagoge Nicolai Frederik Severin Grundtvig (1783—1872), wenige Jahre später die Grundsätze der dänischen Volkshochschulbewegung, die sich mit der Parole "Folkelighed" ("Volkstum") entschieden gegen den Einfluß der deutschen Kultur wandte. Dieser sich in den folgenden Jahrzehnten zuspitzende Konflikt, der schließlich in der schleswig-holsteinischen Erhebung 1848 und im deutsch-dänischen Krieg 1864 eskalierte, fand unübersehbar seinen Niederschlag im Werk von Harro Paul Harring (1798—1870), Theodor Storm (1817—1888), Hans Christian Andersen (1805—1875), Jens Peter Jacobsen (1847—1885), Georg Brandes (1842—1927) und anderen.

II. Dänisch-deutsche Doppelgänger

Der von Detering, Gerecke und de Mylius herausgegebene Sammelband widmet sich diesem hier nur knapp skizzierten Problemfeld und versucht, so das Vorwort, die "literarische Vor- und Frühgeschichte der Kategorien Nationalität und Nationalliteratur (auch des Konzepts einer Nationalphilologie)" im "Spannungsverhältnisse zwischen den Literaturen Dänemarks und Deutschlands"(S.7) zu konkretisieren. Im Zentrum des Interesses stehen deshalb diejenigen "dänisch-deutschen Autoren und Werke, die ihrer Herkunft oder Absicht nach bikulturell, binational, oft zudem auch bilingual" (S.7f) waren. Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen widmen sich die 14 Aufsätze des Bandes, Erträge eines Symposions, das 1998 in der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek Kiel stattfand, Themen, die mit dieser Problemstellung direkt oder indirekt verknüpft sind und bisher in den national orientierten Literaturgeschichten eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben.

Erwartungsgemäß liegt der Schwerpunkt bei Texten und Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts: den Werken und der Vita von Gerstenberg, Christian Levin Sander (1756—1819), Brun, Baggesen, Carl Friedrich Cramer, Oehlenschläger, Andersen und Brandes. Ergänzt wird dieses Spektrum durch Beiträge, die sich Autoren widmen, die zwar nicht im engeren Sinne als Grenzgänger zwischen einer deutsch oder dänisch geprägten Kultur begriffen werden können, die aber dennoch eine nicht zu übersehende Rolle im Prozeß des wechselseitigen Kulturtransfers gespielt haben: Zacharias Lund (1608—1754), Hans Adolph Brorson (1694—1754), Ludvig Holberg (1684—1754) und Herman Joachim Bang (1857—1912).

Eröffnet wird der Band von einem literatur- und sozialgeschichtlich orientierten Beitrag von Dieter Lohmeier über den aus Nordschleswig stammenden, in den meisten Literaturgeschichten nur beiläufig erwähnten Dichter, Theologen und Gelehrten Lund. Nach einem abgebrochenen Theologiestudium in Wittenberg verdingte sich Lund zeitweilig in Hamburg als Hauslehrer und wurde schließlich als Sekretär der Deutschen Kanzlei in Kopenhagen tätig. Lohmeier analysiert Lunds dichterische Praxis im epochentypischen Spannungsfeld zwischen der neulateinischen Bildungssprache des Humanismus und einer erneuerten deutschen Literatur und macht deutlich, daß die Übersiedlung nach Kopenhagen mit einer signifikanten Umorientierung verbunden war: nur in seiner Jugend versuchte sich Lund als "moderner deutscher Barockdichter", in Dänemark wurde er wieder zum "Neulateiner, der er wohl eigentlich viel lieber war" (S.25).

Komplementär zu Lohmeiers Ausführungen ist Steffen Arndals Beitrag über den Kirchenlieddichter Brorson zu sehen. Entgegen der gängigen Deutungstradition weist Arndal detailliert nach, daß die von einer national ausgerichteten Philologie unterstellten patriotischen Motive für den bedeutendsten Dichter des dänischen Pietismus keine Rolle gespielt haben. Bei seiner Adaption der im Halleschen Pietismus verwurzelten hymnologischen Traditionen und Formen interessierte Brorson nicht die immer wieder beschworene Diskrepanz zwischen Dänen und Deutschen, sondern die für den südjütländischen Bischof viel relevantere Unterscheidung zwischen "den Nicht-Bekehrten und den Bekehrten" (S.56). Durch Brorson fand das pietistische Kirchenliedrepertoire definitiv "Eingang in die dänische Kirchenliedtradition" (S.57).

Auf diesen immer wieder erkennbaren "Referenzrahmen einer dänisch-deutschen Mischkultur" (S.48) waren auch viele Komödien Holbergs bezogen. Fritz Paul konkretisiert in seinem Aufsatz über die Sprachspiele des dänischen Autors, daß die in seinen Dramen zur Entfaltung von Komik in aufklärerischer Absicht verwendeten deutschsprachigen Passagen sich hauptsächlich auf drei Figurentypen konzentrieren: den großspurigen Offizier, den schwatzhaften Barbier und den sich in einem eigenwilligen Sprachgemisch artikulierenden geschäftstüchtigen Juden. Paul vertritt die These, daß der problematische Typus des Juden durch Holberg "in die deutsche Komödie eingeführt" (S.48) worden sei.

Anderen, nicht weniger wirksamen Varianten des bikulturell-bilingual geprägten Bewußtseins sind die Aufsätze von Gerecke und Andreas Blödorn über Gerstenberg und Sander gewidmet. Während der Schleswiger Gerstenberg seine mehrsprachige Sozialisation als Chance zur theoretischen Fundierung einer transnational orientierten, den Mythos des Nordens affirmierenden Literatur begriff, ging der aus Holstein stammende, zeitweilig an Basedows Dessauer Philantropin tätige Sander den umgekehrten Weg. In der Diskussion um kulturelle Identität und Alterität entschied sich der spätere Professor an der Kopenhagener Universität für die dänische Seite. Sander wirkte zwar als "aufgeklärter Vermittler zwischen den beiden Nationen", betrachtete es aber als seine eigentliche Aufgabe, "den Deutschen Dänisches zugänglich zu machen"(S.94). Vor dem Hintergrund des unter romantischen Vorzeichen sich radikalisierenden Kulturkonflikts sah und fand Sander seinen Wirkungskreis als dänischer Patriot.

Die Lyrikerin Brun und der Homiletiker Cramer sind hingegen, wie die Beiträge von Karin Hoff und Sven-Aage Jørgensen deutlich machen, Beispiele für eine kritische Distanz zu nationalkulturellen Vereinnahmungsversuchen. "Zu welchem Volk ich nun eigentlich gehöre, weiß ich wirklich nicht" (S.102), bekennt die Erzählerin in Bruns semifiktionalem, biographisch inspiriertem ErinnerungsbuchWahrheit aus Morgenträumen, das Hoff in Abgrenzung zur älteren Forschung (Louis Bobé, Rosa Olbrich) als kosmopolitischen Selbstentwurf interpretiert. Das, was unabhängiger, nicht in den Zwängen des Berufslebens stehender weiblicher Autorschaft möglich ist, wird dem Beamten Cramer zum Verhängnis. Sein offenes Bekenntnis zum Kosmopolitismus zwingt ihn in das Exil nach Paris, wo er schließlich als anachronistisch wirkender "Nachzügler der Gesamtstaatskultur" (S.133) und unermüdlicher Vermittler der deutschen und französischen Literatur 1807 stirbt.

Cramer war es auch, der 1793—1995 die erste deutsche Übersetzung von Baggesens Hauptwerk Labyrinthen eller Reise giennem Tydskland, Schweitz og Frankrig vorlegte. In ihrem knappen Beitrag Warum und wie übersetzt man Jens Baggesen im 20. Jahrhundert? geht Gisela Perlet auch auf diese Leistung Cramers ein und stellt aktuelle Editionsfragen zur Diskussion.

Die folgenden vier Aufsätze von Leif Ludwig Albertsen, Heinrich Anz, de Mylius und Detering beleuchten aus unterschiedlicher Perspektive die Rezeption der Werke Oehlenschlägers und Andersens in Deutschland. Während Albertsen am Beispiel Oehlenschlägers Dramen Correggio und Axel und Walburg die Divergenz der kulturellen Normsysteme des deutschen Biedermeier und der dänischen Nationalromantik erhellt, analysiert Anz das "Janusgesicht" des Dänen, der als Grenzgänger in der phasenverschobenen Entwicklung der Nationalliteraturen von den einen als "skandinavischer Radikalromantiker" und von den anderen "als romantischer Klassikepigone" (S.155) etikettiert und mißverstanden wurde. Von Mißverständnissen war auch Andersens Durchbruch auf dem deutschen Buchmarkt begleitet. Anhand von paratextuellen Zusammenhängen, de facto bislang wenig beachteten Quellen, rekonstruiert de Mylius die von Kritikern, Biographen und Journalisten forcierte "biedermeierliche Inszenierung von Andersens Leben" (S.161), die zu einer kurzschlüssigen Identifizierung von Leben und Werk des Autors führte und die Bezeichnung Märchen als Deutungsmodell seines Lebens etablierte. Wie relevant der Blick auf die Kultur des Nachbarn für diesen Autor war, demonstriert Detering in seinem textanalytisch und biographisch orientierten Aufsatz über den Kosmopolitismus, die Bikulturalität und den Patriotismus Andersens. Der aufbrechende, 1864 kulminierende Konflikt zwischen Dänen und Deutschen zählte zu den großen "Lebenserschütterungen" in Andersens Leben und stellte seine "literarische Identität" (S.180) radikal in Frage.

Am Ende des im Band Doppelgänger entfalteten deutsch-dänischen Panaromas stehen zwei Aufsätze von Klaus Bohnen und Erich Unglaub. Sie widmen sich Jacobsen, Bang, dem Schweden August Strindberg sowie dem letzten der "großen Grenzgänger zwischen den Kulturen" (S.196): Brandes.

In seinem Beitrag Der grenzüberschreitende Mentor. Georg Brandes' kritische Strategie in seiner deutschen Korrespondenz ruft Bohnen noch einmal die bedeutende Rolle des dänischen Kritikers und Schriftstellers als "Analytiker deutscher Literatur" und als "Vermittler skandinavischer und französischer" (S.199f) Kultur ins Gedächtnis. Bohnen analysiert die Steuerungsmechanismen des literarischen Marktes, geht eingehend auf die umfangreiche Korrespondenz von Brandes ein und erhellt vor diesem Hintergrund die interkulturelle Bedeutung dieses Autors, der auf die dänische und deutsche Literatur einwirkte.

Wie wenig tragfähig der so selbstverständlich benutzte Begriff der Nationalliteratur ist, zeigt Unglaub in seinem abschließenden Beitrag Deutsch und doch nicht feindlich. Das Österreich der skandinavischen Grenzgänger von 1864 bis 1910. Die Literatur der deutschsprachigen Gebiete der k. k. Monarchie wurde von vielen Skandinaviern als Zeugnis einer "ausgeprägt anderen Kultur" (S.213) gedeutet, die mit dem verhaßten Preußen wenig gemein zu haben schien. Auch wenn Österreich von Brandes bei der Rückkehr aus Italien 1870 noch als "symbolischer Vorbote der aggressiven deutschen Mächte" (S.218) wahrgenommen wurde, setzte sich bald eine andere Sichtweise durch. Jacobsen und Bang erleben auf ihren Reisen Österreich als "Ausprägung einer katholisch geprägten Symbolwelt" (S.221), die auf sie unerwartet irritierend, aber auch faszinierend wirkte.

III. Kritik und Forschungsperspektiven

Ungeachtet auffälliger redaktioneller Mängel, beispielsweise selbst in das Register übernommener, inkorrekter Namensschreibungen ("Borson, Hans Adolph", "Goedecke, Carl", "Hermann, U.", "Hoertschansky, Klaus", "Nestroy, Jean Nepomuk", "Paul, Jean", "Schultz, Johann Abraham Peter", "Schimmelmann, Heinrich", "Sieyés, Abbé", "Staël, Anne Germaine de", "Stackerjahn, C. F.", "Stolberg, Luise", "Thorvaldsen, Bertil" u. a. ) oder der Verwechslung von historischen mit fiktiven Personen ("Lyhne, Niels", "Schönaich, Felix") liegt ein Band vor, der ungeachtet seines streckenweise kompilierenden Charakters zu weiteren Forschungen anregt. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang vor allem die Beiträge von Bohnen, Detering und Unglaub. Bohnens Hinweise auf die Regulative des Buchmarktes sind in diesem Kontext ebenso weiterführend wie Deterings Problematisierung des Autorbildes oder Unglaubs Untersuchung nationaler Selbst- und Fremdbilder.

Die systematische Erforschung des deutsch-dänischen Kultutransfers bleibt ein wichtiges Desiderat. Dabei sollte sich der Blick nicht nur auf jene Autoren richten, die die Herausgeber selbst ergänzend nennen (Johann Elias Schlegel, Steffens, Theodor Fontane (1819—1898), Karl Gjellerup (1857—1919)), sondern auch auf Christian Weise (1642—1708), Johann Andreas Cramer, Claudius, Johann Arnold Ebert (1723—1795), Basedow, Klopstock, Johannes Ewald (1747—1822), Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, Thaarup, Adolph Wilhelm Schack von Staffeldt (1769—1826), Hebbel, Storm, Søren Kierkegaard (1813—1855), Thomas Mann (1875—1955), Rainer Maria Rilke (1875—1926), Martin Heidegger (1889—1976) oder auch Martin Andersen Nexø (1869—1954).

Das mit diesen Namen verbundene autor- oder werkbezogene Interesse läßt sich mit Themen vernetzen, denen eine eminente Bedeutung für die Geschichte des deutsch-dänischen Kultutransfers zukommt, die aber ungeachtet vieler initiierender Anstöße durch die in deutschen Bibliotheken immer noch zu wenig präsente Zeitschrift Text & Kontext nach wie vor zahlreiche Fragen aufwerfen: der Einfluß des deutschen Pietismus, der deutsch-dänische Kulturaustausch im Bildungswesen, das Verhältnis von Aufklärung, Empfindsamkeit und Adelskultur im Gesamtstaat, das literarische Interesse des Bernstorff-Stolberg-Reventlow-Schimmelmannschen Familienverbands und der Emkendorfer Kreis, die Rezeption des deutschen Idealismus in Dänemark, die Konstruktion von nationalen Selbst- und Fremdbildern in der Romantik, die Rezeption der Existenzphilosophie in Deutschland, die Bedeutung des deutschen Buchmarktes für dänische Autoren, die dänisch-österreichischen Literaturbeziehungen oder die Korrelation zwischen frühmoderner Zivilisationskritik und einer systematischen Mythologisierung und Ideologisierung des Nordens.

Ungeachtet der Vorreiterrolle, die der von Bohnen und Bjørn Ekmann redigierten Zeitschrift Text & Kontext bei der Problematisierung des deutsch-skandinavischen Kulturtransfers zukommt, ist die Initiative von Detering und Lohmeier, entsprechende Themen in einer eigenen Buchreihe Grenzgänge. Studien zur skandinavisch-deutschen Literaturgeschichte zu bündeln, nachhaltig zu begrüßen. Einer interkulturell und komparatistisch orientierten Forschung bietet sich hier ein ausgedehntes, in jeder Hinsicht vielversprechendes Terrain.


Prof. Dr. York-Gothart Mix
Ludwig Maximilians-Universität München
nstitut für deutsche Philologie
Schellingstraße 3
D-80799 München

Ins Netz gestellt am 30.10.2001
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Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten PD Dr. Hans-Edwin Friedrich. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez — Literaturwissenschaftliche Rezensionen.


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