Newman über Vietor: Astralis von Novalis

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Gail M. Newman

Ein gewichtiger Fund.
Entstehung, Überlieferung und Rezeption
von Novalis' "Astralis"

  • Sophia Vietor: Astralis von Novalis. Handschrift – Text – Werk. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001. 417 S.
    ISBN 3-8260-1895.


Sophia Vietors monumentales philologisch-interpretatorisches Werk ist eine virtuose Leistung der mal intensivsten, mal extensivsten editorischen und interpretatorischen Arbeit. Es untersucht buchstäblich jede Zeile (und oft jedes Wort) des von der Autorin neulich wiederentdeckten Gedichtes, und es überblickt ganze Jahrhunderte der literaturwissenschaftlichen, geistesgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Tradition. Das Gedicht selber, das seit 1936 als verschollen gegolten hatte, steht zwar durchaus im Mittelpunkt des Buches, fungiert aber hauptsächlich als >Sprungbrett< für detaillierte Untersuchungen des Romans, des philosophischen Gedankenguts des frühromantischen Kreises, der relevanten Biographie Friedrichs von Hardenberg und der Ideen-Welt, die Novalis als Leser absorbiert hatte.

Außer dem bloßen Umfang der Analyse zeigt sich das Besondere dieses Buches in Vietors Treue zur frühromantischen Auffassung des engen Ineinanders von poetischer Theorie und Praxis, die durch ihre induktive analytische Methode zu Tage kommt:

Statt leitende Begriffe und Theoreme im voraus zu bestimmen oder das Gedicht nach systematischen Gesichtspunkten zu analysieren, soll in dieser Arbeit bei der genauen Lektüre der Versabschnitte die Poetisierung des Denkens aufgezeigt werden, wie sie von Novalis angestrebt wurde. (S. 16)

Die Untersuchung besteht aus einer Kombination von gründlicher Philologie, werkimmanenter Analyse und meist indirekten Hinweisen auf theoretische Fragen der neueren Novalis-Forschung, z.B. auf die Frage der möglichen Beziehungen zwischen Novalis' Auffassung des poetischen Prozesses und dem poststrukturalistischen Abschied vom "Werk" (S. 138ff.). Der Stil ist durchaus kristallklar und besonders die Diskussionen des Gedichtes und dessen Beziehung zu seiner romantischen Umwelt sind von einer einnehmenden Lebendigkeit charakterisiert; die abstrakteren Passagen tendieren jedoch manchmal dazu, etwas zu allgemein zu sein.

Aber schon die editorische Leistung Vietors ist sehr groß. Obwohl es im frühen 20. Jahrhundert allgemein bekannt war, daß Stefan Zweig unter seinen vielen wertvollen Manuskripten auch das von Novalis' "Astralis" besaß – Paul Kluckhohn hat Zweig 1929 um Erlaubnis gebeten, die Handschrift mit den bisher bekannten Druckversionen zu vergleichen, und Zweig hat ihn ein Faksimile derselben geschickt – wurde die Handschrift in dem ersten Band der Historisch-kritischen Novalis-Ausgabe 1960 / 77 als "verschollen" bezeichnet, weil sie "trotz gründlicher Recherchen nicht wiedergefunden werden [konnte]" (S. 68). Vietors eigene Recherchen haben schließlich ergeben, daß Zweig das Manuskript mit ins Londoner Exil gebracht hatte und daß es sich seit 1986 im Archiv der British Library befindet (vgl. S. 71). Sie ist also die erste, die das eigentliche Manuskript als Grundlage der editorischen und interpretatorischen Analyse benutzt hat.

Das Buch ist auf die übliche Weise linear strukturiert. Die drei grossen Abteilungen entsprechen dem Untertitel: Handschrift – Text – Werk, und jedes dieser grossen Kapitel wird wiederum in mehrere Unterabteilungen aufgeteilt. Dieses strukturelle Prinzip fördert den Sinn für Novalis' kreativen Prozess, den Vietor erwecken will: Leser bewegen sich organisch von den ersten Schreibmomenten durch die Veröffentlichung bis hin zur Interpretation des vollendeten Werkes. Gleichzeitig beschreibt der Aufbau des Buchs jedoch Vietors< eigenen Umgang mit dem Gedicht, von ihrem Fund der Handschrift über ihre Bearbeitung derselben für einen Band der Historisch-kritischen Novalis-Ausgabe bis hin zu einer Mikroanalyse des Textes. Trotz dieser allgemeinen Linearität besteht aber in jedem einzelnen Teil eine Art Verschachtelung der verschiedenen thematischen Ebenen: Ideengeschichte, Biographie, Novalis' Œuvre, "Heinrich von Ofterdingen", "Astralis". Im Folgenden wird jeder Teil des Buches etwas ausführlicher besprochen.

Handschrift

Beginnend mit einem pointierten Fragment aus dem "Allgemeinen Brouillon", das den Prozess des "Abspringens" des Werkes vom Autor "in mehr, als Raumfernen" thematisiert (zitiert auf S. 22), 1 betont Vietor in diesem Teil die Idee, dass die Handschrift als Zeugnis des Schreibprozesses eines Schriftstellers dient. Dadurch folgt sie Hardenbergs bekanntem eigenem Interesse am Prozessuellen. Gleichzeitig aber behauptet sie, dass bei Novalis "selbst Notizen, Fragmente und erste Niederschriften von Gedichten das Bestreben [zeigen], eine eindeutige Form zu finden" (S. 33).

Bei der Transkription der gefundenen Handschrift und der Unterscheidung der Varianten von der Endfassung, die im Mittelpunkt dieses Teiles stehen, hat Vietor also zweierlei Ziele: nämlich "sowohl dem Ideal des >vollendeten Werkes< als auch dem Interesse an der >Werkgenese< gerecht zu werden" (ebd.). Das Ofterdingen-Projekt ist wahrscheinlich das klarste Beispiel dieser "Dialektik von Vollendung und Unendlichkeit" (S. 43), die Novalis' ganzes Schaffen charakterisiert. Obwohl er als "Fernziel" einen "umfassende[n] Universalroman" vor Augen hatte (ebd.), sollte der Roman in sich selber eine fertige Form besitzen: "Die Schreibart des Romans muss kein Continuum – es muss ein in jeden Perioden gegliederter Bau seyn. Jedes kleine Stück muss etwas abgeschnittenes – begränztes – ein eigenes Ganze seyn" (zitiert ebd.). 2 Das "Astralis"-Gedicht ist eines dieser "eigenen Ganzen" und durch ihre Beschreibung von dessen Entstehung, Druck und Veröffentlichung demonstriert Vietor, wie Genese und Werk zusammenhängen.

Der erste Teil des Handschriftkapitels, "Entstehung und Überlieferung", beginnt mit der Entstehung des "Heinrich von Ofterdingen II. Teil". Vietor findet hier vier klar voneinander zu unterscheidende Arbeitsperioden. In der ersten Arbeitsperiode (Mai 1798 – Sommer 1799) brütet Novalis die Idee eines historischen Universalromans aus und konzipiert einen Novellen-Entwurf, der die ersten Keime des "Heinrich von Ofterdingen" und besonders dessen zweiten Teil enthält (vgl. S. 38). Die zweite Periode (Spätherbst 1799 – April 1800) sieht die Fertigstellung des ersten Romanteils, die Skizzierung von Ideen zum zweiten Teil und die Niederschrift von Gedichten vor, die anscheinend im zweiten Teil erscheinen sollten. Novalis hat in der dritten Arbeitsperiode (Juni – Juli 1800) die allgemeinen Konturen des zweiten Teils notiert, samt Überschriften und Kapitelliste, und einige wichtige Gedichte niedergeschrieben, inklusive "Astralis".

Am Ende dieser dritten Periode, also Ende Juli 1800, erscheinen die ersten Hinweise auf die herannahende Krankheit, die die vierte und letzte Periode kennzeichnen wird. Zu dieser Periode behauptet Vietor: "Biographie und Dichtung treten in immer stärkere Wechselwirkung" (S. 56). Im Einzelnen untersucht sie dabei Begriffe wie "Gewissen" und "Moral" hinsichtlich ihrer Funktion als "Mittler" zwischen dem "Persönlichen" und etwas Höherem, das religiös, ästhetisch oder philosophisch konzipiert sein kann (vgl. S. 57). Überhaupt entwickelt Vietor hier den Zusammenhang von Lebensbejahung und Todesorientierung, von Fortschrittsdenken und Resignation, der Novalis' Werk seit dem Tod von Sophie von Kühn und besonders während seiner eigenen tödlichen Krankheit charakterisiert.

Die Diskussion der Überlieferungsgeschichte von "Astralis" nimmt von der Beobachtung ihren Ausgang, dass alle Besitzer des Manuskripts dasselbe "sehr geschätzt [haben]. Jeder versuchte, es für sich zu behalten, und erst nach dem Tod wechselte es den jeweiligen Eigentümer" (S. 73). Diese hohe Bewertung der Handschrift wurde natürlich am deutlichsten von Stefan Zweig artikuliert, der nur einen kleinen Bruchteil der durch Jahre hindurch gesammelten poetischen Handschriften mit sich ins Londoner Exil brachte, unter ihnen "Astralis". Am Ende des Teils über die Druckgeschichte gibt Vietor uns eine sehr nützliche Tabelle der wichtigsten Druckvarianten des Gedichts.

Text

Dieser Teil beginnt mit einer exakten Transkiption des Textes, deren Notwendigkeit Vietor so erklärt:

Das intuitive Erahnen der Besonderheiten des Manuskriptes, das in sinnlich anschaubaren Linien und Zeichen einen einzigartigen Schöpfungsvorgang festhält, wird erst durch die analytische Zergliederung des Textes und die Rekonstruktion seiner Entstehung begrifflich erfaßt und als Erkenntnis mitteilbar. (S. 93)

In diesem Teil erleben wir gleichzeitig die Erstellung einer Druckfassung von "Atlantis" für die Historisch-kritische Ausgabe von Novalis' Werken und den ersten Anlauf zu einer eindringlichen Interpretation des Werkes. Die Wichtigkeit eines solchen Prozesses wird mit der folgenden – fast Novalischen – Definition eines Textes begründet:

Der gedruckte Text markiert den Schnittpunkt, an dem der abgeschlossene Prozeß der Werkentstehung sich mit dem Beginn der Wirkungsgeschichte überschneidet. Das Werk ist Ende und Anfang zugleich, ein Übergang von der Geschichte seines individuellen Werdens zur Geschichte seiner gesellschaftlichen Bedeutung. (S. 94)

Vietor beginnt mit einer klaren linearen Transkription des ganzen Gedichtes, die mit einer Legende zu den verschiedenen Fassungen und Korrekturen versehen ist. Der eigentlichen Transkription folgt unmittelbar eine Analyse der Schreibphasen – wobei Vietor uns daran erinnert, dass alle Phasen zusammen in dieser einen Handschrift erscheinen; die Abwesenheit von irgendwelchen anderen Handschriften weist auf den Status dieser als gleichzeitig erster und letzter Niederschrift hin.

In einer ihrer vielen kleinen einleuchtenden Interpretationsstudien vergleicht die Autorin diese Novalissche Ästhetik mit der klassischen: für Novalis ist "die konzentrierte Form einer Endfassung [...] kein vollendetes Symbol einer Totalität [wie für Goethe], sondern gegenwärtiger Ausschnitt einer unendlichen Bewegung" (S. 105). Später, in ihrer Diskussion des Schreibprozesses, unterstreicht Vietor – zum Teil durch einen Vergleich mit Hölderlin – noch eine wichtige Dialektik in Novalis' Werk, nämlich die von Theorie und Praxis, Abstraktem und Konkretem. Trotz des Hinweises in den poetologischen Fragmenten auf die Möglichkeit eines Gedichts, "blos wohlklingend und vol schöner Worte – aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang" zu sein, 3 kommt Vietor durch ihr vorsichtiges Lesen des eigentlichen Gedichts und dessen impliziten Schreibprozesses zu der wichtigen Einsicht, dass bei Novalis Reime, Rhythmus, Intonation und Struktur organisch mit Bedeutung, Begriff und Sinn verwickelt sind (das im Vergleich z.B. zu Hölderlins später Lyrik "[entsteht] die Spannung der Gedichte auf semantischer Ebene" [S. 108]).

Nirgendwo wird das Ineinander von Philologie und Interpretation so virtuos demonstriert wie in der Diskussion der Korrekturschichten. Ausgehend zum Beispiel von Zeile 63: "Man sieht nun aus bemooßten Trümmern / Eine wunderseltsame Zukunft schimmern", wo "aus" die vorige Präposition "hinter" ersetzt (und "Zukunft" die vorige "Leuchte"), richtet Vietor ein schönes interpretatorisches Palimpsest an. Auf der Ebene des Gedichtes selber wird eine Überwindung des Alten durch das Neue durch eine viel subtilere Beziehung zwischen beiden ersetzt: In der Endfassung "wird betont, daß die Erneuerung das Alte von innen heraus umwandelt und durchlichtet" (S. 118). Den Blick etwas erweiternd, erfahren wir von der Beziehung dieser Zeile zum "Klingsohr-Märchen", an dessen Schluss ein Kronleuchter in den Ruinen des anfänglichen "Zuhauses" leuchtet; in den Ruinen wird dann ein Tempel der Zukunft errichtet. Diese "immanente Religionsphilosophie des Gedichtes" (ebd.) wird dann auf das Johannes-Evangelium, aber auch auf Novalis< Biographie bezogen:

Im Kleinen vollzieht sich bei dieser Korrektur die religiöse Wende, welche Novalis nach dem Tod von Sophie durchgemacht hat. Seine Todessehnsucht verband sich mit einer neuen Lebensbejahung, als er durch die Poesie die Möglichkeit fand, das Transzendente immanent zu erfahren. Statt ins Jenseits zu fliehen, begann er in seiner Dichtung, die Welt zu verwandeln. Wie sehr das dualistische Weltbild noch nachwirkte, zeigt sich z.B. an der ersten Fassung dieses Verses. Durch die Paradoxie in der Endfassung wird der Dualismus auf die Spitze getrieben, um das Ineinanderwirken der alten und neuen Welt darzustellen. (S. 118)

Die halbseitige Deutung enthält also eine kleine Welt von wichtigen Hinweisen.

Werk

In diesem Teil wird Vietors interpretatorische Technik besonders deutlich, wobei sie aus dem kleinsten Element des Novalisschen Werks weitgespannte Expositionen entwickelt. Die dazu gehörende Verbindung von hoher Intensität und Extensität des Deutungsprozesses tritt nirgendwo klarer hervor als in der Untersuchung des Titels des Gedichts, das den zweiten Teil des "Heinrich von Ofterdingen" eröffnet: "Astralis", vordem "Genius". Hier erweist sich Vietors Methode als philologisch-interpretatorische Detektiv-Arbeit: Sie sucht zunächst eine Antwort auf die Frage, warum das erste Gedicht des zweiten Teils des "Ofterdingen" den Titel "Genius" tragen sollte, "da die Bezeichnung >Genius< im ersten Teil des Romans nicht vorkommt" (S. 237). Beginnend mit einer Beschreibung der Herkunft und Bedeutung des Wortes "Genius" bis in Novalis' Zeit – "Je nach Kontext wurden [von den Künstlern Ende des 18. Jahrhunderts] die unterschiedlichen Aspekte des Zeugens, Begleitens, Schützens, Hervorbringens oder Vermittelns besonders hervorgehoben" (S. 236) – gibt uns Vietor eine detaillierte Führung durch Novalis< verschiedene Benutzungen des komplexen Begriffes (vgl. S. 238–242). Die kann in fünf verschiedene Phasen eingeteilt werden, wie Vietor feststellt:

  1. Genius als guter Geist schlechthin, und besonders als inspirierende Kraft, in den Jugendgedichten;
  2. Verinnerlichung des Genius in der Zeit der Beziehung mit Sophie von Kühn; wird eine "Stimme", die durch die Geliebte zum Dichter spricht;
  3. "Philosophische Vertiefung und selbständige Deutung der Genius-Figur" in den Fragmenten zur Zeit der Auseinandersetzung mit Fichte – Genius dann als "synthetische Person, welche die Differenzierung des Absoluten im poetischen Gestalten bewerkstelligt" (S. 238);
  4. In der Zeit von "Glauben und Liebe" und "Die Christenheit oder Europa" beruft ein Genius den Dichter zum Kundgeber einer neuen Zeit; die diesen zum Opfertod bestimmt;
  5. schließlich wird in den beiden Romanfragmenten der Genius zum "die Gegensätze übergreifende[n] Prinzip der inneren Pluralität, das sich im Spiel der Liebe und Poesie dynamisch verwirklicht" (ebd.).

Dieses >Spiel< wird im "Klingsohr-Märchen" zum ersten Mal ausführlich elaboriert, mit Eros und Fabel als den Personifikationen der "beiden Hauptstränge" des ersten Romanteils, Liebe und Poesie. Im darauf folgenden Gedicht " Astralis" werden die personifizierten Kräfte zu einer "sprachlich konstituierten Einheit", ohne alle Attribute jedoch, die mit der mythologischen Figur des Genius verbunden werden könnten. Also erklärt Vietor die Streichung des ersten Titels so: "[Sie] löscht schließlich jede direkte Bezugnahme zum religiösen Kontext der Schutzgeister, Engel und Dämonen zugunsten des >siderischen Menschen<, dessen Begriff dem naturphilosophischen Weltbild des sechzehnten Jahrhunderts entstammt" (S. 238).

Auf den nächsten vierzig Seiten verfolgt Vietor im Detail die Einflüsse, Assoziationen und geistigen Beziehungen des Novalis zum mythologischen, religiösen und naturphilosophischen Begriffsgewebe, das mit "Genius" bzw. "Astralis" verbunden ist. Man lernt in diesem Teil der Studie die große Reichweite des jungen Dichters noch mehr zu schätzen: Von Platon zu Schiller (den Vietor meines Erachtens ein bisschen zu nah an Novalis heranrückt!), vom Galvanismus und der Schellingschen Naturphilosophie zu Paracelsus und Böhme überspannt Novalis zahlreiche Jahrhunderte und manches intellektuelle Gebiet, um bei der eigenen Idee einer selbstreflektierenden, selbstsynthetisierenden Dichtung zu landen.

Dabei erhebt sich die Frage, wer das Subjekt dieser prozessuellen Dichtung ist: die Dichter-Figur(en) der poetischen Werke? Der Dichter selber? Vietor behauptet richtig, dass es hauptsächlich die Leser – nach Novalis "der erweiterte Autor" – ist, 4 der zur Ausbildung des ewigen Friedens und der neuen poetischen Welt beauftragt ist:

Diese synthetische Leistung wird durch die Kunstgriffe des Autors zwar herausgefordert, bleibt aber dem Leser überlassen. Wenn er die Figurenkonstellationen und Darstellungsebenen ins Spiel bringt, erhebt er sich zum "Genius" des Buches, der zwischen den Zeilen "schwebt" und sich auf keine sprachliche Fixierung festlegen läßt. (S. 245)

Diese ziemlich ausführliche Darstellung von Vietors Behandlung der Genius-Astralis-Konstellation soll bloß als Beispiel für die schon genannte Sprungbrett-Methode dienen. Der letzte Teil des Buches enthält viele solche interpretatorische Einsichten, kulminierend in einer Deutung der letzten Strophen des Gedichts, die den vollen Kreis zurück zum "Klingsohr-Märchen" zeichnet, von dem Vietor am Anfang dieses Teiles ausgegangen ist. Etwas melancholisch stellt sie fest, dass "am Ende von >Astralis< nur die Asche des Herzens zurück[bleibt]; von einer sich loslösenden und verklärenden Flamme [wie im "Klingsohr-Märchen"] ist keine Rede" (S. 379). Die Autorin kann dann nicht umhin, das Gedicht selber als mögliche Asche zu bezeichnen, "die das sich verzehrende Herz des Autors zurückließ, bevor es sich als Geisterflamme zum Himmel erhob" (ebd.).

Fazit

Das leicht Sentimentale dieser letzten Worte ist eher untypisch für Vietors Buch, das zum größten Teil einen wissenschaftlicheren Ton vorzieht. Trotzdem umgeht Vietor weitgehend die aktuellsten theoretischen Fragen der Frühromantik-Forschung. Hinweise auf die Forschung sind überhaupt hauptsächlich auf die Fußnoten beschränkt, und auch dort findet man kaum Auseinandersetzungen mit Theorien gleich welcher Orientierung. Stattdessen arbeitet Vietor in der Tradition der Herausgeber der Historisch-kritischen Ausgabe: Sie beschreibt und analysiert auf gründlichste Weise das geistesgeschichtliche Umfeld von Novalis' Œuvre und dokumentiert entstehungsgeschichtliche, überlieferungsgeschichtliche und zum Teil rezeptionsgeschichtliche Aspekte des Novalischen Werkes.

Also eignet sich ihr Buch wahrscheinlich am besten für Novalis-Spezialisten, die sich für die Details dieser Aspekte interessieren, statt für diejenigen, die einen Einblick in Novalis' Rolle in gegenwärtigen poetologischen oder philosophischen Debatten bekommen wollen. Das Buch könnte also gut als Nachschlagewerk dienen, besonders wegen der nützlichen Tabellen zu Entstehung und Korrektur der Handschrift sowie wegen der reichhaltigen Bibliographie zu Quellen und Literatur um 1800.

Aber Vietors Argumente entfalten sich doch durch die ganze Darstellung hindurch; die Verschränkung dieser Argumente ist Teil der grossen Leistung des Buches. Die Detailliertheit der Argumentation läßt das Lesen aber manchmal etwas langwierig werden – man fragt sich gelegentlich, ob Vietors analytische Pointen durch die Masse der beigebrachten Assoziationen nicht sogar entschärft werden. Alles in allem aber ist "Astralis von Novalis: Handschrift – Text – Werk" ein höchst wertvoller Beitrag zu der Novalis-Literatur.


Prof. Dr. Gail M. Newman
Lissack Chair for Social Responsibility
and Personal Ethics
Department of German and Russian
Williams College
995 Main St
USA – Williamstown, Massachusetts 01267
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Ins Netz gestellt am 28.09.2003
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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Nina Ort.


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Anmerkungen

1 HKA III,411:737.    zurück

2 HKA III,562:45.    zurück

3 HKA III,572:113.    zurück

4 HKA II,470:125.    zurück