Morgenroth über Materiale Grammatik
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Materiale Grammatik

Zwei Tagungsbände zur Genealogie des Schreibens

  • Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. (Zur Genealogie des Schreibens 1) München: Wilhelm Fink 2004. 269 S. 21 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 3-7705-3889-7.
  • Martin Stingelin (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: aus Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. (Zur Genealogie des Schreibens 2) München: Wilhelm Fink 2005. 311 S. 57 s/w, 6 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 377054112X.
[1] 

Die vorliegenden zwei der auf drei Bände angelegten Reihe Zur Genealogie des Schreibens gehen auf zwei Symposien zurück, die im Rahmen des durch den Schweizer Nationalfond geförderten Forschungsprojekts »Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart« im April 2004 bzw. 2005 an der Universität Basel abgehalten wurden. Leiter des Projektes ist Martin Stingelin, der mit seinen beiden Mitarbeiter Davide Giuriato und Sandro Zanetti auch die Tagungsbeiträge herausgibt.

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Zur Genealogie des Schreibens

[3] 

Genealogie, das war für Nietzsche die »wirkliche Historie« 1, die gegen den Historismus und die vulgärmarxistische Auslegung der Geschichte den menschlichen Leib zurückführt in die Geschichte des Menschen. Michel Foucault nahm dieses Forschungsprogramm wieder auf, systematisch in seinem Aufsatz »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« von 1971. Dort heißt es:

[4] 
Als Analyse der Herkunft steht die Genealogie also dort, wo sich Leib und Geschichte verschränken. Sie muss zeigen, wie der Leib von der Geschichte durchdrungen ist und wie die Geschichte am Leib nagt. 2
[5] 

Der Satz findet sich wieder in dem von Martin Stingelin verfassten Aufsatz »Schreiben« und bürgt für das Forschungsprogramm der Schriftenreihe. Stingelin moniert, dass die Literaturwissenschaft die »Körperlichkeit und die Instrumentalität des Schreibakts als Quelle von Widerständen, die im Schreiben überwunden werden müssen« bisher mehr oder weniger »ausgeblendet« habe (S. 12). Man habe also, und tue das noch immer, den Begriff des Schreibens zu eng an der Semantik, an der Bedeutung von Texten, an ihrem Gehalt, an der Be-Geisterung für die ›Idee‹ des Schreibens ausgerichtet. Was ›Schreiben‹ tatsächlich ist, das könne nur »historisch und philologisch [...] re-konstruiert« werden, anhand folgender Faktoren: »[...] einer Semantik (Sprache), die nur durch die Benützung eines Schreibwerkzeuges (Instrumentalität) zeichenhaft zum Ausdruck gebracht werden kann und zwar durch eine spezifische Körperlichkeit des Schreibakts (Geste)« (S. 18).

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Zum Begriff der Schreibszene

[7] 

Dreh- und Angelpunkt der beiden Bände ist der von Friedrich Kittler in seinem Buch Aufschreibesysteme eingesetzte und von Rüdiger Campe in seinem Aufsatz »Die Schreibszene. Schreiben« weiterentwickelte Schlüsselbegriff »Schreibszene« 3, der die Inszenierung, Theatralik und Performativität des Schreibens, den Akt des Schreibens in seiner raum- und zeitgreifenden Dimension fassen soll. Die leitende Fragestellung, das »Anliegen« des gesamten Projekts bestimmt Davide Giuriato deshalb in seiner Einleitung zum 2. Band »(Mechanisiertes) Schreiben« auch wie folgt:

[8] 
[...] in Einzelanalysen von Schreibszenen nämlich zu zeigen, wie das literarische Schreiben die Umstände der Produktion zur Geltung bringt [...] und wie das Schreiben diese Umstände vor dem Hintergrund der medientechnischen Paradigmen und Umbrüche thematisiert und problematisiert. (S. 7)
[9] 

Daraus folgen für die literaturwissenschaftliche Lektüre einige methodische Vorteile, die ermöglichen,

[10] 
[...] die heterogenen Beteiligungen am Schreiben als eine nicht selbstevidente Rahmung zu befragen, in der 1. die Instrumentalität des Schreibens, 2. die Körperlichkeit oder Geste des Schreibens und 3. die Sprache bzw. sprachliche Thematisierung oder poetische Inszenierung des Schreibens zueinander in Beziehung treten. (S. 7)
[11] 

Punkt 1 und 2 entziehen sich in der Regel dem Leser, muss er sich doch meist mit dem fertigen Text zufrieden geben. Sie treten erst dann zu Tage, wenn man der Manuskripte habhaft werden kann, Arbeitsberichte, Tagebücher oder ähnliches veröffentlicht werden oder, so Punkt 3, Instrumentalität und Körperlichkeit des Schreibens selbst einfließen in die Poetologie eines Textes, d.h. sowohl zum Gegenstand als auch Konstrukteur eines Textes werden. Fragt sich, wann und warum eine solche Thematisierung des Schreibens im Schreiben erfolgt.

[12] 

Giuriato schlägt vor, dafür den Moment des »Widerstands« in Zeiten medientechnischer Umbrüche verantwortlich zu machen. Mit diesem Vorschlag gewinnt er für die Untersuchung der Schreibszene sowohl die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch ihre individuellen Auswirkungen und Reaktionen. In der Schreibszene verknoten sich demnach – um einen zentralen theoretischen Bezugspunkt des Bandes, Michel Foucault, zu paraphrasieren – technische Dispositve, etliche Diskurse und die Autorpsyche zu einem Text, dessen Auflösung und ggf. Aufhebung zur Aufgabe des Lesers wird.

[13] 

Schreibbeziehungen

[14] 

Ahnherr dieser Unternehmung ist neben Nietzsche, der dem 2. Band das Motto »Schreibkugeln ist ein Ding gleich mir: von Eisen« verliehen hat, Walter Benjamin. Giuriato präsentiert in seiner Einleitung einen amüsanten und thematisch äußerst ergiebigen Briefwechsel zwischen Benjamin und Siegfried Kracauer, um das Erkenntnisinteresse der Buchreihe weiter zu verdeutlichen. 1927 hatte Kracauer den Text »Das Schreibmaschinchen« beendet, eine Improvisation über die Beziehung von Autor und Schreibmaschine, in deren Verlauf die anfängliche Liebe des Autors zu seiner Maschine erlischt, als ein Mechaniker durch Reparatur einer »versagenden« Taste die Leblosigkeit der Maschine in nuce vorführt. 4 Benjamin erhielt den Text kurz nach seiner Fertigstellung und macht in seinem Dankesbrief postwendend die Lage von Handschrift und Maschinenschrift im Zeitalter der Mechanisierung zum Gegenstand seiner Antwort. 5

[15] 

Interessanterweise verfasst Benjamin seinen Brief nicht nur mit der Hand und mit Hilfe eines Füllfederhalters – Zeit seines Lebens wird er nicht auf einer Schreibmaschine schreiben – sondern auch in übertrieben kleiner, schwer lesbarer und gedrängter Schrift. Er vollzieht, was er erzählt: den Verlust seines stylos 6, der ihn über ein Jahr tyrannisiert habe, und das neue Glück, das ihm der gefundene Ersatz und dessen leichte Handhabung schenkt: die Materialität des Schreibens. Gleichzeitig unterscheidet sich Benjamin von Kracauer, indem er durch die stark verkleinerte Handschrift zugleich die Gestaltbarkeit der Handschrift betont, eine Individualität, die im Zeichen des Mechanischen bedroht ist. Benjamin erkennt also avant la lettre, dass er sich in einer »Schreibszene« befindet und macht dies zum Gegenstand seines Textes. Giuriato nennt diese Abstraktion »Schreib-Szene« (S. 14 ff.). Darunter zu verstehen ist, wie im Brief Benjamins vorgeführt, die graphische Realisierung der Schreibszene.

[16] 

Aus dieser feinen in Campes Aufsatz bereits angelegten Differenzierung entwickeln sich in den aufgelegten Aufsätzen einige aufschlussreiche und in Teilen auch weitgehende Analysen. Die Beiträge des ersten Bandes behandeln – einige Jahrhunderte umgreifend – so verschiedene Autoren wie Wolfram, Jakob Michael Reinhold Lenz, Jean Paul, Friedrich Hölderlin, Heinrich von Kleist, Wilhelm Müller, Bettine von Arnim oder Paul Renner bzw. befassen sich mit »Gelegenheiten des Schreibens in der Lyrik der Frühmoderne«, »Schreiben im Feld« und der »goethezeitlichen Schreiburszene«. Die Beiträge des zweiten Bandes wechseln über ins 19. / 20. Jahrhundert und changieren zwischen klassischer Lektüre: Franz Kafka, Robert Walser, Edgar Allen Poe, Ferdinand Saussure, Karl Kraus, Dadaismus / Surrealismus, randständigen Autoren: Paul van Ostaijen, Friedrich Glauser und thematisch orientierten Artikeln zur »Semiologie des Typoskripts«, zu »Paradigmen des Schreibens um 1900«, zu »Schreibszenen in der russischen Lagerliteratur« sowie über »Schreibmaschinenhände«.

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Vier Beispiele mögen die thematische Bandbreite, methodische Vorgehensweise, dichte Beschreibung, mithin die Qualität der beiden Bände verdeutlichen:

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Uwe Wirth: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels.

[19] 

Michael Stolz: ›Ine kann decheinen Buochstap‹. Bedingungen neuzeitlichen Schreibens am Beispiel der Überlieferung von Wolframs Parzifal.

[20] 

Catherine Viollet: Mechanisches Schreiben, Tippräume. Einige Vorbedingungen für eine Semiologie des Typoskripts.

[21] 

Sonja Neef: Handspiel. Stil / us und rhythmische Typographie bei Paul van Ostaijen.

[22] 

Zwischen Hand und Maschine:
Jean Pauls Leben Fibels

[23] 

In Band 1 bearbeitet Uwe Wirth »Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels«. Zwei Fragen leiten seinen Artikel: »In welcher Form die Geste der Skription auf die performativen Gesten des Druckens und Herausgebens übertragbar ist« und »worin beim Akt des Herausgebens die ›körperliche Ereignishaftigkeit‹ [Stingelin] bestehen könnte« (S. 158). Nun ist Jean Pauls Roman Leben Fibels ein herausragendes Beispiel dafür, wie Literatur nicht nur »die Frage nach der Schreib-Szene, sondern auch nach der Druck- und Editions-Szene« aufwirft (S. 156). Fibel, der aufgrund verschiedener Fehllektüren zum Schreiber wird, indem er vor allem den Raum des Papiers füllt, schreibt sich über diverse Schreibszenen an die Form der Druckschrift heran und bewegt sich damit auf die Schwelle zwischen Handgeschriebenem und Gesetztem zu. Er wird an dem Tag vom Schreiber zum Autor (es ist der Tag seiner Hochzeit), als eine erste seiner geschriebenen Seiten durch den Vetter und Buchdrucker Pelz gedruckt wird, also zu dem Zeitpunkt, an dem sich die technische Reproduzierbarkeit seiner handschriftlichen Reproduktionen erweist. Zugleich performed Fibel durch diese Inszenierung einer verdoppelten Reproduktion eine Kontrafaktur der Genie-Ästhetik. Denn von einem sich selbst schaffenden Künstler kann bei ihm keine Rede sein: »Im Leben Fibels [wird] vorgeführt, daß es möglich ist, als Kopie geboren zu werden und als Original-Genie weiterzuleben – vorausgesetzt man wird gedruckt und glorifiziert« (S. 169).

[24] 

So umfassen Fibels Schreibszenen sowohl das »parergonale Beiwerk des Schreibens« (S. 163), als auch das Schreiben bzw. dessen Geste und die Verwandlungen des schreibenden Subjekts.

[25] 

Wirths verweiskräftige Argumentation fließt zusammen in einem Exkurs zu Derridas Theorie der Aufpfropfung. Zunächst identifiziert Wirth das Aufpfropfen als Motiv des Romans (im Sinne eines Verpflanzens), dann im sprechenden Namen ›Pelz‹ (›pelzen‹, archaisch: ›pfropfen‹, ›veredeln‹) und schließlich wird »der Akt der Aufpfropfung [...] zum juristischen Performativ« (S. 171). Diese Verkettung von Schreib- und Druckszenen verwandelt sich in eine Poetologie durch Hinzutreten einer Editions-Szene, nämlich der Herausgabe des »Leben Fibels / des Verfassers / der Bienrodischen Fibel / Von Jean Paul« (zitiert nach Wirth, S. 174). So »verdankt sich die Autorschaft des Herausgebers Jean Paul« – analog zu Fibel –»einer performativen Geste aufpfropfenden Einschreibens«, und zwar durch das Auslassen »der Funktionsbeschreibung ›herausgegeben‹«, also durch Einfügen »einer performativen Leerstelle auf dem Titelblatt« (S. 174).

[26] 

In »graphischen Niederungen«:
Wolframs Parzifal

[27] 
Swaz an den buochen stet geschriben / des bin ich künstelos beliben.
›Was in den Büchern auch geschrieben stehen mag, / ich verstehe mich nicht auf diese Kunst‹. (S. 26)
[28] 

Dieses schöne Zitat aus Wolframs Willehalm 7 steht in Michael Stolz’ Aufsatz »›Ine kann decheinen Buochstap‹. Bedingungen neuzeitlichen Schreibens am Beispiel der Überlieferung von Wolframs Parzifal« und bildet Kern wie Ausgangspunkt einer verwickelten Geschichte von mittelalterlichen Schreibszenen.

[29] 

Wie kann das Zitat verstanden werden? Es markiert erstens, so Stolz, einen »Zwischenbereich von Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, zweitens eine mögliche Differenz »zwischen dem historischen Autor und der sich im Text artikulierenden narrativen Instanz« und drittens eine »durch den Dichter selbst initiierte Spannung von Schriftlosigkeit und Schriftkundigkeit in mittelalterlichen Autorbildern« (S. 26 f.). Aus dieser performativen Spannung hat die mittelalterliche Rezeption ein reiches und widersprüchliches Bild des Autors Wolfram werden lassen.

[30] 

Nachsehen kann man das an einigen Abbildungen, die Stolz seinem Text nachgestellt hat. Darunter sind Porträts, die Wolfram als Schreibenden, und damit als Schreibkundigen darstellen, aber auch eine besonders kunstvolle Handschrift aus dem Jahre 1387, angefertigt für den böhmischen König Wenzel. Sie sollte wohl belegen, wie sehr sich Wolfram aufs Schreiben verstanden hat. Sosehr Schreiben als Kunst angesehen wurde, sie war zugleich auf vielfältige Weise körperliche Arbeit. Die Herstellung der Schreibmaterialen bedeutete größeren Aufwand, von der Herstellung des Pergaments und der Tinte, bis zur Bereitstellung von Wachstafeln. Die Unterfläche des Schreibens beeinflusste auch die Schreibweise und die Textgestalt (Farben, Initialen, weitere Markierungen). Die Not, die den Schreiber während der Arbeit überkommen und begleitet hat, kommentiert er nicht selten auf dem Schriftstück selbst. Stolz: »›Schreiben als Passion‹ ist man versucht, diese mittelalterlichen Imaginationen zu nennen« (S. 37).

[31] 

Die Bedeutungsweite des Parzifal hat im Zuge der »handschriftlichen Tradierung« zu etlichen »Abweichungen gegenüber älteren Überlieferungen« geführt bzw. hat sich aus diesen Abweichungen ergeben (S. 39 / 41). Auf der Suche nach Sinn formulierten die Schreiber entweder für sie schwierige Passagen um oder ließen sie ganz aus. Erst die Betrachtung der Handschriften, die Ausschöpfung moderner editorischer Techniken und die begriffliche Summierung der allgemein-historischen Bedingungen des Schreibens als Schreibszene führt, so kann Stolz’ Untersuchung zusammengefasst werden, zu »jener rätselhaften Unausdeutbarkeit der Signifikanten [...] die sich in den graphischen Niederungen der Überlieferung abzeichnet« (S. 46).

[32] 

Zur Wissenschaft des Typoskripts

[33] 

Der 2. Band wird mit einem Grundsatzartikel von Catherine Viollet eröffnet: »Mechanisches Schreiben, Tippräume. Einige Vorbedingungen für eine Semiologie des Typoskripts« (S. 10) erschien erstmals 1996 in Genesis, der von Jean Michel Place herausgegebenen Zeitschrift des L’Institut des textes et manuscrits (ITEM), und konstatiert ein (französisches) Forschungsdesiderat, das für die diskursanalytisch und technikinteressierte Kulturwissenschaft durchaus bemerkenswert ist: Es gibt im Grunde keine Untersuchung des Schreibens unter den Bedingungen der Schreibmaschine. 8 So weist Viollet in ihrem Artikel einer kommenden Forschung den Weg, indem sie ein Mal das Feld durchmisst.

[34] 

Im ersten Kapitel ihres Textes fasst sie die wenigen Forschungsbeiträge zusammen, geht auf die Geburtsstunden des mechanischen Schreibens ein, gibt die Technik der Maschine wieder – Tastatur, Wagen, Mechanik der Typenhebel – und problematisiert die unscharfe Begrifflichkeit des mechanisch getippten Produkts. Handelt es sich um ein »Typoskript«, um »Dactylographie«, ein »Dactylogramme« oder ein »tapuscript« (26 f.)? Wie unterschiedlich Schriftsteller mit ihrer Maschine umgehen, welche Schreibszenen sich daraus ergeben, behandelt Kapitel 2. Viollet versammelt ein illustres Ensemble an Aussagen, das sie folgendermaßen sortiert: Wie wurde das Schreiben an der Maschine erlernt (meist autodidaktisch), welche Synonyme hat man gefunden (das Klavier), wie konnte der Autor mit der Mechanik umgehen (eher schlecht), welche Beziehung stellte sich ein (die zu einer Gefährtin), was ergibt sich aus der neuen Geschwindigkeit des Schreibens (sowohl Spontaneität als auch genauere Korrektur). Die Handhabung des Papiers und des Typoskripts produziert noch weitere Justierungen des Schreibens. Wie viel soll eigentlich auf das Papier (welches Format gibt wie viel Text? – würde man heute fragen) und wie wird korrigiert (mit der Hand)?

[35] 

Bedauerlicherweise fehlt in Viollets und allen anderen Artikeln Rolf Dieter Brinkmann, der in Deutschland neben der von Viollet erwähnten Ingeborg Bachmann wohl berühmteste Tipper. Er machte aus seinen Versprechern, Tippfehlern und Übersetzungsfehlern ein poetologisches Programm, das die Authentizität des gegenwärtigen Schreibens markierte. Sein Schreibtempo inszenierte den Versuch, mit dem Fortgang der Zeit Schritt zu halten, Zeit in Schrift zu verräumlichen. Brinkmanns postum veröffentlichte Typoskripte sind Unikate, voll mit Fehlern, handschriftlichen Notizen, überklebt von Bildern, nach graphischen Mustern zerlegt. 9 Aus ihrer Gestalt folgt jene Frage, die im Zentrum jeder Schreibszene steht: Wer schreibt? Sie betrifft unmittelbar die Behandlung des Typoskripts zwischen Brouillon und Reinschrift. Benjamin hat ihr eine seiner schönsten Passagen in seinem Essay »Zum Bilde Prousts« gewidmet:

[36] 
Wenn die Römer einen Text das Gewebte nennen, so ist es kaum einer mehr und dichter als Marcel Proust. Nichts war ihm dicht und dauerhaft genug. Sein Verleger Gallimard hat erzählt, wie Prousts Gepflogenheiten beim Korrekturlesen die Verzweiflung der Setzer machten. Die Fahnen kamen immer randvoll beschrieben zurück. Aber kein einziger Druckfehler war ausgemerzt worden; aller verfügbare Raum war mit neuem Texte erfüllt. So wirkte die Gesetzlichkeit des Erinnerns noch im Umfang des Werks sich aus. 10
[37] 

Proust war der saubere Satz der Maschine gleichgültig. Seine Handschrift füllte den ihr vorgelegten Raum, ohne auf das Format und die Geographie einer Druckvorlage Rücksicht zu nehmen. Das ›Weben‹ der Erinnerung und des Schreibens bleiben auf diese Weise ein Prozess, der verschiedene Stadien kennt, aber kein Ende und keine technologisch gesetzten Grenzen.

[38] 

Doch in der Regel, das legt Viollets Kompilation verschiedener Szenen mechanisierten Schreibens nahe, beeinflussen die »materialen, kognitiven und pragmatischen Zwänge« (S. 44) der Maschine, wenn auch mit erheblichem Schwankungsgrat, die Genealogie des Schreibens, und damit das Geschriebene. Semiotik und Semantik träten auf diese Weise in eine originäre Beziehung. Das sollte, so Viollets Fazit, Konsequenzen für die Betrachtung von Texten haben, speziell für textgenetische Arbeiten. Allgemein gesprochen müsse das Zeitalter des mechanisierten Schreibens in Zukunft als Übergang von der Handschrift zum Schreiben am Computer eingeordnet werden. Eine Semiotik des Typoskripts sei allerdings angesichts der dünnen Forschungslage nicht in Reichweite: Die daraus folgende Aufgabenstellung für künftige Forschergenerationen packt Viollet in ihren Schlusssatz: »Die Beziehung zwischen Mechanik und Literatur bleibt noch zu entdecken« (S. 47).

[39] 

Das Kunstwerk als Allographie:
Paul van Ostaijen

[40] 

Paul van Ostaijen war ein multilingualer, flämischer Dandy und Kunstkritiker, dessen ins Deutsche übersetzten Texte (er schrieb niederländisch, französisch und selten deutsch) heute fast nur noch antiquarisch zu erhalten sind. Sonja Neefs Aufsatz »Handspiel. Stil/us und rhythmische Typographie bei Paul van Ostaijen« beschäftigt sich mit Ostaijens zentralem poetologischen Terminus, der »rhythmischen Typographie«. Er bezeichne, so Neef, die »kartographische Verortung eines Wortklangs« (S. 240). Der Rhythmus ergibt sich demnach erst aus dem Klang des Wortes und dann aus der ›Typo‹ dieses Klangs, seiner Gestaltung, seiner Graphik. Doch man dürfe nicht glauben, so Neef, dass Ostaijen den Druck nur als Repräsentation des Klangs betrachte. Er stehe aus diesem Grund auch nicht in der Tradition des Phonozentrismus (Jacques Derrida). Für Ostaijen entstehe das rhythmisch-typographische Kunstwerk erst aus der Reproduzierbarkeit und in der Reproduzierbarkeit, und zwar als »Allographie, das heißt [als] eine wiederholbare, ›buchstabierbare‹ Symphonie, reproduzierbar ohne Verlust« (S. 240). Eine solche Poetologie setzt die enge Zusammenarbeit mit einem Gestalter voraus, hier mit Oskar Jespers.

[41] 

Ostaijen hat aber auch selbst die Vorlagen für die spätere Drucklegung verfasst bzw. gemalt. Neef zieht als Beispiel die Vorlage für das Gedicht »Fatalisties Liedje« heran. Es schließt mit den in rot geschriebenen Worten »MANE THEKEL«, einer pseudoetymologische Referenz (durch das ›falsche‹, auf Theke hinweisende ›h‹) auf die biblische Geschichte von König Belschazzar. In einer luziden Lektüre kommt Neef zu dem Schluss, dass in diesem Gedicht »der Körper des Autors [...] zugunsten des Lesers zurück[tritt], verliert sich doch der Schreiber in der Spur des Schreibens und ist immer schon, déjà, im Aufschub begriffen« (S. 244). Die Absicht Ostaijens, hinter dem Schreiben zu verschwinden und durch die rhythmisierte Typographie den Wortklang zum Subjekt des Schreibens und Lesens zu machen, verwickelt sich mit der handschriftlichen Einschreibung des Autors, seiner »Aura« (S. 247). Der Vergleich der Vorlage mit der druckschriftlichen englischen Übersetzung zeigt, dass die ›glatte‹ Reproduktion die écriture des Gedichts zerstört. Diese »Doppellogik« (S. 252) findet Neef auch im Typoskript von »Maskers« auf, einem Text, der aus dem »Konnex von mechanischen und manuellen Schreibverfahren« entsteht, da Ostaijen den Maschinentext hier mit seiner Handschrift neu schreibt, rhythmisiert und optisch überzieht. Neef folgert:

[42] 
Van Ostaijens Stilo liefert eine Schrift, die sowohl unverwechselbare, einzigartige und fälschbare Autographie als auch reproduzierbare ›buchstabierbare‹ Allographie ist. Und seine Schreibmaschine erzeugt Dokumente, die zugleich allographisch und autographisch fungieren. (S. 253)
[43] 

Auf diese Weise erzeugen Ostaijens Schreibszenen eine »Schrift, die immer zugleich Original und Abdruck ist« (S. 253).

[44] 

Materiale Kontemplation

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»Was jeder Hermeneutik entgeht – der Staat und die Technologien –, bleibt schwer genug anzuschreiben.« 11 Wer wollte das bestreiten? So nehmen die vorliegenden zwei Bände zur Genealogie des Schreibens zwar nicht den Staat, aber qua Forschungsprogramm das technische Dispositiv des Schreibens auf, um es an literarischen Schreibakten zu rekonstruieren. Dass und warum es sich um ›literarische‹ Texte handelt, ist noch der Tradition der Hermeneutik geschuldet. ›Wissenschaftliche‹ Schreibszenen etwa werden nicht berücksichtigt, auch nicht die eigenen – was angesichts manch prekärer Quellenlage sicher interessant zu lesen gewesen wäre. Dieser Weg bleibt unbeschritten und anderen Genealogien des Schreibens vorbehalten.

[46] 

Methodisch stehen die Beiträge der beiden Bände zwischen Foucaults genealogischen Verfahren, einer hardware-orientierten Kulturwissenschaft, basaler Textanalyse und sezierender Hermeneutik. Je nach Forschungsgegenstand wird auch innerhalb der Artikel das theoretische Objektiv getauscht, in der Regel mit analytischem Gewinn. Die Absicherung besorgt der Leitbegriff ›Schreibszene‹, dessen Assoziationsraum zuweilen etwas zu eng interpretiert wird. Im Mittelpunkt der Analysen stehen die materialen Bedingungen, die ›Technologien‹ des Schreibens, nicht aber der Staat oder die materialistische Rückseite jeder materialen Schreibtat. Nicht umsonst spricht Stingelin mit Blick auf die Heterogenität des ersten Bandes von einer »Galerie verschiedener ›Schreibszenen‹«(S. 15), die, übersetzt man Galerie mit ›Vorhalle‹, jetzt fortzusetzen und zu erweitern ist.

[47] 

Bleibt zu erwähnen, dass beide Bände, besonders der 2., obwohl mit dem Computer erarbeitet und in nüchtern auftretenden Lettern gesetzt, durchaus sinnlich auftreten. Das besorgen einige schöne Abbildungen, Typoskripte und Manuskripte von Karl Kraus und Marcel Duchamp, von André Breton und Robert Walser, die im Buch verteilt aus Leseszenen der Kontemplation vergnügliche Stunden werden lassen.



Anmerkungen

Friedrich Nietzsche, zitiert nach: Michel Foucault: »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«. In: M.F.: Von der Subversion des Wissens. Hg. von Walter Seitter, Fischer: Frankfurt / M. 1987, S. 69 – 90, hier: S 79.   zurück
Ebd., S. 75.   zurück
Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme. 1800 / 1900. Fink: München 31995; Rüdiger Campe: »Die Schreibszene, Schreiben.« In: Hans Ulrich Gumbrecht / K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1991, S. 759 – 772.   zurück
Siegfried Kracauer: »Das Schreibmaschinchen«. In: S.K.: Schriften. Hg. von Inka Mülder-Bach. Bd. 5 / 2. Aufsätze 1927 – 1931. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1988, S. 326 – 341.   zurück
Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Hg. von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1995 – 2000. Bd. III, S. 262.   zurück
Michael Stolz zitiert aus folgender Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder. Völlig neu bearbeitete Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartschoke. Walter de Gruyter: Berlin / New York 1989.   zurück
Zu den Ausnahmen zählt sie: Friedrich A. Kittler (Anm. 3), Wilfried A. Beeching: Century of Typewriters. Heinemann: London 1974, Ulrich Ott (Hg.): Literatur im Industriezeitalter 2. Deutsche Schillergesellschaft: Marbach am Neckar 1987 (Marbacher Katalog 42 / 2).   zurück
Siehe: Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1987 und Ders.: Schnitte. Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1988.   zurück
10 
Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Band II.I. Suhrkamp: Frankfurt / M. 1991, S. 310 – 324, hier: S. 311 f.   zurück
11 
Friedrich A. Kittler (Anm. 3), S. 523 (Nachwort zur 3. Auflage).   zurück